The Most Serene Republic [Underwater Cinematographer]

Post Playstation Orgasm.
Das scheinbare Chaos der zeitgenössischen Reizüberflutung ordnen die sechs jungen Kanadier mit dem venezianischen Namen unter Zuhilfenahme von Enthusiasmus, ansteckender Begeisterung und einer gehörigen Portion Indiepop.


"i can formulate ideas and thoughts before i can think."
(relative's eyes)


Die übersättigte Spaßgesellschaft hat sich seit vielen Jahren in ihrer Janusköpfigkeit festgefahren; zwischen eher geistlosen aber beharrlichen Revivals vergangener Tage, den Blick zurück auf Kindheit und Jugend gerichtet, und der antriebslosen Verstimmung der Gegenwart, scheint kaum ein Gedanke an ein Fortschreiten, an eine Entwicklung verschwendet zu werden. Man legt weiterhin großen Wert auf die Juvenilisierung der Gesellschaft, und bei der vom Markt umschwärmten Zielgruppe hat sich ein äußerst seltsam anmutendes Nostalgiegefühl ausgeprägt, das man eher bei Rentnern erwarten würde. Die Früher-War-Alles-Besser Mentalität der nach der deutschen Wiedervereinigung Geborenen äußert sich heute mit einer altklugen und gleichgültigen Gewissheit. Wenn hierzulande selbst Konstantin Wecker das revolutionäre Potential nicht mehr in der klingelbetonten Jugend, sondern vielmehr bei den Rentenempfängern sieht, verlangt es nach Veränderung. Dass man sich hierfür nicht in Zweckzynismus, gleichgültiger Stagnation, altbackenen Aufschwungskampagnen oder verkopfter Idealisierung verlieren muss, zeigen zumindest im kulturellen Bereich derzeit eine handvoll junger Künstler, die aus der bunten Produktpalette des Hier und Jetzt gelernt haben und diese Erfahrungen wie selbstverständlich stilbildend verarbeiten. Man muss nicht PostEverything oder NewNewAnything mit zurückgewandtem Blick produzieren, wenn das Leben von vorne kommt. The Most Serene Republic sind eine jener Bands, die sich vom fünfzigjährigen Matriarchat der Gitarre in der Pop- und Rockmusik befreit haben, die es wagen bestehende Konventionen zu brechen und dabei so bedingungslos gut herüberkommen, dass man gewillt ist seinen Controller aus der Hand zu legen. (Ganz so schlimm ist es selbstverständlich nicht.)

The Most Serene Republic stammen – wie der Pressetext erklärt – aus den Vororten der Vororte von Toronto. Dass das oft als wegweisend bedachte urbane Leben dort nicht gerade tobt, dürfte dank der Formulierung auf der Hand liegen. Ebenso deutlich ist jedoch auch, dass aufgrund der weltweiten Vernetzung selbst in Hemmoor - Verzeihung - jenseits von Raum und Zeit kosmopolitische Erfahrungen gemacht werden können. Vielleicht ist es sogar vielmehr ein Privileg, welches man jedoch erst begreifen und für sich deutlich machen muss.

Ryan Lenssen und Adrian Jewett gründeten die Band 2003 zunächst als Duo, stellten jedoch recht schnell fest, dass ein Laptop und ein Keyboard nicht ausreichen würden, um die geplanten Ideen umzusetzen. Das ausufernde Instrumentarium – wie es für die angesprochenen Bands wie Broken Social Scene oder die Architecture In Helsinki üblich scheint – ist nur ein weiteres Indiz für den Reichtum an Melodien und Sounds, welche man in dem guten Dutzend überorchestrierter Indiepop Songs wahrnimmt. Auch wenn Lenssen bereits seit 16 Jahren Klavier spielt und angibt, dass "Underwater Cinematographer" von Igor Stravinsky inspiriert sei, lässt sich die überbordende Fülle, das gleichzeitige Stattfinden unterschiedlichster Details in den elf Stücken nicht leugnen; da laufen zwei Gesangsspuren parallel, Drum Computer wettern gegen ein echtes Schlagzeug, Keyboards, Streicher und Bläser eifern mit Gitarren um die Wette. Ein wichtiger Moment der Abgrenzung zu anderen Bands sei jedoch die Struktur, die ausgereifte Komposition dahinter. Es geht nicht um Zufälle, sondern um eine Ordnung im Chaos. "No one does that anymore, everyone just blogs", so Sänger und Posaunist Lensson.

