Sidney Lumet [Tödliche Entscheidung]

“May you be in heaven for half an hour before the devil knows you’re dead.”
Sidney Lumet entfacht in der jüngsten Inszenierung seines über 50 Filme umfassenden Opus ein so turbulentes wie blutiges Spiel mit dem Teufel.


"der teufel hat die welt verlassen, weil er weiß,
die menschen machen selbst die höll' einander heiß.
"
(friedrich rückert, die weisheit des brahmanen, XVI-III, 21)


Mit "Tödliche Entscheidung" haben es sich die deutschen Übersetzer einmal mehr zum Hobby gemacht, eine gänzlich adäquate Bezeichnung ("Before The Devil Knows You’re Dead") in einen nichtssagenden Filmtitel umzuwandeln – doch glücklicherweise tut das der Qualität des Films keinen Abbruch an.

Im besten Tarantino-Stil beleuchtet die Geschichte des 1924 geborenen Regie- Altmeisters Sidney Lumet die Vor- und Nachwirkungen eines fehlgeschlagenen Verbrechens, deren Protagonisten durch die Brüder, Andy und Hank Hanson respektive Philipp Seymour Hoffmann und Ethan Hawke, sowie deren Vater Charles Hanson (Albert Finney) verkörpert werden. Andy Hanson hat einen gut bezahlten Job als Immobilienmakler, jedoch befindet er sich in einer Krise mit seiner Frau Gina (Marisa Tomey), die sich durch seine Vernachlässigung weder geliebt noch begehrenswert fühlt. Aufgrund von Depressionen ist Andy Heroin- und kokainabhängig. Zu allem Überfluss hat er auch noch Firmengelder veruntreut, und das Finanzamt ist im Begriff, ihm auf den Pelz zu rücken. Sein Bruder Hank hingegen hat andere Probleme: Er kommt mit den Alimentszahlungen für seine Tochter nicht hinterher, zudem wird er von allen Beteiligten als Versager betrachtet. Die Brüder beschließen, ihre finanziellen Probleme zu beseitigen, indem sie den Juwelierladen ihrer Eltern ausrauben wollen – mit erheblichen Konsequenzen.

"Before The Devil Knows You´re Dead", um den wunderbaren Titel des Originals zu verwenden, beleuchtet in schockierender Manier das Böse, welches im Menschen steckt. Die intelligent herausgearbeiteten Charaktere sehen sich, jeder auf seine Art und Weise, mit Entscheidungen konfrontiert, die ihr Gewissen auf eine harte Probe stellen, sei es nun Betrug, Verrat oder die Verletzung mehrerer christlicher Gebote. In diesem Sinne schafft der Film interessante Kontraste. Einerseits durch den zerbrechlichen Hank, der im Grunde genommen lediglich ein gutes Verhältnis zu seiner Tochter schaffen möchte, sich aber durchaus der Tatsache bewusst ist, dass selbst die ihn als Verlierer ansieht. Andererseits durch seinen Bruder Andy, der, oberflächlich betrachtet, das genaue Gegenteil von ihm darstellt: erfolgreich, selbstbewusst und unantastbar. Im Verlauf des Films wird jedoch deutlich, dass auch Andy erhebliche Selbstzweifel hat und droht, an diesen zu zerbrechen.

Die schauspielerischen Leistungen sind gleich auf dreierlei Weise gut. Erstens ist die Besetzung exzellent gewählt – Marisa Tomey als die schöne, aber frustriere Ehefrau, Ethan Hawke als abgebrannter Verlier, Philipp Seymour Hoffmann erfolgreicher Geschäftsmann, der in einen Strudel von Betrug und Lüge gerät. Zweitens bleiben die Charaktere stets in ihrer Rolle, wirken jedoch zu keinem Zeitpunkt stereotypisch oder gar oberflächlich. Drittens schaffen es die Darsteller, im Verlauf der Geschichte eine eigene Entwicklung zu durchlaufen, ohne aus der Rolle zu fallen.

Zu guter Letzt muss auch noch Erzählstil hervorgehoben werden. Die Handlungsstränge sind sinnvoll miteinander verknüpft, die Entscheidungen der jeweiligen Protagonisten bestimmen den weiteren Verlauf der Geschichte, was insbesondere dadurch an Wert gewinnt, dass diese aus den Augen dreier vollkommen verschiedener Menschen, namentlich Andy, Hank und Charles Hanson dargestellt werden. Nach und nach werden dem Zuschauer immer mehr Häppchen an Informationen serviert, bis die einzelnen Handlungsstränge in einem grandiosen Finale zusammenlaufen.

