Black Jack?
Erdige Rockmusik?
Lo-Fi-Fnk?
Wie soll das denn bitte funktionieren?
(leo drougge)Elektro-Pop ist der letzte Schrei, er ist neben der britischen Retro Rock 'n' Roll Welle offensichtlich das Gebot der Stunde. Ein Act spriesst neben dem anderen aus dem Boden, wie der Samen, der lange im Boden lag, auf einmal die Bodenkrume durchbricht und sich vor aller Augen zu einer Pflanze entwickelt. Der Vergleich hinkt zugegebenermaßen, denn Scheinwerferlicht ist kein Qualitätssiegel und im Untergrund gedeiht viel Wunderbares, das niemals größere Aufmerksamkeit erregt. Das schwedische Duo Lo-Fi-Fnk könnte aber diesen Weg gehen, den akut eine längere Europa- und US-Tour von September bis November abzeichnet. Von dieser Tour blieb auch Helsinki nicht verschont. Seltener als andere europäischen Metropolen kommt die finnische Hauptstadt in den Genuss internationaler Bands und Kuenstler, so zeichnet sie sich aus subkultureller Perspektive zwar durch einen hohen Hipness-Faktor aus, doch geographisch gesehen befindet sich die Stadt eindeutig in einer Randlage.
Rahmen der Veranstaltung war der Kuningasklubi, eine monatliche Einrichtung in Helsinkis dienstältestem Rockschuppen Tavastia. Zumeist kleinere Acts aus Europa oder Übersee spielen gemeinsam mit einer lokalen Band, das Konzept erscheint auf den ersten Blick nicht gerade neu. Aber es ist wirksam, um auch unbekannte Bands finanzieren zu können, deren Reisekosten für einen einzigen Auftritt in Finnland nicht gerade gering sind. Und so kommen an diesem Abend über 400 Menschen, nicht zuletzt auch wegen dem finnischen Support Risto. Deren Brei aus erdiger Rockmusik in ihrer unangenehmsten Form und leicht jazzig angehauchtem Muckertum wirkt eintönig und uninspiriert. Die meisten Anwesenden sind vom Auftritt allerdings sichtlich begeistert. Der Hinweis, dass die (finnischen) Texte sehr wichtig für das Verständnis der Band sind, ist ein guter Anlass um sich doch lieber an der Bar im Vorraum zu flüchten, wohin das Geschehen auf der Bühne unnötigerweise mit Hilfe von Flachbildschirmen übertragen wird. Noch absurder erscheint allerdings der Black-Jack-Tisch, hinter dem tatsächlich ein Croupier im Smoking sitzt. Doch in einem Land, wo selbst in Supermärkten Glücksspielautomaten stehen, passen sich eben auch mittelgroße Clubs und Discos den realen Verhältnissen an.
An Kuriositäten mangelt es dem Abend wirklich nicht: Risto begeistern die Zuhörer so sehr, dass sie geschlagene 90 Minuten auf der Bühne stehen und spielen, als könnten sie damit eine imaginäre Sperrstunde noch ein wenig hinauszögern. Irgendwann beenden sie ihren Auftritt dann doch und das Publikum in den ersten fünf Reihen wird innerhalb kürzester Zeit komplett ausgewechselt. So verschieden die auftretenden Bands, so unterschiedlich ist auch das Erscheinungsbild der Zuhörer. Doch niemand stört sich an der musikalischen Mischung, sie wirkt geradezu selbstverständlich und scheint für die meisten zu funktionieren. Ein paar Anwesende können den Auftritt von Lo-Fi-Fnk kaum erwarten, bereits in der Umbaupause beginnen sie zu tanzen, während der DJ den Lautstärkeregler ziemlich weit nach oben schiebt. Als dann die Schweden dann die Bühne treten, bricht sofort ein kleiner Jubelsturm aus, vom vielbeschworenen kühlen skandinavischen Gemüt keine Spur.
Die beiden Jungspunde sind kaum über 20 Jahre alt, zu manchen Clubs in Helsinki hätten sie aufgrund der restriktiven Alterbegrenzung wohl noch nicht einmal Zutritt. Doch auf der Bühne sind sie genau richtig. Völlig unverkrampft und mit einer riesigen Portion guter Laune bedienen sie elektronische Drums, Synthesizer und Laptops, unterstützt von einer kaum älteren Bassistin.
