The Dresden Dolls [Frankfurt Am Main, 30.11.2004]

Der Musik das Leben eingehaucht.
Mehr als nur die Summe ihrer Einflüsse präsentieren die Dresden Dolls auf der Bühne. Ein Konzert von bestechender Präsenz und Verbundenheit mit der Musik.



"i'm on fire."
(amanda palmer)

Bereits im September beehrten die Dresden Dolls Deutschland mit vier Konzerten. Wer sich kurzfristig entschloss, ein Konzert zu besuchen, lief Gefahr, vor den Türen der ausverkauften Clubs abgewiesen zu werden. Bei der zweiten Europatour dieses Jahr gab es erneut zwei Mal die Möglichkeit, das Bostoner Duo hierzulande live zu erleben. Das Pop and Glow im ehemaligen Frankfurter English Theatre ist mit rund 350 Leuten zwar nicht ausverkauft, aber gerade angenehm gefüllt, um weder Platzängste noch Einsamkeitsgefühle aufkommen zu lassen. Nicht unge-wöhnlich, ist Frankfurt doch nicht gerade für seine große Indieszene bekannt, welche schon aufgrund eines bei Fast Forward gespielten Videos in Scharen zu einem Konzert selbiger Band pilgern würde, wie eben im September geschehen. So differenziert sich bei diesem Konzert das Publikum angenehm in Seitenscheitelträger und Normalos, Dark-Waver und Banker. Und es ist auch der richtige Ort für solch ein atmosphärisches Konzert. Der Saal ist in tiefem Rot gehalten und mit Teppichboden ausgelegt, in kleinen Stufen leicht ansteigend.

Auf Amanda Palmers E-Piano müsste eigentlich der Name des amerikanischen Keyboardherstellers Kurzweil stehen. Doch durch Überkleben wurde daraus kurzerhand ein Kurtweill. Eine Referenz die Sinn macht, ist Kurt Weill doch der wichtigste musikalische Fixstern im Mikrokosmos der Dresden Dolls. Dieser speist sich aus dem Chanson und Kabarett der zwanziger Jahre, dunkler Gothic-Ästhetik und rotziger Punk-Attitüde. Es ist jedoch kein beliebig zusammen gewürfeltes Konglomerat, sondern vielmehr hervorragend abgestimmte Vielschichtigkeit, eine Art Variete, in dem verschiedene Einflüsse zu einem großartigen Bildnis verschmelzen. Die Gesichter der Beiden sind in grellem Weiß geschminkt, aufgesetzte Masken, die besonders dem Schlagzeuger Brian Viglione eine harlekineske Erscheinung geben. Gestützt wird dies durch seine Melone, ein weißes Hemd und schwarze Shorts. Er scheint hinter seinem Drumset eine kleine Zirkusvorstellung zu geben, mit weit ausholenden Bewegungen gibt er seinem Spiel Raum, er schlägt auf sein Schlagzeug ein oder streichelt es sanft, alles mit überdeutlicher Gestik nachgezeichnet. Jede seiner Bewegungen wirkt mechanisch, sein Gesicht verzieht sich immer wieder einem Pantomimenspiel gleich auf unterschiedlichste Art und Weise, er scheint sich gar in den besungenen Coin-Operated Boy verwandelt zu haben und so mit dem Publikum zu kommunizieren.