Wenn ein Freund des Labels in einer Email die Bezeichnung "Post Playstation Orgasm" verwendet, dann geht es genau hierum. Wir haben uns die Fähigkeit angeeignet im Alltag unzählige Dinge synchron wahrzunehmen; Wir schauen fern, hören Radio, surfen im Internet und spielen Videospiele, wir unterhalten uns, während ein Mobiltelefon klingelt, aber dennoch können wir all diese Informationen selektiv ordnen. Eine solche Struktur tritt auch beim Hören des Albums immer mehr in den Vordergrund, wenn man ihm den einen oder anderen Durchlauf gegönnt hat. Was zunächst verworren und überladen klingen mag, kann rasch dekodiert werden und wir finden uns plötzlich spielend zurecht. Es scheint, als stünde man mitten im Stück selbst, gerade auch, weil es sich die Sechs Mittzwanziger nicht nehmen lassen, auch mal während den Stücken zu diskutieren.

Auch die gewählten Titel scheinen mit den Absurditäten unserer Zeit zu kokettieren; da wird das Gesprächswort "Oh" gleichsam verheißungsvoll und ironisch im Titel (Oh) God ausgeklammert, das Spiel mit der Sprache als solche in Content Was Always My Favorite Colour oder Where Cedar Nouns And Adverbs Walk ausladend gefeiert, oder eben auf jene angesprochene fragmentarische Fähigkeit in einem, jede LCD Anzeige sprengenden Titel wie The Protagonist Suddenly Realizes What He Must Do In The Middle Of Downtown Traffic eingegangen. Mit voller Selbstverständlichkeit. Schließlich wiederholt die gesamte Band am Ende von besagtem Where Cedar Nouns ... im Chor solange die Zeile "I think, we all know the words", bis keine Fragen mehr offen bleiben. Dieser gemeinsame Gesang taucht immer wieder auf, so etwa im, mit zahlreichen Handclaps und Human Beatbox angereicherten Stück Proposition 61, wenn zum Ende des, von einem Mädchen namens Jude handelnden Stückes, das Sextett die Zeile "She took a sad song and made it sadder" – zweifelsohne in Anlehnung an ein sehr bekanntes Beatles Stück - wiederholt zum besten gibt. Gerade diese überraschenden Momente, das Spiel mit den Erwartungen des Zuhörers, beeinflusst von unzähligen Melodie-, Tempi- oder auch Instrumentenwechseln birgt eine selten gehörte Originalität. Bisweilen errettet eine unscheinbare Pianomelodie aus einer anschwellenden Kakophonie und es wird des Öfteren klar, dass der Enthusiasmus und die Begeisterung der Protagonisten selbst Ursprung aller Vielfältigkeit sind.

Ich wage es einfach einmal mich an dieser Stelle sehr weit aus dem Fenster zu lehnen und "Underwater Cinematographer" als eines der eindrucksvollsten Debüt Alben des noch jungen Jahres zu benennen.
foto: p. wilson



the most serene republic
"underwater cinematographer"
arts&crafts / city slang 2006 cd / lp
the most serene republic

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Sonntag Nachmittag [Februar 2006]










fotos: manuel kaufmann

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Cloroform [Hannover, 30.01.2006]

"What can we say about Germany? Warm beer and a warmer welcome. All the shows were the best and we can honestly say that we have never felt an energy like we did while we were out there. The people at shows were a delight."
(John Erik Kaada)

"what can we say? the tour was a blast!"
(j. e. kadaa)


"The Good Times Are Killing Me", konnte im Laufe des Abends noch des Öfteren als rot leuchtender LCD-Schriftzug auf dem Gürtel von John Erik Kaada zu lesen sein. Wie Pete Townsend, dem Mastermind hinter den legendären Who, traten die drei Herren von Cloroform nebst ihrem Gastmusiker in Arbeiter-Overalls gekleidet im hannoveranischen Chez Heinz, zum Abschluss ihrer ersten Deutschland Tour auf. Und ganz wie in den sechs anderen Orten zuvor konnten sie auch an diesem Abend das Publikum – bunt gemischt zwischen Altrockern, Indie Nerds und Leuten in dem Outfit was man heute Punk nennt und dem was man vor zwanzig Jahren als Punk ansah – mit der Zeit für sich gewinnen. Bedingungslos.