"You got me feeling high, you got me from the low!"
Ein bis auf Gesang und einzelne Bassläufe vollständig digitales Liveset wird initiiert, Lo-Fi-Fnk sind quasi die Antipode zu Risto. Nicht Rock'n'Roll sondern der Funk bestimmt den Groove, dem altbackenen und zuweilen traditionalistisch anmutenden Rock wird eine gehörige Portion urbaner Freshness entgegengesetzt. Die musikalischen Wurzeln heißen Pet Shop Boys und Soft Cell, doch angekommen sind sie im 21. Jahrhundert. Als ersten Song feuern Lo-Fi-Fnk mit City direkt ihre bekannteste Songgranate ab, anstatt wie andere Bands damit bis zum Schluss zu warten. Dieses Auftreten hat Stil. Ausgelassen feiern sie mit dem Publikum eine große Party, wirken dabei aber weder routiniert noch abgehoben. Die Musik geht direkt in die Beine, die Stimmung wird immer ausgelassener, auf und vor der Bühne wird ordentlich getanzt. Elektronische Soundästhetik wird mit klassischem Songwriting gekreuzt, ein Hybrid mit extremem Genussfaktor. Ob Adore, Boylife oder End, der Spaßfaktor wird mit jedem Song konstant hochgehalten. Vor allem ist es aber auch der ungezwungene Auftritt der Schweden, welcher die Grenze zwischen Band und Publikum zumindest in den Köpfen verwischen lässt. Nach einer knappen Stunde ist die Show zu Ende, Lo-Fi-Fnk verlassen die Bühne, um nur kurze Zeit später auf der Tanzfläche weiterzufeiern. Vielleicht ist es auch gerade diese Tatsache, die ihrer Live-Performance so einen wunderbaren Charakter verleiht: Ihre Auftritte finden aus reinem Lustempfinden statt und dem Willen, Spaß auf einer guten Party zu haben. Umso besser, wenn sie dafür auch noch der Katalysator sind.
foto: lo-fi-fnk
lo-fi-fnk
risto
tavastia
Lo-Fi-Fnk [Helsinki, 30.09.2006]
Records&Me
Im Sommer 2004 hatte die dänische Band Cartridge eine Autopanne, die sie auf der Reise in den Süden bereits in Hamburg aufhalten sollte. Solche Ereignisse sind oft wenig rühmlich, noch weniger erfreulich und schon gar nicht erinnerungswürdig. Schließlich geschieht dies doch jedem irgendwann einmal.
"champagne to all our elder female guests."
(like a stuntman, hairy diamond breats)Mit dieser besonderen Autopanne in jenem Sommer hängt jedoch unweigerlich die Gründung des jungen Hamburger Labels Records&Me zusammen. Hannes Langner – Label Chef, wenn man so will – traf so auf besagte Band, verliebte sich in deren Musik und entschloss sich damals gemeinsam mit einem Freund dazu, den Kampf gegen die Windmühlen der Musikindustrie aufnehmen zu wollen.
Heute, gut zwei Jahre später, kann das Label bereits auf einige bemerkenswerte Platten zurückblicken. Aktuell sind da zum Beispiel das Debüt Album besagter Band Cartridge – "Enfant Terrible" -, dass durch Abwechslung, ausgereiftes Songwriting und vor allem dem charismatischen Gesang von Mathias Wullum Nielsen überzeugen kann. Die Marburger Band Tent hingegen, von der Presse mit Vorschusslorbeeren für ihre Debüt EP "Do Something" bedacht, verliert sich leider eher im allgegenwärtigen Schrei nach schlichtem Uptempo Indierock. Der Schritt zu Figurines, Maximo Park, The Killers etc. ist nicht weit, was dem Label zwar einige verdiente Aufmerksamkeit bescheren dürfte, jedoch ist die Veröffentlichung an sich eher belanglos; Der Griff zu den „Originalen“ – wenn man so will – liegt näher. Dennoch muss man gestehen, dass ein so dichtes Debüt selten sein dürfte.