Amanda Palmer ist von eher kabarettistisch-anzüglicher Gestalt. Mit Ringelstrapse und kurzem schwarzem Kleid bekleidet beweist sie, wie unglaublich kräftig und variabel ihre Stimme ist. Sie ist das kleine Mädchen, dass mal bittend mal kreischend Aufmerksamkeit begehrt. Gleichzeitig ist sie das bestimmende Element, sie lässt Brian nach ihrer Pfeife tanzen, er scheint folgsam ihre Anweisungen auszuführen. Doch auch musikalisch ist sie das bestimmende Element, er orientiert sich immer wieder an ihrem filigranen Pianospiel. Vom ersten Moment an versprüht das Duo auf der Bühne eine magische Energie, die Atmosphäre ist vom ersten Akkord an angespannt, Good Day ist wie auch auf dem selbstbetitelten Album die Einführung in die Welt der Dresden Dolls. Dessen musikalische Umsetzung auf der Bühne lässt überzeugen. Eine fast schon unheimliche Dynamik lässt die Songs zum Leben erwecken, Amanda und Brian pushen sich gegenseitig und verlieren sich in der Musik. Ihre Stärke ist das absolute Verbundensein mit ihrer Musik, sie machen keine Kunst, sondern erwecken diese zum Leben. Das Publikum dankt es immer wieder mit frenetischem Applaus und vollkommener Stille während den Stücken. Die Atmosphäre ist völlig zerbrechlich, ein einziges gesprochenes Wort wäre wie eine in tausend Scherben zerberstende Flasche.

Doch auch Kurt Weill und Bertolt Brecht wird explizit mit dem in Deutsch vorgetragenen Und was bekam des Soldaten Weib gehuldigt. Hier offenbaren sich Amandas Deutsch-Kenntnisse, von denen sie behauptet, "sie seien im Arsch". Der erste Coversong des Abends versetzt das Publikum allerdings deutlich mehr in Erstaunen, Warpigs von Black Sabbath wird dem amerikanischen Präsidenten gewidmet und in einer Version vorgetragen, die Tote auferstehen lassen könnte. Gegen Ende wird ein kleines Akustikset mit Brian an der Gitarre gespielt, mit einer großartigen Version des Jaques Brel-Klassikers Amsterdam, verzückend und spielerisch leicht verabschieden sich die Beiden, werden vom Publikum jedoch zwei Mal eindringlich wieder auf die Bühne gebeten und scheinen ob der großen Zustimmung verwundert zu sein. Doch das Publikum hat verstanden, was für eine Show hier gespielt wird, seine Rolle nur allzu gerne übernommen und hervorragend gespielt. So wurde dieses kongeniale Duo in der Bühnenversion um einen wesentlichen Part erweitert.
foto: olav karlsson


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Astird Vits [Du Und Viele Von Deinen Freunden]

Musikalische Betrachtungen unter dem Sujet deutsch.
Astrid Vits reiste ein halbes Jahr durch die Republik, um sich einen Überblick über die deutsche Popmusikszene zu verschaffen, und 34 Bands und Musiker im Interviewformat vorzustellen.


"das plattenfach deutschsprachige musik ist langweilig. zum großen teil ist da nur mist drin."
(knarf rellöm)

Nicht zuletzt aufgrund der Diskussion um die Radioquote ist deutschsprachige Musik, zumindest in Deutschland produzierte Musik, zur Zeit so präsent wie vor zwanzig Jahren das letzte Mal, als das, was man die Neue Deutsche Welle nannte, durch die Radiostationen und nicht zuletzt über die Mattscheiben in deutschen Wohnzimmern flimmerte. Zu diesem denkbar guten Zeitpunkt erscheint im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag ein Buch, welches sich einer großen Auswahl eben dieser Bands widmet. Jongliert der Pressetext im Bezug auf die Zielgruppe noch schwerfällig mit Wortkonglomeraten wie hauptberufliche Jugendversteher, Jugendverstehenwoller und Berufsjugendliche, fasst die Autorin ihre Intentionen zu dem Buch schlichter zusammen; eine Art Nachschlagewerk für alle Musikinteressierten mit einer Mischung aus Information und Unterhaltung sollte entstehen. "Ich habe während des Jahres 2003 genau diese Beobachtung gemacht, dass das Interesse in Deutschland zur Zeit wieder sehr stark auf Musik aus dem eigenen Land liegt - und ich habe vermutet, dass das auch noch stärker wird. Dieses Phänomen wollte ich mir also genauer angucken."