Man muss sich erst an die ironische Art gewöhnen, die John Kaada bis zur Perfektion in seiner Performance auslebt; die heuchlerischen Gesten in den Liebesliedanleihen, das überspielt maskuline Auftreten, das kurzweilige Headbangen zwischen den beiden gleichzeitig bedienten Keyboards, und der Wechsel von fiepsigem Flüstern und megalomanischen Geschrei.

Auch wenn sich der Club nur langsam füllt und die Vorband eher auf lokalpatriotischer Ebene begeistern konnte, ist der Auftritt der Norweger berauschend. Die vorgetragenen Stücke sind fast ausnahmslos von dem aktuellen Album und dessen Vorgänger "Hey You Let’s Kiss" und bewegen sich irgendwo zwischen Deathmetal, Pop und Free Jazz. Filigran und Roh in gleichem Maße.

Øyvind Storesund malträtiert seinen Bass einstweilen mit Faust und Drumstick und entlockt ihm dabei einen so treibenden aber präzise auf den Punkt gebrachten Groove, dass es eine Freude ist ihm zuzusehen. Børge Fjordheims Schlagzeugspiel ist ähnlich berauschend; die Energie und den Druck eines Heavy Metal Drummers mit dem Feingefühl und der Ästhetik eines Jazz Schlagzeugers kombiniert, perfektioniert er die Rhythmusarbeit an diesem Abend. Der große Aufwand der musikalischen Abwechslung und spielerischen Sorgfalt der Platten begegnet einem live so lässig aus dem Ärmel geschüttelt, dass es anderen Bands vermutlich schwarz vor Augen werden dürfte.

"Wir sind nicht mit leeren Händen nach Deutschland gekommen", grinst John Kaada und weist darauf hin, dass Cloroform das größte Rockriff aller Zeiten in Petto hätten. "Vergesst Led Zepplin und AC/DC", lässt er großspurig verlauten und zählt dann während des Stückes die letzten Takte herunter bis ein brachialer Gitarrensound begeistert, für welchen sich der kleine Mann mit der Gitarre verantwortlich zeigt.

Raldo Useless, eigentlich als Gastmusiker der sich im letzten Jahr aufgelösten Band Gluecifer anwesend, erscheint manches mal etwas verloren in seinem weißen Overall. Einen Kopf kleiner als jedes andere Bandmitglied steht er da und verliert sich selbst in begeistertem Grinsen, wenn er versucht seinen Einsatz nicht zu verpassen. Keine leichte Aufgabe bei einer Band, die sich ganz offensichtlich so blind versteht, dass die stellenweise ausufernden Improvisationen – gleich wohl von Schlagzeug, Kontrabass, Keyboard oder sogar einem sensationell gepfiffenen Solo von Øyvind Storesund – durch winzige Details wieder zum Einsteig der anderen Instrumente auffordert. Dennoch war es definitiv dieser kleine Mann in dem weißen "Service Team" Anzug der eine Lanze für die Band brechen konnte. War er als gefeierter Gitarrist doch der Überzahl der Zuschauer bekannt. Und aus sicherer Quelle weiß ich, dass einige Fans fast ausschließlich wegen ihm an diesem Abend vor Ort waren. Allerdings sollte dies nicht der einzige Grund bleiben weshalb zum Ende kein Bein mehr still stehen konnte, wenn man seinen Blick durch die Mengen wandern lies.

"Genau so war es an jedem Abend", erklärt mir Daniel Theuerkaufer an dem Tisch, auf dem die bereits fünf veröffentlichten Platten der Band zum Verkauf ausliegen. Zunächst sei das Publikum verständlich etwas distanziert gewesen, wusste man doch wenig mit den vier Herren anzufangen. Und die wenigsten kannten ihre Stücke bereits im Vorfeld. Im Laufe der Zeit tummelte man sich jedoch allerorts vor den Bühnen und Begeisterung machte sich auf den Gesichtern breit, beschreibt er den Verlauf der Tour. Und so zeigt sich auch ein zufriedenes Lächeln im Gesicht des jungen Labelbosses. "Den Jungs hat es irren Spaß gemacht." Und so sind auch wir empfänglichen Rezipienten der Band glücklich und freuen uns auf ein baldiges Wiedersehen.
foto: nina solheim

cloroform
chez heinz

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My Morning Jacket [Z]

In 80 Tagen um die Welt.
Oder in weniger als fünfzig Minuten durch Raum, Zeit und Traditionen. Doch manches Mal verlangt das Verfolgen der eigenen Ideen ein weit aus couragierteres Selbstverständnis, als vielleicht vorhanden ist.