"Before The Devil Knows You’re Dead" ist ein clever erzähltes, action-reiches Familiendrama. Hervorragend wird das Thema des Bösen im Menschen dargestellt und die seelischen Abgründe der Charaktere exploriert. Letzten Endes hat sich jeder, wenn auch unterschiedlich motiviert, die Finger schmutzig gemacht. Philipp Seymour Hoffmann brilliert einmal mehr, und auch der Rest der Besetzung liefert eine überzeugende Darbietung ab. Das Prunkstück des Films ist jedoch die Art und Weise, in der er erzählt wird – da dies im Kontext dieses Artikels nur bedingt dargestellt werden konnte, möchte ich ihnen raten, sich eine eigenes Bild zu machen.
foto:


sidney lumet
"tödliche entscheidung"
(before the devil knows you're dead)
2007

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Gemma Ray [The Leader]

Düsterer Blues-Folk mit einer Prise Soul von einer 27-jährigen Singer/Songwriterin aus Essex/Südengland, die in ihren stärkeren Momenten so geheimnisvoll und intensiv klingt, als hätte Kate Nash sich zu nächtlicher Stunde auf dem Friedhof verirrt.


"ich wünsche den frauen dort einen langsamen, schmerzhaften tod.
das hat mich lebenslang für einen herkömmlichen beruf verdorben
– vielleicht haben sie mir damit ja einen gefallen getan.
"
(gemma ray über ihre zeit als auszubildende in einem essexer reisebüro)


Als junge, aufstrebende Sängerin hat man es dieser Tage nun wirklich nicht leicht sich gegen die permanenten Amy-Duffy-Vergleiche zur Wehr zu setzen. Erst recht nicht, wenn man sich musikalisch der Vintage-Schublade bedient, adrett aussieht und von der britischen Insel stammt. Warum aber derlei Gleichnisse dann ausgerechnet bei Gemma Ray aufgefahren werden, bleibt schleierhaft, zumal der versponnene Blues-Folk von Fräulein Ray so rein gar nichts mit dem Retro-Soul einer Amy Winehouse zu tun hat. Wenn es überhaupt so was wie einen kleinen gemeinsamen Nenner zwischen den beiden Damen gibt, dann ist es die Soundästhetik der 1960er-Jahre auf „The Leader“, dem Debütalbum der jungen Britin, die ursprünglich mal Reiseverkehrskaufrau werden wollte, was ihr aber von garstigen Kolleginnen ordentlich vermiest worden war. (Ein kleinwenig bizarr ist die Vorstellung ja schon, dass dieses morbide wirkende Geschöpf mit den viel zu dunklen Augenringen tatsächlich mal in der Welt der gut gebräunten Sekretärinnen gearbeitet haben soll.) Ray hat Arrangements komponiert bei denen immer an der richtigen Stelle das Glöckchen klingelt, die Melodica laut dazwischenfährt, oder sich eine leicht verzerrte E-Gitarre ihren Weg bahnt. Nicht nur einmal denkt man beim Hören des Albums an Nancy Sinatra in ihrer Lee Hazlewood-Phase, PJ Harvey oder gar den frühen Nick Cave. Coproduziert wurde das Album übrigens von Michael J. Sheehy, der einst Frontmann der erfolglosen britischen Band Dream City Film Club war.