Mit dem Buch "Du Und Viele Von Deinen Freunden" - zunächst ein, an die Debütplatte der Band Kettcar angelehnter Arbeitstitel, welcher sich im Laufe der Arbeit etablieren sollte - debütiert die junge Journalistin Astrid Vits, und widmet sich deutscher Populärmusik in einem über 500 Seiten starken Werk, welches sich maßgeblich, neben Kurzbiografien und Diskographien, aus Interviews mit 34 Bands aus der Indierock und Elektronik Szene zusammenstellt. Die persönliche Auswahl der Musiker umfasst einen charmanten Teil des deutschen Indie Universums der Post Hamburger Schule Ära und spart bewusst die aktuelle, deutschsprachige Major Offensive aus. Lediglich Wir Sind Helden und die Sportfreunde Stiller haben genügend mediale Präsenz, um auch bei weniger Involvierten den nötigen Wiedererkennungswert hervorzurufen. "Ich teile die Meinung einiger Musiker, dass sich das, was derzeit 'Trend' ist, festigen wird. Es werden nicht alle Bands, die gerade gefragt sind, auch noch in fünf Jahren so gefragt sein wie heute, aber hoffentlich werden sich ein paar durchsetzen und die Musikkultur in Deutschland mitbestimmen."

Kleinster gemeinsamer Nenner der ausgewählten Musiker in Du Und Viele Von Deinen Freunden ist also deutsch. Als Standort, nicht als Patriotismus Farce. (Ist das ein Unterschied? Anm. d. Tippse) Ein neuer Ansatz der derzeitig gern für immer neue Sampler Ideen und Corporate Identity Gefühle aufgegriffen wird, und als Katalysator für ein neues identitätsstiftendes National Gefühl missbraucht wird. Thees Uhlmann kritisiert im Buch diese vermeintlich neue Bewegung zu Recht als kleingeistig, wenn die Musik unter die Sprache gestellt wird. Auch Knarf Rellöm diskutiert diesen Ansatz, und bespricht den Hintergrund, weshalb sich Tocotronic und Blumfeld für das Buch unter dem angegebenen Thema verweigert haben. Glücklicherweise kommt einem beim Lesen dieses burleske Gefühl der Deutschtümelei nicht ernsthaft in den Sinn, vor allem, da mit Lali Puna oder eben auch Knarf Rellöm Musiker vertreten sind, die nicht recht in den Klischeeansatz hineinpassen wollen.

Astrid Vits begegnet den Musikern mit einer freundlichen Geste und obligatem Sekt, weiht uns durch stets dokumentierte Speisen und Getränke vor jedem Interview in die Atmosphäre ein, und setzt sich gänzlich unverkrampft mit den Musikern auseinander. Im Verlauf der zum Teil sehr persönlichen Gespräche gelingt es ihr, die Musiker selbstreflektorisch in einen alltäglichen gesellschaftlichen Bezug zu setzen. "Die Idee des Buches war es, soviel wie möglich über Musik und Musiker zu erfahren - aus allen möglichen Bereichen", erklärt die Autorin. Vornehmlich durch ihren zurückhaltenden, beobachtenden Charakter weiß Astrid Vits sich von anderen Interviewveröffentlichungen abzuheben. Besonders in Einzelgesprächen gelingt es der Autorin, ihr Gegenüber auf einer scheinbar sehr persönlichen Ebene zu begegnen. Dem üblichen Profilierungsaspekt, der bei Interviews Tagesordnung zu sein scheint, wird in nur wenigen Gesprächen Beachtung geschenkt. Astrid Vits lässt ihre Gegenüber berichten, geht auf die Aussagen ein, und führt bedächtig zu ihren vorbereiteten Themen, was den Gesprächen auch bei der Nachlese einen sehr gehaltvollen, unaffektierten Charme verleiht. Über die journalistische Notwendigkeit, oder den popkulturellen Bedarf an einem solchen Buch lässt sich natürlich streiten, bewegt sich der Inhalt doch stets auf einer eher subjektiven Ebene, begonnen bei der Auswahl der interviewten Musiker, als auch bei den andiskutierten Themenbereichen, die einen Meinungsüberblick ermöglichen sollen.