"and all that ever mattered will someday turn back to batter like a joke."
(dondante)


Z. Z ist der letzte Buchstabe des lateinischen Alphabetes. Z steht symbolisch für komplexe Zahlen in der Mathematik. Z ist auch das Pseudonym des ermordeten Oppositionsführers im gleichnamigen französischen Film von Regisseur Constantin Costa-Gavras aus dem Jahre 1969. Dass Zed tot sei, haben wir aus Quentin Tarantinos Gangster Farce "Pulp Fiction" gelernt, während Z im altgriechischen Alphabet für "Er lebt" steht. Die fünfköpfige Band My Morning Jacket aus dem amerikanischen Lousiville, Kentucky, hat sich also einen mystisch aufgeladenen und nur schwer fassbaren Titel für ihr viertes Album ausgewählt. Ebenso schwer fassbar und zu kategorisieren ist die darauf eingespielte Musik. Versuchen auch die drei blauen Vögel auf dem Coverbild am offenen Bauch eines weiteren Vogels die Organe auszumachen und mittels gezücktem Skalpell zu operieren, müssen sie doch feststellen, dass Herz, Lungenflügel und Magen munter und willkürlich in grotesk urban anmutenden Innereien mobil sind. Nichts ist so wie es scheint und alles geschieht dennoch einfach so. Oder mit Sänger Jim James Worten "I went over the river and into the woods. Where did I go?" (Into The Woods).

Das affektiert wirkende Namedropping im Pressetext darüber, dass Produzent John Leckie bereits mit Pink Floyd, den Stone Roses und Radiohead zusammen gearbeitet habe – meines Erachtens nach sollen große Namen, die ohne direkte Verbindung zu dem Werk Erwähnung finden, nur notdürftig vorhandene Makel kaschieren – und die nur oberflächlich ausdrucksstarken Zitate der großen internationalen Musikpresse scheinen mir jedoch ebenfalls nur wenig Greifbares gefunden zu haben. Wenn das britische Magazin Uncut also logisch zu folgern versucht, dass alles Fehlende auf dem jüngsten Coldplay Album "X&Y" auf dem My Morning Jacket Album "Z" zu finden sei, so ist dies ebenso wenig gerechtfertigt wie die seltsam daherkommende Idee des Rolling Stone Magazine, das hier die amerikanischen Radiohead ausruft. So funktioniert moderner Musikjournalismus; Bands werden durch Bands erklärt. Ich sage: In den besten Momenten klingt die Band nach den Flaming Lips, was jedoch auch nichts weiter als metadiskursive Mutmaßung meinerseits wäre. Wie armselig begrenzt man doch ist.

Auf "Z" wagen sich My Morning Jacket in die unterschiedlichsten Genres, verbinden Folk mit Country, Americana und sogar Reggae, ohne ihre eigenen Wurzeln zu vernachlässigen. Einflüsse von solch großen Namen wie Neil Young, The Band oder den Allman Brothers liest man, wenn man sich umschaut. Heute möchte man vielleicht Ryan Adams, Wilco oder Spiritualized ergänzen. Elektronische Klänge, Off Beats und Keyboard Arrangements bereichen ihre Musik seit der letzten Platte. Das eingangs erwähnte Into the Woods, bei dem man sich neben einer singenden Säge plötzlich mit einem skurrilen Männerchor konfrontiert sieht, ist ein gutes Beispiel dafür, wie viel in der Band steckt. Dondante hingegen ist ein sich langsam enthüllender, sehr auf Gefühl bedachter Opus, bei welchem die Band all ihre Stärken und ihr Hinwenden zum Detail ausspielt und vor allem durch Jim James reichhaltige stimmliche Qualitäten überzeugt.