The Sick Sessions

Womit wir auch schon beim Wesentlichen angelangt sind, der Musik: Von dem kurzen, aber sehr eindringlichen Interlude Yes I Am... wird der Hörer genau da abgeholt, wo ihn seinerzeit Nancy und Lee auf der Straße haben stehen lassen, ehe man auch schon in die Klang-Hemisphären von „Hard Shoulder“ eintaucht. Dumpfe Pauken, Akustikgitarre und die niedliche, aber ebenso starke Stimme Gemma Rays nehmen einen unweigerlich in Beschlag. Die vorhin beschworene Melodica darf sich immer ein kurzes Stelldichein geben und hier und da ist Gemma als ihr eigener Hintergrundchor zu hören. Ist Hard Shoulder eine noch eher ruhige Einstiegsnummer, die sich sogar auf dem Soundtrack zu einem Tarantino-Film oder gar Gorillaz-Album wieder finden könnte, überzeugt Dry River mit eingängigem Ohrwurmrefrain. Bring It To Me lebt vom aggressiveren, schnelleren Tempo, das durch den ausdrucksstarken Gesang harmonisch abgerundet wird. Mit Rise Of The Runts hat Ray gar eine wahre Pop-Perle aus dem Hut gezaubert, die genug Potential haben dürfte, um es in die hiesigen Radiostationen zu schaffen. Nachdem man sich an dieser Stelle, durch die zuckersüße Melodie bedingt, fast schon ein kleinwenig in vorweihnachtlicher Stimmung wähnt, wird es bei On Your Own wieder richtig spooky und geheimnisvoll. Wie zuvor schon bei Dry River, bestimmt auch hier wieder die x-malige Wiederholung des Titels im Refrain das Programm und man fühlt sich in eine grotesk lustige Bestattungsfeier im New Orleans der 1970er Jahre versetzt. Metal In The Morning bewegt sich wiederum weg vom Blues & Soul hin zum Gospel-Pop. Sakrale Lollipop-Stimmung verbreitet gar das wunderbare Eyes And Ears, ehe einem der yellow Pick-Up Truck in die heiße Wüste von Nevada, oder halt eben auch nur vor die Haustüre von Michael Stipe verschleppt. Klingen die darin enthaltenen Harmonien doch verdächtig nach Suspicion vom 99er R.E.M.-Album „Up“.

Weshalb diese Scheibe in ihrer Gesamtheit so herrlich schräg und düster geworden ist, kann man nur mutmaßen. Zwei Jahre lang kämpfte die Sängerin angeblich gegen eine mysteriöse Krankheit und verbrachte den Großteil dieser Zeit überwiegend im Krankenhaus. 50 Tracks sind dabei entstanden, die Ray dann scherzhafter Weise „The Sick Sessions“ benannt haben soll. 13 dieser „kranken“ Stücke sind auf „The Leader“ zu hören. Wenn man so will, das starke Destillat dieser schwierigen Zeit, eine Art „Best Of“ aus den vergangenen drei Jahren. Mangels fehlender Hit-Single und aufgrund des insgesamt für den Mainstream zu sperrigen Songwritings dürfte der kommerzielle Erfolg leider ausbleiben, was die musikalische Größe des Albums aber in keinster Weise schmälern soll.
foto:



gemma ray
"the leader"
bronzerat records, 2008
gemma ray

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3 Kurze [Jacob Faurholt, Nina Kinert, Pen Expers]

Wohingegen sich unsereins auf mittelprächtigen Weihnachtsmärkten den fiebrigen Körper mit Glühwein und heißer Schokolade aufwärmt, machen die Skandinavier in der heißen Grippephase das, was sie am besten können: Sie nehmen Platten auf und streuen diese unters Volk. Einige Glanzlichter hier in der Kurzkritik.


"the same rainy streets i walked with your old address in my sleeve.
i'm in my valentine shirt.
"
(pen expers)


Jacob Faurholt - "Hurrah Hurrah"

Das dänische Städtchen Århus ist die kleine Schwester Kopenhagens, das lässt sich nicht verheimlichen. Ein wenig verschlafen und mit verminderter Strahlkraft steht es leider immer noch im Schatten des großen Ostseebolidens. Das wird und muss sich langsam ändern, denn die Szene in Århus macht so langsam eine Gratwanderung durch.

Mit Beta Satan, The Broken Beats und den isländisch anmutenden Under Byen eröffnen sich neue musikalische Wege in Dänemark. Hinzu tritt Jacob Faurholt, der sich wie ein Fabelwesen durch die internationale Popgeschichte wälzt und von Album zu Album immer andere Kolorite ausprobiert. 2005 erobert er mit seinem Projekt Jacob Faurholt & Sweetie Pie Wilbur die dänischen Alternative-Charts. In diesem Jahr stellt er nun endlich sein zweites Album „Hurrah Hurrah“ vor, das sich wie eine Melange aus Anti-Folk und Bedroom-Pop in den Ohren festsetzt. Dazu kommen eine skandinavische Schwermütigkeit und die obskursten Instrumente/Gegenstände. Faurholt wuselt mit so ziemlich allem herum, was er in seiner Wohnung finden konnte und zeigt, dass man auch mit Küchenutensilien eine ziemlich intime Atmosphäre schaffen kann. Gut so!

Pen Expers - "Baby’s Gone Straight"

Alexander Arvman – Sänger der schwedischen New Wave-Epigonen Pen Expers – ist schon durch so manche Hard Times gegangen: Suff, Verbitterung, Lovesick, Weltverdruss. Grund genug für ihn diesen Themen mit „Baby’s Gone Straight“ ein zutiefst betrübtes Denkmal zu setzen.