"Es war Absicht, dass bestimmte Themen - in nicht allen, aber vielen Interviews - immer wieder vorkommen, um als Leser auch Vergleichsmöglichkeiten zu haben und um auch einen Zusammenhang zwischen den Interviews und den Musikern herzustellen." Einen dieser Themenbereiche stellt die Hamburger Schule, der immer wieder in den Gesprächen mit etwa Tomte, Mon)tag, Astra Kid oder finn. auftaucht. "Von den Musikern selbst wird sie zum großen Teil als wichtig angesehen, weil sie Türen geöffnet hat. Nach der Neuen Deutschen Welle gab es ja fast überhaupt nichts Deutschsprachiges mehr, zumindest nicht im Indie-Bereich. Manche Musiker im Buch waren sogar direkt von zum Beispiel Tocotronic beeinflusst, haben aber jetzt ihren eigenen Weg gefunden. Die so genannte Hamburger Schule hat viele Menschen musikalisch und textlich bewegt, Musiker haben sich das als Vorbild genommen. So ist es ja immer: Auch die Hamburger Schule-Bands hatten ihre Vorbilder in Syph, Fehlfarben, DAF etc. Ich bin mir ganz sicher, dass eins immer vom anderen beeinflusst wird, sogar hervorgeht."

Im Gegensatz zu den erwähnten Bands, scheinen sich die liedtextlichen Thematiken heute im allgemeinen weniger auf intellektueller und diskursiver Ebene zu bewegen, was oft auch mit einem Niveauabfall einhergeht. Befindlichkeitsfixation als Rückzug aus politischer Orientierung? "Die aktuelle Bewegung ist bis auf wenige Ausnahmen nicht politisch. Das ist Absicht und zum Glück auch endlich 'erlaubt'. Man muss nicht mehr politisch sein, um sich äußern zu dürfen, auch den Vorwurf 'Schlager' hört man immer weniger. Ich persönlich finde das sehr gut. Im übrigen haben sich ja auch die Texte der Hamburger Schule-Bands etwas gewandelt..." Und mit Frank Spilker von den Sternen, Niels Frevert von der ehemaligen Nationalgalerie oder auch Bernadette La Hengst sind schließlich auch Persönlichkeiten im Buch vertreten, die direkt aus dieser Bewegung stammen, und den Kreis schließen.
foto: wolfgang kampz


astrid vits
"du und viele von deinen freunden"
schwarzkopf&schwarzkopf 2004

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Gluecifer [Hamburg/Berlin, 11./12.11.2004]

Let there be sound, let there be light, let there be... Gluecifer.
Die Skandinavier Gluecifer, Captain Murphy und Bonk beobachtet während zweier Auftritte ihrer Automatic Thrill Tour.



"i wann see every single one of you, worship the true kings of hard rock!"
(biff malibu)

Die norwegischen Kings of Rock gaben in der Markthalle zu Hamburg ihr Auftaktkonzert der Automatic Thrill Tour 2004. Mitgebracht hatten sie die ebenfalls aus Norwegen stammenden Bonk und Captain Murphy aus Schweden.

Leider füllte sich die Halle nur sehr langsam und so hatten Bonk schließlich die undank-bare Aufgabe, vor gerade mal einer Hand voll Zuhörern mit ihrem Set zu beginnen. Allerdings verpassten die draußen Wartenden auch nicht sehr viel. Ab und an blitzten bei ihren heavy rockenden Songs zwar tolle Ansätze hervor, aber die Musiker wirkten doch arg angestrengt. So richtig Atmosphäre wollte dabei leider keine aufkommen. Dafür trumpften die darauf folgenden Captain Murphy umso mehr auf. Ihr wilder 70ies Sound lässt sich wohl am Besten mit einer Mixtur aus Led Zeppelin, The Who und den Beatles beschreiben. Neuere Referenzen wären wohl die Datsuns, die Hives und frühe Hellacopters.Gepaart mit tollen Posen und unbändiger Spielfreude, fielen vor allem Rhythmusgitarrist Victor Hvidfeldt und der Bassist Johnny Borgström auf. Und spätestens als ihr Sänger und Solo-Gitarrist Sonny Boy Gustafsson sich samt Gitarre unters Publikum mischte und sogar ausgewiesene Tanzmuffel zum Schwingen der Hüften brachte, da war klar, dass diese Band großartig ist. Allerdings sollte man schon ein Freund von fein solierenden Gitarren sein, aber wer sie hört, der wird es mit Sicherheit. Songs wie Daddy Can Dance jedenfalls haben eindeutig das Zeug zum Tanzflächenfüller. Oder Hello Policeman, zu dem man wild zappelnd seinen Kopf schütteln muss.