Doch das Album bewegt sich zwischen jenen beiden Polen, die auch der Titel "Z" selbst suggeriert; die bedeutungsschwangere Vielfalt die Eingangs Erwähnung fand und die schlichte Reduzierung auf sich selbst. Zum Verhängnis scheint mir letzten Endes eben auch diese unausgeglichene Bewegung zwischen den beiden Richtungen zu werden.

Zum einen überschattet eine beinahe zwanghafte Stilvielfalt die guten Ideen – etwa das mit Reggae Allüren vorangetriebene und eher platte Off The Record. (Auch wenn das Ende zu überraschen weiß, entwickelt sich das Stück doch plötzlich in eine an Air erinnernde, verspielte Pop Ambient Nummer). Dass es sich hierbei um ein wirklich großes Album handelt wird noch durch ein anderes Extrem verhindert; die häufige und bei der Begabung überflüssige Rückbesinnung zum Rock. Im ganz klassischen Sinne. Gitarrensolo, Basslinie halten, Schlagzeug auf die Zwei und die Vier. Anytime und Lay Low sind Beispiele, in welchen man an alte Tage des stadionfüllenden Rockkonzertes erinnert wird, was leider nicht unbedingt das Erstrebenswerteste ist. Klar geradeaus gerichteter Southern Rock, schnörkellos und wenig einfallsreich und so auch die letzten Nickelback, Bon Jovi und unkritischen U2 Mitläufer mobilisierend. Das macht "Z" leider zu einer Platte, um welche die Rolling Stone Redaktion vermutlich noch lange herum tanzen wird, doch all die Vergleiche und angezeigten Verweise belegen eben auch, dass hier zwar ein gutes Album, aber leider auch nicht mehr vorliegt. In zu viele Richtung streckt man die Arme, zuviel wird angerissen aber doch nicht innovativ genug ausgekostet. Wo Radiohead sich um Meilen vom limitierten Rock aus "The Bends" Zeiten entfernt haben, werden My Morning Jacket mit eben diesen Tagen verglichen. Nicht oft genug führt die Band ihre wirklich guten Ideen konsequent aus und produziert so neben beeindruckenden Kompositionen enttäuschende Platzfüller. Es geht nicht darum sich zwanghaft neu zu erfinden und eine kopernikanische Wende nach der anderen zu proklamieren, aber im Großen und Ganzen ist vieles auf diesem Album an anderer Stelle schon gehört und vielleicht auch besser umgesetzt worden. Oder wie es der Guardian treffend benannte: "intensely lovely, but essentially conservative".
foto: danny clinch



my morning jacket
"z"
red ink 2006 cd
my morning jacket

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Architecture In Helsinki [In Case We Die]

SuperMelodyWorld.
Die Musik ist wie ein erster Kuss: chaotisch, leidenschaftlich, aufregend und flüssig. Das weiß die neue Supergroup aus Australien jedenfalls selbst über sich zu sagen.

"i've got problems, i'm gonna use them."
(in case we die parts 1-4)


"Auf den Birken und Weiden da wachsen die Semmeln und Brötchen frischbacken und unter den Bäumen fließen Milchbäche; in diese fallen Semmeln und Brötchen hinein und weichen sich selbst ein für die, so sie gern einbrocken." So beschrieb der deutsche Schriftsteller Ludwig Bechstein im neunzehnten Jahrhundert das Schlaraffenland, diesen ungewöhnlichen Ort an dem Alles im Überfluss vorhanden sei. Ganz ähnlich erscheint die Musik von Architecture In Helsinki, deren zweites Album mit Verzögerung nun auch in Deutschland veröffentlicht wird. Die drei Damen und fünf Herren aus der näheren Umgebung von Melbourne versammeln – so die Pressemitteilung – ein "Tischfeuerwerk aus frechen Popeffekten". Tatsächlich präsentiert die Band ein überbordendes Sammelsurium an verspielten Melodien und entrückten Rhythmen, dass einem ob der Vielfalt schwindlig werden kann. Akribisch sind im Booklet die verwendeten Instrumente aufgeführt und zu jedem einzelnen Song zugeordnet. 41 an der Zahl. Da wird schnell klar, dass neben den acht Mitgliedern noch über vierzig Freunde an den Aufnahmen der Platte beteiligt waren, die im eigenen Studio mit dem klangvollen und überaus passenden Namen Super Melody World produziert wurde.