The days that light up here are wasted” heißt es beispielsweise in “Valentine Shirt”. Wenn man das vor dem Hintergrund hört, dass hier nicht etwa versucht wird eine ironische Kunstfigur im Stile Charles Bukowskis zu schaffen, sondern dass Arvman sein Ideal im leidenden Künstler gefunden hat, möchte man dem Schweden behutsam auf die Schulter klopfen und sagen, dass alles wieder gut wird. Doch nein: vor der Therapie liegt immer noch das Suhlen im Selbstmitleid und die Teenage Angst in ihrer urigsten Form: rau, ungeschliffen und so verdammt angepisst von der bösen, bösen Welt. Ganz klar können da im direkten Vergleich nur der frühe Nick Cave und Ian Curtis mit all ihrer Tragik mithalten. Musikalisch ist das ganz großer, eklektischer New Wave-Pomp mit einem Galle spuckenden Sänger, dessen Stimme eine solch dunkle Klangfarbe hat, wie man sie heute selten findet.

Nina Kinert - "Pets and Friends"

Ane Brun und Nina Kinert sind Buddies, das hört man nicht nur an ihrem leicht folkig-verspielten, fast schon transzendentalen Songwriter-Pop, sondern auch an dem Fakt, dass beide hin und wieder gerne gemeinsam auf Tour gehen. Das Problem dabei ist nur, dass man nicht eindeutig ausmachen kann, wer hier eigentlich wen supportet. Sicherlich hat Ane Brun mit ihrem rauchigen Vibrato den eindeutig größeren, weil bekannteren, Namen, aber dennoch spielt Kinert so langsam in der gleichen Liga wie die ehemalige Straßenmusikerin Brun. Und das mit gerade mal 25 Jahren und vier veröffentlichten Alben.


jacob faurholt
"hurrah hurrah"
quartermain rec 2008 cd
jacob faurholt






pen expers
"baby’s gone straight"
i-ration records 2008 cd
pen expers






nina kinert
"pets and friends"
another 2008 cd
nina kinert

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Sonntag Nachmittag [Dezember 2008]













fotos: manuel kaufmann

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Chase The Dragon [Replacing Space]

Während Siegfried die Tarnkappe der Zwerge poliert, um sich an die Schätze der Drachen dieser Welt heranzuschleichen und den mythologischen Echsen das Schwert der Vergessenheit in die Kehlen zu rammen, machen sich zwei Magdeburger als Drachenkämpfer gleich daran, zu zeigen, dass österreichische Berghütten doch ihren Sinn haben können.

we should find out, but it is so much better to break up
from the heights that we don’t know.

(the lasting)

Jage den Drachen! So hätte auch damals ein weiser Rat von Mr. Miyagi an sein Karate Kid lauten können. Die Suche nach dem Drachen im eigenen Ich, der sich immer wieder einschleicht und ganz in der Element of Crime-Manier wie ein Tier alles zerstört, was man sich vornimmt, sodass man nur noch gerne wüsste, wer man wirklich ist. Oder aber auch ein umgangsprachlicher Begriff für das Inhalieren von erhitztem Heroin. Welcher hobby-philosophischen Spielerei man nun in gewohnter Wikipedia-Google-Tradition nachgehen will, bleibt jedem selbst überlassen, denn hier dreht es sich nun um Musik. Chase The Dragon, sprich Robin Kellermann und Mathias Schieweck aus Magdeburg. Die Beiden sind weder mit einer bekannten Affinität zu Karate Kid noch zur Drogenszene beseelt, aber dennoch steckt hinter ihrer zweiten EP „Replacing Space“ in der dreijährigen Bandgeschichte eine Klangsphäre, die sich ähnlich wie ein Drachenjäger ihren Weg durch die alltäglichen Hindernisse kämpft.

Den Anfang macht The Names Of The Lands We Had Crossed. Besattelt mit einem leisen Zusammenspiel aus Synthesizerklängen und Klaviermelodie wird schon hier direkt der Weg in den Pop geebnet. Nicht in diesem abwertenden Sinn, wie man ihn heutzutage nur zu oft verwendet. Eher wie die Hoffnung auf einen besseren Tag, während draußen der Regen jeglichen Sonnenschein untergräbt, die Passanten auf der Straße das Lachen auf einen anderen Tag verschieben und selbst die dicke Decke einen nicht wärmen kann. „We decided to break up with our past to find the true one inside“.