Eine quälend lange Umbaupause später betreten dann Gluecifer die Bühne. Ohne viele Worte zu verlieren eröffneten sie mit Car Full Of Stash vom aktuellen Album Automatic Thrill. Eine kleine Verschnaufpause gab es erst nach drei Songs mit der Begrüßung durch Frontmann Biff. Kurz ging er darauf ein, dass sie das letzte Mal 1998 mit den Hellacopters hier in der Markthalle aufgetreten sind. Zu schade, damals nicht dort gewesen zu sein. Dann wurde weiter gerockt ohne Ende, neben einigen selten gespielten Songs aus Anfangstagen wie Titanium Sunset und No Goddam Phones, hauptsächlich Material der letzten beiden Alben. Großartig auch immer wieder die netten kleinen Anekdoten von Biff, natürlich mit dem nötigen Augenzwinkern vorgetragen. Dieser Mann ist einfach für die Bühne bestimmt. Bei alledem gab es nur ein Problem - der Graben zwischen Bühne und Absperrgittern war viel zu groß. Wo normalerweise Hände abgeklatscht werden und sich gegenseitig Fans und Band aufputschen, herrschte leider ein Vakuum. Die aggressiven Ordner taten ihr übriges, um die Stimmung des Publikums etwas zu drücken. Am Ende hatte man zwar das Gefühl ein tolles Konzert erlebt zu haben, aber auch im Hinterkopf, dass Gluecifer noch zu wesentlich größerem im Stande sind.

Den Beweis dafür sollten sie auch direkt einen Tag später in Berlin erbringen. Das Kreuzberger SO36 wurde Schauplatz eines einmaligen Auftritts. Bonk enterten gerade die Bühne, als wir um halb neun den fantastischen Club betraten. Insgesamt war die Stimmung im Publikum schon wesentlich ausgelassener als am Vortag. Die Band wirkte viel selbstbewusster, ihre Songs dynamischer und beseelter. Außerdem handelt es sich bei ihrem Schlagzeuger um den Bruder von Stu Manx, wie der Bassist von Gluecifer uns selbst erzählte. Aber auch ohne familiäre Unterstützung war die Steigerung gegenüber Hamburg beachtlich. Danach jedoch die große Enttäuschung, denn Captain Murphy hatten bereits vor Bonk spielen müssen. Der Veranstalter sollte sich mal fragen, warum er 21Uhr als Beginn auf die Tickets drucken ließ, aber die erste Band schon um 19.45Uhr auf die Bühne schickte. Allerdings hatte es auch sein Gutes, denn Victor von Captain Murphy hatte Mitleid mit uns. Er war total fertig, dass wir seinen Auftritt verpasst hatten. Er schenkte uns später T-Shirts und setzte uns auf die Gästeliste für ihr Konzert in Bochum. „I promise it!“ - danke, Victor!