Was das Frankfurter Quartett Like A Stuntman wiederum anbelangt, so darf man deren aktuelle EP "Stan Places" getrost jedem ans Herz legen! Die Sozialisation in den von Pavement dominierten Neunzigern des letzten Jahrtausends hört man hier und da durch, aber trotzdem bleibt die Band eigenständig genug, um sich klar abzusetzen. Wunderbar vereint man in den Songs den lakonischen Gesang von Sven Fritz mit akustischer und elektronischer Spielweise, schwebt anmutig zwischen LoFi Pop und sich dekonstruierenden Soundspielereien die an Tunng oder die Books erinnern, denen aber dennoch ein klar strukturiertes Songwriting obliegt. Dabei bleiben sie intelligent genug über jede Referenzhölle erhaben zu sein und sich so wenig um gängige Klischees zu bemühen, wie man es sich nur wünschen kann. Und obwohl sich Like A Stuntman kaum über die 3 Minuten Grenze hinwegbewegen, verzichten sie nicht auf einen langsamen, verschachtelten und detailverliebten Aufbau eines jeden ihrer Stücke. Awesome!
Was dennoch bei allen drei angesprochenen Bands deutlich wird, ist, dass in jedem Fall mit Liebe zur Musik gearbeitet wird. Hingabe. Intimität. All das. Records & Me eben. So klingt der Labelname selbst nach eben jener sehr persönlichen Beziehung zwischen dem Musiknerd und seiner Plattensammlung. Der gleiche Eindruck wird auch vermittelt, wenn man sich auf die Homepage des Labels begibt und dort von dezenten, aber aussagekräftigen Fotos empfangen wird.
Woher stammt der Name, bzw. was bedeutet er für dich, Hannes?
"Im Grunde hast du die Antwort ja schon gegeben. Es geht nicht nur um die Musik, sondern auch um den Tonträger als solchen. Zwar mag das in diesen Zeiten etwas merkwürdig, vielleicht sogar naiv wirken, aber für mich spielen Tonträger nach wie vor eine große Rolle. Natürlich geht es immer in erster Linie um die Musik, ganz klar. Der Tonträger hat aber seit der Einführung der CD, insbesondere aber natürlich in den letzten Jahren, deutlich an Bedeutung verloren. Ein schönes Artwork sagt eine Menge über eine Band aus und kann daher auch dazu beitragen die Musik vielleicht besser zu verstehen. Leider legen da in den letzten Jahren viel weniger Künstler wert drauf, deshalb verliert die CD weiter an Bedeutung. Dazu trägt natürlich auch das Format CD bei. Da ist ganz einfach weniger Platz als beispielsweise noch auf einem Schallplatten-Cover. Dennoch hat man auch bei der CD die Möglichkeit den Tonträger liebevoller zu gestalten als die meisten Künstler es tun. Das soll gar keine Kritik sein, wenn ein Künstler oder eine Band da keinen Wert drauf legt, dann ist das eben so. Ich finde es aber schade. Meine CD Veröffentlichungen sind bisher allesamt recht aufwendig gestaltete Digipacs. Und Meine Bands finden das großartig, geben sich mit dem Artwork immer viel Mühe und nutzen auch dieses Medium um ihren Stil zu präsentieren."
Als ich mich letztens mit Ilias von SeaYou Records unterhielt, erklärte mir dieser, dass er eigentlich gar kein Label betreiben wollte. Betrachtet man deine Geschichte, sieht das ja auch alles andere als nach von langer Hand geplant aus. Wie kommt es, dass dann am Ende doch ein Label dabei heraus kommt?
"Auch bei mir war das Zufall. Zu dem Zeitpunk, als ich Cartridge kennenlernte war ich zwar bereits Praktikant bei einer großen Plattenfirma, aber auch das nur, weil mir dieser Platz von einem Freund vermittelt wurde und ich nicht wusste was ich sonst machen sollte. Als ich Cartridge dann traf wusste ich sofort, dass ich diese junge Band unterstützen wollte. Da lag es einfach auf der Hand mit einem Freund die Ersparnisse zusammenzukratzen und eine Platte zu veröffentlichen. Allerdings sollte es ursprünglich bei dieser Platte, oder zumindest dieser Band bleiben. Irgendwie lief es dann immer weiter, das Feedback war von allen Seiten so positiv, dass wir ziemlich schnell vor der Frage standen, ob wir das Label nicht ein wenig „ernsthafter“ betreiben wollten. Lennart, mit dem ich bei den ersten beiden Veröffentlichungen zusammen gearbeitet hatte, wollte sich vernünftigerweise lieber seinem Studium widmen und so habe ich dann, vielleicht auch mangels Alternativen, gesagt: gut, dann versuch ich das jetzt einfach mal allein. Mit PIAS als Vertrieb hatte ich dann natürlich auch die Möglichkeiten dazu. Heute ist Records&Me ein Vollzeit-Job, auch wenn ich noch nicht davon leben kann."