So zahlreich wie das Instrumentarium sind auch die Anekdoten die sich um die Stücke, die Platte und die ganze Band ranken. Der seltsam anmutende Name entspringt einer recht spontanen Begebenheit; Cameron Bird - der Kopf, Dirigent oder vielleicht Architekt der Band – schlug einfach eine Zeitung auf und kombinierte Wörter miteinander, welche seines Erachtens nach einen guten Klang ergaben. Architecture In Helsinki war das Resultat als man sich kurz vor einem Auftritt auf einen Bandnamen einigen musste. Ähnlich diesem Schema, so erklärt Sängerin, Keyboarderin und Percussionistin Kellie Sutherland, sei auch die Herangehensweise von Bird beim Schreiben der Texte; der Klang der Worte und Sätze steht im Vordergrund, die Interpretation überlässt man lieber den Hörern. "Blue and red up I'm fed, you're upset almost dead, tongue twisted." (In Case We Die Parts 1-4)

Auch zu den einzelnen Stücken ist man um kleine, skurrile Geschichten nicht verlegen; Das bereits auch visuell arrangierte Stück Do The Whirlwind – vielleicht der eingängigste, wenn nicht zumindest tanzbarste Song des Albums - sang Cameron Bird aus Mangel an Aufnahmemöglichkeiten zu Hause auf den Anrufbeantworter, nachdem ihm die äußerst eingängige Melodie während dem Fahrradfahren in den Kopf kam. Die Folge war, dass jeder Anrufer über Wochen hinweg mit dieser Melodie konfrontiert wurde. Eine Idee, die sich die Band vielleicht noch schnell als Werbewirksames Marketingkonzept patentieren lassen sollte.

Das bunte Pop Panoptikum mit dem leicht morbiden aber auch ironisch lebensfrohen Titel "In Case We Die" ist eine Zusammenstellung von Popmusik Liebhabern. Manche Stücke erscheinen geradezu, als würde man durch die mittlerweile unzähligen Musikkanäle im digitalen TV Zeitalter zappen. Es gibt zahlreiche Künstler, welche die verschiedensten Musikrichtungen in ihren Stücken verarbeitet haben. Doch erst in der letzten Zeit haben sich Bands hervorgetan, welche aus allen Zutaten einen homogenen Stil herausarbeiteten. Und wenn man dann solch allumfassende Verknüpfungen wie "Rocky Horror Picture Show, Bangles, Smith meets Queens Of The Stone Age und Cure mit einem A Capella Breakdown" heraufbeschwört um einen Song zu beschreiben, erscheint dies nur folgerichtig. Gerade Australien und Neuseeland mit Künstlergemeinschaften wie den Avalanches oder jüngst Fat Freddys Drop scheinen hierfür prädestiniert zu sein. Toby, Trompeter letzterer Band, beschreibt diese Herangehensweise damit, dass man solch ein Wagnis nur dort ohne sich zu verlieren sinnvoll durchführen kann, wo der Markt begrenzt ist und man Teil einer Szene als Ganzes sein muss. "Wenn du Musiker sein willst, musst du dich in verschiedene Stile einbinden – was eine andere Art von Musikern hervorbringt, mit breitem Geschmack, Interesse und Verstand unterschiedlichster Arten von Musik." Ganz ähnlich verhält es sich seit geraumer Zeit in Kanada, allen voran auf dem stilsicheren Label Arts & Crafts, welches mit Bands wie Broken Social Scene, den Stars und demnächst der Most Serene Republic diesen Allroundstil vorantreibt. Während man sein Augenmerk also in kontinental Europa und den USA auf Altbewährtes legt, bringen die Außenseiter aus der Not geboren den frischen Wind. Vor diesem Hintergrund ist auch die eigene Beschreibung der Architecture In Helsinki ganz klar; "A group of people with influences and tastes spanning the last 183 years of pop music, coupled with the isolation of Australia."