All die Ernüchterung wich jedoch blanker Hysterie, als Gluecifer, die selbsternannten Kings of Rock, sich anschickten, alle Fragen nach der Berechtigung ihres Titels zu beantworten. Zwar spielten sie die gleiche Setlist wie tags zuvor, aber trotz dessen kein Vergleich. Mein Freund Neil und ich standen direkt vor der Bühne, kein Graben zwischen uns und dem unvergleichlichen Raldo Useless, seines Zeichens Gitarrist. Perfekt. Die Anspannung, die der Band in Hamburg teilweise noch anzumerken war - wie weggeblasen. Vom ersten Takt an wurde man von der schieren Wucht der Songs förmlich umgehauen. Das SO36 glich einem Tollhaus. Jeder Song ein Hit. Von älteren Stücken wie I Got A War, Go Away Man, einer wahnwitzig rasanten Version von Evil Matcher oder Rockthrone bis hin zu neuerem Material wie Shaking So Bad und Automatic Thrill. Alle Anwesenden sangen lauthals mit, alle tanzten. Die Band, davon sichtlich beflügelt, legte eine Spielfreude an den Tag, unglaublich. Captain Poon, immer in Bewegung, und Raldo, mit diesem ungeheuren Swing in seiner rechten Hand, lieferten sich Gitarrenduelle sondergleichen. Biff Malibu sang nach Leibeskräften, was in seinem Fall ruhig wörtlich zu nehmen ist. Stu Manx am Bass war wie immer der Fels in der Brandung und Danny Young an den Drums solierte sogar beim Mittelteil von Black Book Lodge. Sowieso scheint dieser Song so etwas wie ihr heimlicher Favorit zu sein. Man muss es einfach gesehen haben, wie sich der Captain und Raldo dabei gegenseitig anstachelten und einander antrieben. Ihr Set beendeten Gluecifer schließlich mit dem fabelhaften Easy Living, bei der Biff, sehr zum Schmunzeln der anderen, eine Chansonartige Version des Songs anstimmte. Einfach grandios. Damit entließen sie dann die ekstatische Menge in die noch junge Nacht.
Verbeugt euch vor den Kings of Rock!
text: Tobias Lehnert
foto: inge von schreude



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Ani DiFranco [Trust]

She is trying to evolve.
Ani Difranco offenbart uns einen weiteren Punkt ihrer künstlerischen Entwicklung.




"art is why i get up in the morning, but my definition ends there and it doesn't seem fair."
(out of habit)


Sie ist eine außergewöhnliche Frau; Feministin, Poetin, Künstlerin, politisch engagiert und immer in Bewegung, sei es auf der Bühne oder in ihren ständig variierenden Outfits. Aber vor allem ist sie eines: Musikerin mit Herzblut, großartige Gitarristin und Folksängerin mit Hingabe. Ani DiFranco's neues Livealbum mit dem schönen Titel "Trust" spiegelt all das wieder. Vielleicht war es wieder ein Drang nach Veränderung, der die auf den ersten Blick spärliche Besetzung der Musiker bewirkte: Ani, fast allein mit ihrer Gitarre, wird begleitet von dem fantastischen Kontrabassisten Todd Sickafoose und teilweise kommt noch der New Yorker Gitarrist Tony Scherr hinzu. Die Virtuosität, mit der die beiden Hauptakteure ihre Instrumente erklingen lassen lässt jedoch nichts vemissen, Ani ist wohl eh am Besten, wenn sie ganz auf sich selbst gestellt ist; nur sie und ihre Gitarre.

"But I am tired of being your savior and I am tired of telling you why."