Dein initiales Zusammentreffen mit Cartridge ist eine dieser Geschichten, die einem Label einen äußerst angenehmen Charme verleihen können. Wie kamen die Kollaborationen mit Tent und Like A Stuntman zustande?
"Christian von Like A Stuntman arbeitet zusammen mit einigen meiner Freunde bei Station 17, einer Band mit behinderten Menschen. So hab ich sie kennengelernt. Als ich Like A Stuntman dann das erste Mal live sah war sofort klar, dass ich diese Band bei Records&Me haben wollte. Zum Einen passte es menschlich sofort, zum Anderen haut einen diese Band live einfach um! Bei Station 17 arbeiten übrigens auch zwei Bandmitglieder von The Sea, die im Frühjahr ihre erste Single bei mir veröffentlichen werden. Tent hat mir ein Freund empfohlen. Auch da bin ich auf’s Konzert gegangen, hab mir die Band angehört; Es wurde Bier getrunken, am nächsten Tag Kaffee... Auch da war schnell klar, dass wir sehr ähnliche Vorstellungen haben und vor allem, dass wir uns verstehen. So spektakuläre Geschichten wie bei Cartridge kann ich da leider nicht bieten."
Das Wort "Indie" erscheint heute ja mehr und mehr zu einem leeren Begriff zu werden. Dennoch hat es im Grunde sehr viel mit Idealismus und DIY Attitüde zu tun. Werte, die man im "Musikgeschäft" allemal mit stolz hochhalten darf. Wie gehst du heute mit dem Begriff Indie um und was bedeutet er für dich und dein Label?
"Natürlich ist 'Indie' mittlerweile in erster Linie eine Schublade. Für mich bedeutet es aber, im Bezug auf Records&Me, dass wir machen können worauf wir Lust haben. Es gibt jede Menge Regeln die man bei einer Veröffentlichung beachten sollte. Der Begriff „Indie“ erlaubt mir aber auch mich über vieles hinwegzusetzen und eben unabhängig von diesen Regeln mein Ding durchzuziehen. Ich bin alles andere als Experte in der Musikbranche und habe auch kaum Erfahrungen. Bei Recrods&Me wird einfach gemacht was alle für sinnvoll halten. Bisher klappt das ganz gut."
Wie ist das Verhältnis von Label und individueller Band? Und wie ist vielleicht auch das Verhältnis von dir persönlich zu den Bands, falls das nicht zu indiskret ist?
"Da wir ja erst seit kurzem wieder zu zweit bei Records&Me sind, ist mein persönliches Verhältnis eigentlich gleichzusetzen mit dem von Records&Me zu den Bands. Ganz einfach auch, weil mir ein persönlich gutes Verhältnis zu den Bands wichtig ist. Mit Cartridge verbindet ich in erster Linie Freundschaft und erst dann eine Art „Geschäftsbeziehung“. Wobei Geschäftsbeziehung hier ohnehin kein gutes Wort ist. Ich würde eher Partnerschaft sagen, da keiner Entscheidungen ohne Einwilligung des anderen trifft. Genau so ist es auch bei Like A Stuntman und Tent. In erster Linie sind wir Freunde. Das ist mir auch sehr wichtig, denn sonst würde mir dieser Job keinen Spaß machen. Zwar bringt das natürlich gelegentlich auch Probleme mit sich, letztendlich haben wir aber alle die gleichen Vorstellungen von dem was wir gemeinsam erreichen wollen und können. Konflikte über beispielsweise Vorgehensweisen lassen sich da schnell klären. Vertrauen und gegenseitiger Respekt sind dafür aber sehr wichtig."
foto: lisa notzke
records&me
cartridge
tent
like a stuntman
Reeperbahnfestival [Hamburg, 21.-23.09.2006]
Das erste Reeperbahnfestival zu Hamburg.