Die zwölf Stücke, die letzten Endes auf "In Case We Die" zu finden sind, scheinen allesamt nur Momentaufnahmen von sich selbst zu sein. Was zunächst widersprüchlich klingen mag, ist aber nur die dynamische Arbeitsweise des Oktetts. Während Cameron Bird den Großteil der Stücke schreibt, entwickeln sich diese im Laufe der Zeit durch das jeweilige Zutun der Beteiligten und ihrer Instrumente. So kann es schon einmal dazu kommen, dass ein Song zunächst nach Fatboy Slim klingt, später eher nach einem Beach Boys und Animal Collective Mix und zu guter Letzt zu einem "enrico-moriconesquen Epos mit cheesy Soundeffekten" heranreift. Das sagt zumindest James Cecil über Nevereverdid, dem ersten Stück des Albums.

Alles in allem überrascht die Platte immer wieder aufs Neue, sei es aufgrund der vielen kleinen Details, welche man erst mit der Zeit entdeckt, oder der abwechslungsreichen Gesangs- und Melodieführung und nicht zuletzt wegen der Instrumentenvielfalt, welche man in diesen Konstellationen – Marimba, Saxophon, Flöte und Wurlitzer E-Piano in Need To Shout - wirklich selten zu hören bekommt. Trotzdem stößt man sich das ein oder andere Mal auch an eben diesen charmanten Kanten. Vielleicht auch, weil etwas zuviel Melodie in jedem Stück steckt, ein Übermaß an Impulsivität aus ihnen herausplatzt, lange nachdem sich das Sättigungsgefühl bereits eingestellt hat.
foto: aih



architecture in helsinki
"arms down"
moshi moshi records 2006 cd
architecture in helsinki

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Sonntag Nachmittag [Januar 2006]










fotos: manuel kaufmann

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Bilderdisko [Idioteque]

Take the money and run.















"We are not scaremongering
This is really happening
Mobiles Squirking
Mobiles Chirping
Take The Money And Run"


"Idioteque"

Radiohead
aus: "Kid A"
Parlaphone, 2000
Umgesetzt von
Ansgar Dlugos
Münster


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Sonntag Nachmittag [Dezember 2005]









fotos: manuel kaufmann

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David Sowka [Schätzchen, Verfälschen Wir Die Geschichte]

"Zynismus ist die Kunst, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten", konstatierte Oscar Wilde. Der junge Österreicher David Sowka überspitzt diese Betrachtung und macht sie zum Programm in seinem ersten Buch.


"nicht nur das buch ist super, der autor sieht auch noch super aus."
(david sowka)


Betrachtet man die vielen Nischen der Popkultur wird schnell klar, dass es besonders schwer für jene Akteure ist, die sich im Bereich der Literatur bewegen wollen. Musikalisch kann man sich dem potentiell begeisterten Hörer als Support Band nähern oder seine Musik zum download im Internet anbieten. Auch visuelle Ideen können über das Internet veröffentlicht, Ausstellungen an den unwahrscheinlichsten Orten veranstaltet oder Werke im Foyer des lokalen Kulturzentrums ausgehangen werden. Bücher hingegen fristen aufgrund ihrer weniger raschen Konsumierbarkeit immer mehr das Dasein einer Randerscheinung, was ihnen weder gut zu Gesicht steht noch würdig erscheint.

Einen solchen Bereich der kreativen Entfaltung hat auch der junge Österreicher David Sowka gewählt, der nach Beiträgen für die Satire Zeitschrift Titanic und als Redakteur des Online Magazins Raketa.at jetzt sein erstes eigenes Buch veröffentlicht. "Schätzchen, Verfälschen Wir Die Geschichte" ist eine Sammlung von skurrilen Kurzgeschichten, Lebensweisheiten, Anekdoten und Anachronismen. Letter-Konglomerate nennt es der Buchrücken und verbindet die Attribute "knallharte Romantik“ und "herzzerreißende Brutalität", den Inhalt treffend widerspiegelnd.

Meist spielen bodenständige Charaktere die Hauptrolle in den Geschichten; Metzger, Polizisten, Bankbeamte, Bauern oder Rentner. Plump wirken sie in ihrem Umfeld und Sowka reduziert sie ganz beliebig auf wesentliche Merkmale. Und auf unterschwellige Triebe. Mordlust, Neid und Habgier werden des Öfteren so arglos beiläufig geschildert, wie der Besuch beim McDrive – an welchem überraschend Helmut Schmidt bedient – oder das Horoskop. Zu keiner Zeit wandelt der Autor aber auf Pfaden der Kriminalliteratur. "Diese vielen Leichen sind wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass einige Geschichten das ganze Leben des Protagonisten beschreiben und da gehört auch der Tod dazu", verdeutlicht Sowka. "Und weil ich beim Schreiben gerne mit dramaturgischen Brüchen arbeite, ist der Tod auch ein gutes Stilmittel."