Fast schon als wäre diese subjektive Assoziation gewollter Pathos begrüßt einen The Lasting mit Vogelgezwitscher, als der besagte bessere Morgen, an dem man noch einmal neu anfangen kann. Vielleicht aber auch nur ein kurzer Einblick in die friedlichen Anfänge der Tage, die Robin und Mathias während der EP-Aufnahmen auf einer österreichischen Berghütte erlebt haben müssen. Wenn man auf den alten und knarrenden Holzdielen mit einem frisch gebrühten Kaffee aus erhitztem Bergwasser und Instantpulver steht und man eigentlich nicht drum herum kommt, sich mit den eigenen Dämonen auseinander zu setzen.

Musikalisch wie ein Wechsel aus Sonne und Schnee, um dann beim dritten Stück Could We vollends in den Gedanken versunken zu sein. Melancholie in ihrer Reinform: „Could we all just apologize for the things we never did for ourselves“, während der eigene Fall über die ganzen vier Minuten aufgebaut wird, um zum Schluss mit einer vorwurfsvollen Aggressivität in den oben zitierten Worten den Sturz nur noch zu beschleunigen. Kein Happy-End in Sicht. Auch nicht in den Streets Of My Hometown, die genau das heraufbeschwören, was man sich unter dem Titel vorstellt: Ein Zurückkommen an die alten bekannten Orte der Heimat, an denen das Gehirn knuspert und alte Erinnerungen projiziert, ohne auf längst verheilte Wunden Rücksicht zu nehmen, die nun schmerzhaft wieder aufgekratzt werden. Geigen aus dem Off, ein Leiden in der Stimme und die Moll-Akkorde vom Klavier als die nötige musikalische Untermalung, um danach der siebtgrößten Stadt Mecklenburg-Vorpommerns in Goodnight Güstrow die ersehnte Nachtruhe zu wünschen. Ein perfekter Abschluss, wenn dann im Hintergrund wieder Alpenvögel zwitschern und ein Bachlauf der Atmosphäre den richtigen leise, matt-glänzenden Schliff verpasst. „Bend your head and lay down“. Resignation und ruhiges Durchatmen nach fünf musikalischen Stücken, die wenig durch ihre Texte als viel mehr durch die Musik Geschichten erzählen, über die kleinen großen alltäglichen Kämpfe mit den Drachen in uns selbst.

So ist „Replacing Space“ ein Stück Musik, ohne jegliche Allüren etwas Besseres sein zu wollen. Immer mit dem nötigen Maß an Hoffnung im Blick, sei es in der Stimme, im Text oder in den Tönen. Chase The Dragon erfinden hier nichts neu, fordern nicht heraus und werden niemals Trend werden. Alles Gründe, wieso man diese EP in das eigene Herz schließen sollte. Und sei es nur, um einmal sagen zu können, man hätte die Welt durch den Klang eines österreichischen Bergbachs ein Stück besser verstanden.
foto: confidence records


chase the dragon
„replacing space“
eigenvertrieb 2008 ep
chase the dragon

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Hellsongs [Hymns In The Key Of 666]

Sie sind die Pioniere des "Lounge Metal" und ihr Band-Name mindestens so aberwitzig wie irreführend: Hellsongs. Auf ihrem Debütalbum mit dem nicht minder abstrusen Titel "Hymns In The Key Of 666" tauschen die drei Schweden E-Gitarren und Schlagzeug gegen Piano, Akustikgitarre und Tambourine ein - und unterziehen Heavy-Metal-Klassikern einer erfrischenden Zell-Kur.


"wir finden, dass der begriff ’lounge metal’ unsere musikalische synthese am besten charakterisiert."
(hellsongs)


Neu ist die Idee des frivolen Grenzgangs nun wirklich nicht: Nouvelle Vague packten vor nicht allzu langer Zeit 80er-Jahre-Klassiker ins Lounge-Gewand, Helge Schneider wagte sich einst gewohnt jazzig an Jimi Hendrix’ Hey Joe heran und Mambo Kurt interpretierte bereits vor zehn Jahren AC/DC-Hits auf seiner Heimorgel. Doch das schwedische Trio Hellsongs setzt dem ganzen nun die Krone auf. Allein schon das quietschbunte Cover erinnert eher an selige Hippie-Zeiten als an düsteren Metal. Legt man dann die Scheibe in den Player, ist man zumindest als Ahnungsloser erst mal vollkommen irritiert: Statt heftigen Heavy Metal bekommt der Hörer feinsten "Lounge Metal", wie die drei Göteborger ihre Musik treffend bezeichnen, serviert. „Heavy Metal Klassiker interpretiert als entrückte Folk-Nummern“, könnte man das ganze auch nennen, wäre dann aber nicht ganz so schön griffig formuliert wie mit dem eigens dafür gewählten Begriff der Schweden.