An den stahlenden Gesichtern im Publikum lässt sich leicht ablesen, warum das bunt gemischte Publikum gekommen ist: sie wollen Ani's Musik hören, spüren, fühlen, in sich aufsaugen. Ein bisschen zerbrechlich wirkt Ani, wie sie dort fast allein auf einer bescheiden ausgestatteten Bühne steht. Und doch hat sie ein starkes und kraftvolles Wesen, wirkt wie eine, die alles schaffen kann. Eine Einzelkämpferin. In ihrer Musik und ihren Gedichten, welche sie an diesen Abenden ebenfalls darbietet, tauchen demnach auch Verzweiflung, Trauer und Wut ebenso häufig auf wie Glück, Liebe, Dankbarkeit und Schönheit. Meist geht es um Zwischenmenschlichkeit, Probleme oder kleine Glücksmomente. Ani versteht es, ihre Unzufriedenheit oder Glücksgefühl über wunderbare Augenblicke in passende Worte zu bringen, welche an diesen Abenden von einer Dolmetscherin in Gebärdensprache übersetzt werden. Ani hat ihre Anhänger nicht nur aufgrund ihrer Musik, es ist auch ihre Person und ihre Aussagen, die die Menschen anzieht. Der nicht rein musikalische Charakter der Veranstaltung, welcher wir hier nachträglich beiwohnen dürfen, wird auch durch die Anwesenheit politischer Gruppierungen, zum Beispiel feministischen Vertreterinnen oder Mitarbeitern der Graswurzelwerkstatt, klar, welche versuchen, die Besucher für sich zu gewinnen oder einfach über ihre Tätigkeiten zu informieren; überall sieht man Buttons und T-Shirts mit politischen Statements oder Lebensweisheiten. "Die Leute sind nicht nur wegen der Musik hier, sondern wegen der Gemeinschaft", sagt Ani selbst. Doch nicht nur ihre Anhänger äußern ihre politische Meinung, mit dem Auftritt des Kongressabgeordneten Dennis Kucinich gibt Ani auch ein Statement ab. "Dennis ist einer von uns", sagt sie, "er ist so, wie ein Politiker sein sollte". Ihre folgende "Vote Dammit! Tour" verkündete somit auch, dass ein Regierungswechsel ganz in ihrem Sinne gewesen wäre.

"I am indebted joyfully to all the people throughout its history who have fought the government to make right."

Der zentrale Punkt des an zwei Abenden im 9:30 Club, Washington, DC, aufgenommenen Films ist nichtsdestotrotz die Musik; eine so eigene Klangwelt, in die Ani ihre Zuhörer immer wieder entführen kann, mit Bauchkribbeln und glänzenden Augen. Die Songauswahl reicht weit in das große Repertoire Ani Difranco's zurück. Die über 20 Songs beinhalten Lieder aus alten Tagen, wie Anticipate von dem ’94er Album "Not So Soft" oder Gravel vom ’98er Album "Little Plastic Castle", genauso wie vier neue Songs, die auf dem für Januar 2005 vorgesehenen neuen Album "Knuckledown" erscheinen sollen.

"I gotta knuckle down - just be ok with this"

Und neben der Stimmung, welche während der Konzerte eingefangen wird, bekommt man als Zuschauer einen weiteren, kleinen Einblick in die Person Ani Difranco hinter den Kulissen. Mithilfe der Kameraleute JoJo Pennebaker, Paul Greenhouse und Elia Lyssy werden nicht nur die Momente auf und vor der Bühne, sondern auch die Szenen im Backstagebereich eingefangen. Viele Songs sind so geschnitten, dass sie beim intimen Proben und im Hinterzimmer oder beim Soundcheck beginnen, bevor sie auf die eigentliche Aufführung springen, und umgekehrt. Mit dem geschickten Einsatz von Effekten wie ein Super8-Kamera-Rauschen, wechselnder Schärfe, einer warmen Farbwahl und liebevoll verspielten Zwischenfrequenzen hat der bekannte Musikfotograf und Filmemacher Danny Clinch die sympathisch unkonventionell gefilmten Szenen zusammengefügt, und erschuf dabei ein in sich stimmiges, künstlerisch charmantes Gesamtwerk. Die Kameraleute verstanden es dabei, wunderbare, für sich sprechende Momente einzufangen, die Ani auch mal ein wenig von ihrer persönlichen Seite zeigen. Ein besonders schönes Beispiel hierfür ist die Schlussszene, in der Ani und Todd auf einer nächtlichen Brücke tanzen. Ein Moment, der ein Lächeln auf meinen Lippen hinterlässt. Und die Vorfreude auf das kommende Album.
foto: ingo petramer



ani difranco
"trust"
righteous babe records 2004 dvd
ani difranco

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