Die Wortspiele, verdrehten Ansichten und haarsträubenden Argumente sind ein Genuss. "Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten", zitiert er die altbackene Pädagogenweisheit unter der Überschrift "Fragen kostet nichts". "Nach langen Recherchen bin ich zu dem Befund gekommen, dass diese Aussage richtig ist. Nehmen wir als Fallbeispiel Joseph Goebbles. Er fragte 1943 im Berliner Sportpalast, ob die Zuhörer nicht einen totalen Krieg wollten. Die Frage an sich ist nicht dumm. Es war eine Frage. Die Antwort war dann schon eher dumm, aber hinterher weiß man ja immer alles besser." Eine entwaffnende Betrachtung die Sowka mit einfachster Sprache macht und damit oft Dinge ganz naiv auf den Punkt bringt. "Leider ist es so, dass sich die meisten Menschen dumm halten", erläutert er auf die Frage nach dem Bezug seiner proletenhaft skizzierten, tumben Gesellschaft zur real Existierenden. "Ansonsten wäre die hohe Auflage der Bild in Deutschland und der Kronen Zeitung in Österreich nicht verständlich. Wenn sich die Menschen bilden würden gäbe es auch nicht für Paris Hilton 86.300.000 und bei Elfriede Jelinek nur 1.690.000 Treffer bei Google. Sogar so außergewöhnliche und bekannte Persönlichkeiten wie Fidel Castro liefern um 74.100.000 weniger Ergebnisse als Paris Hilton. Ist das nicht schockierend?"

Neben diesen besonderen Betrachtungen der Alltäglichkeiten konfrontiert der 1986 in Wien geborene Sowka in einer seiner stärksten Erzählungen auch Jesus (Christoph) mit den Banalitäten unserer Gegenwart, stellt ihn homosexuellen Priestern gegenüber, zeitgenössischen Haarmoden und auch der Frage, ob man Jesus jetzt duzen oder siezen solle. Gerade zur jetzigen Zeit, in der sich überspitzte religiöse Äußerungen von der Zensur bedrängt sehen, erscheint "Schätzchen, Verfälschen Wir Die Geschichte" die gesamte Diskussion zu einer Farce zu machen. Vielleicht zu Recht? "Theoretisch bin ich katholisch. Ich bin getauft. Aber ich bin aus der Kirche ausgetreten. Wie man an meinen Texten sieht bin ich mit der Politik der katholischen Kirche nicht einverstanden. Gegen das Christentum an sich habe ich aber nichts. Jesus war ein Revolutionär und ein guter Mensch, aber ich finde nicht, dass die Kirche ihn verkörpert", beäugt Sowka kritisch. "Heutzutage wäre Jesus als Linkspopulist verschrien und von der Kirche gehasst."

Dieses satirische Polemisieren gegen Kirche, Staat, Politik und Gesellschaft zieht sich durch weite Teile des Buches. Was zunächst äußerst amüsant und überraschend wirkt, nutzt sich mit der Zeit jedoch ab. Viele der Handlungen verlaufen nach ähnlichen Mustern, der Ausgang der Geschichten lässt sich immer schneller erahnen, wenn auch nicht im Detail, so doch zumindest in seiner Absurdität. Der erfrischend groteske Humor schafft es nicht über das ganze Buch hinweg zu überzeugen, wird hin und wieder von flachen Scherzen knapp ober- oder unterhalb der Gürtellinie verwässert. Rechtschreibfehler als Bewertungskriterium anzuführen sparen wir hier mal aus. Nichtsdestotrotz sind viele der Geschichten besonders bei der ersten Konfrontation erhellend. Zur gelegentlichen Lektüre scheint mir "Schätzchen, Verfälschen Wir Die Geschichte" wunderbar geeignet, zum kurzen Innehalten und um über Dinge zu lachen, über die man sich sonst nur grämt oder dafür in den Keller gehen muss.
foto: david sowka


david sowka
"schätzchen, verfälschen wir die geschichte"
novum verlag 2005

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Sonntag Nachmittag [November 2005]










fotos: manuel kaufmann

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