Eigenwillige Interpretation von Heavy-Metal-Klassikern.

Getreu dem Motto "Weniger ist mehr" kommt Iron Maidens Run To The Hills dann auch standesgemäß als lyrischer Folk-Song auf der Wandergitarre daher. Black Sabbaths Paranoid als schmachtende Piano-Ballade mit Streichern, Metallicas Blackened als Hippie-Folk-Nummer, Slayers Seasons In The Abyss als Klavier- und Streicherstück, was nur noch von AC/DCs psychedelischem Thunderstruck übetroffen wird. Einzig Megadeths Symphony Of Destruction verliert im Boogie-Woogie-Gewand an Klasse und will nicht so ganz zum Rest der ansonsten sehr gelungenen Folk-Platte passen. Von dem einen Aussetzer mal abgesehen, sind die zehn Songs durchgehend homogen arrangiert und funktionieren auch als Nicht-Cover-Versionen sehr gut. Will heißen, wer die Originale nicht kennt, wird sie auch nicht zwingend vermissen. Jedes Stück auf der Platte kann für sich allein stehen und versprüht individuellen Charme. Umgekehrt dürfte obgleich der eigenwilligen Interpretationen der Stücke zunächst große Verwunderung bei jenen vorherrschen, die die Stück im Original kennen, was sich dann aber schnell in Wohlgefallen auflösen sollte.

Im Jahr 2004, so besagt es die Legende, spielen Sängerin Harriet Ohlsson (die im Gegensatz zu ihren beiden musikalischen Mitstreitern keine Metal-Vergangenheit nach sich zieht, aber ganz gerne zu Highway to Hell die Wohnung fegt), Keyboarder Johann Bringhed und Gitarrist Kalle Karlsson irgendwo in der tiefsten schwedischen Provinz ihr erstes Konzert. Im Gepäck haben sie ausschließlich Heavy-Metal-Klassiker von Iron Maiden, Black Sabbath, Saxon, AC/DC und Metallica. Und jetzt kommt der Clou: Sämtliche Stücke wurden auf ihre melodische Grundstruktur reduziert und mit akustischer Gitarre, sanften Keyboards und Harriets glockenklarem Gesang vorgetragen. Man kann sich die verdutzten Gesichter ihres damaligen Landeier-Publikums bildhaft vorstellen. Von ungläubigem Staunen bis hin zu enthusiastischer Begeisterung soll dann auch alles dabei gewesen sein. Dieses erste Konzert ermutigte das Trio, ihr eigenwilliges Konzept fortzusetzen: „Wir sind alle Heavy-Metal-Fans. Unsere Herangehensweise an diese Songs ist sehr liebe- und respektvoll. Wir haben zwar einen gewissermaßen spielerischen Ansatz, aber wir nehmen die Songs sehr ernst und sind todernst, bei dem was wir tun“, so Karlsson. Auf jeden Fall wolle man vermeiden, dass ihre Musik als eine Art Ironisierung von Heavy Metal aufgefasst werden könnte. Das Gegenteil sei der Fall. Vielmehr sehe man in dem Album eine Art Huldigung der großartigen Songs dieser Zeit. Hunderte von Konzerten haben sie seither gegeben. Das größte Highlight sei dabei ein Auftritt mit den Göteburger Philharmonikern in der Göteburger Stadthalle gewesen. „Das war unglaublich“, schwärmt Harriet Ohlsson immer noch. „Wir waren sehr überrascht, wie aufgeschlossen und freundlich die klassischen Musiker auf unsere Musik reagiert haben. Sie waren überhaupt nicht egoistisch, wie man es so oft in der Popwelt findet.

„Hymns In The Key Of 666“ ist jetzt sicherlich kein musikalischer Meilenstein, der die Popwelt auf den Kopf stellen wird. Diesen Anspruch an sich selbst hat die Scheibe auch zu keinem Zeitpunkt. Vielmehr ist die Zusammenstellung das, was Easy Listening auszeichnet: Gemütliche Chill-Out-Musik für die Party nach der Party. Und das ist auch gut so.
foto:




hellsongs
"songs in the key of 666"
bodogmusic 2008 cd
hellsongs

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