Eindrücke des vom texanischen South By Southwest inspirierten Festivals, von Donnerstag Abend bis Freitag Nacht in Bildern festgehalten.
(kritischer besucher)
Was bleibt ist eine gute Idee mit verbesserungswürdiger Umsetzung und dennoch angenehmer Atmosphäre.
The Album Leaf [Into The Blue Again]
„Into the Blue Again“, das neue Werk von The Album Leaf, ist keineswegs eine einfache Platte. Es ist schon schwierig, die passende Gelegenheit, den Moment zu finden, zu dem diese Musik ganz eindeutig passt – so wie Jack Johnson nur bei Sonne und Fröhlichkeit gehört werden kann und Coldplay fast gezwungenermaßen melancholisch macht. Für „Into the Blue Again“ muss man sich auf Reisen begeben. Und dann aufdrehen.
"in the air i flew / through the clouds i fall."
(always for you)Hinter dem kryptischen, einem Chopin Stück entnommenen Bandnamen The Album Leaf, verbirgt sich der Multiinstrumentalist Jimmy LaValle. Er veröffentlichte seit 1999 unter dieser Kennung bereits drei Alben, von denen die beiden ersten allerdings bei weitem zu wenig Aufmerksamkeit bekamen. Immerhin hörten aber Sigur Rós von dem bärtigen Kalifornier und luden ihn ein, Support ihrer US-Tour zu sein. Anschließend holten sie den Künstler nach Island, um dort mit ihm sein drittes Album "In A Safe Place" aufzunehmen, das sowohl von Kritikern als auch Fans gefeiert wurde. Letztere vermehrten sich stark, als die Platte dann noch in nicht weniger als sechs Folgen der amerikanischen Erfolgsserie O.C. California zu Gehör kam. Das brachte allerdings auch Probleme mit sich: "Viele langjährige Fans sprachen von Ausverkauf oder so. Dabei ging es mir nie darum, viel Geld zu verdienen, sondern die Musik machen zu können, die ich mag", sagt LaValle.
Ohne viel Zeit verstreichen zu lassen, kehrte er dann ins Sigur Rós-eigene Studio, einem ehemaligen Swimmingpool, zurück – into the blue again quasi - um dort ein neues, wunderbares Werk zu schaffen. Und beide Fanlager, sowohl die Fernsehzuschauer als auch das alteingesessene Elektro-Publikum, dürften damit mehr als nur zufrieden sein: Konsequent wird hier fortgesetzt, was auf "In A Safe Place" begann, ohne dabei auf Massenkompatibilität abzuzielen.
Man muss sich schon Zeit nehmen für diese Musik, allein, um eine passende Umgebung für sie zu finden. LaValle, der fast alle Instrumente selbst einspielte, scheint sich Klangfelder zu schaffen auf Basis von langen Synthieakkorden und schlichten Beats, die eigentlich nicht besonders weit gefasst sind. Auf diesen Feldern tobt er sicht aus, vornehmlich mit elektronischen Tasten, gern aber auch durch Streicher und sanfte Gitarren, und scheint so doch wieder unendliche Weiten zu eröffnen. Dazu kommt immer wieder dieser dumpfe, schwummrige Unterwassereffekt – vielleicht hat das Swimmingpoolstudio tatsächlich seinen Teil beigetragen.
"Into The Blue Again" ist aber keineswegs verschwimmende Musik, sondern eine klar definierte. Sie ist treibend, immer in Bewegung, in eine bestimmte Richtung und mit einem klaren Ziel, das sie aber doch nie zu erreichen scheint. Dabei kommt sie nie aus der Ruhe und hat oftmals einen wehmütigen Hauch, als steckte sie voller Erinnerungen. Das Stück Red-Eye beispielsweise scheint eine Frage zu stellen, ohne Antworten zu erhalten, und am Ende, nach sechs Minuten, doch irgendwie weitergekommen zu sein. So sind alle zehn Tracks der Platte. Niemals gleich! Aber alle tragen LaValles eindeutige Handschrift. Grazile Elektronik ist das, zu der man sich trotzdem auch eine schwebende Ballerina vorstellen kann.
Beim Hören sollte man sich bewegen wie die Musik selbst, man sollte bewegt werden, in einem Zug oder Auto oder Flugzeug. Denn schon vor dem geistigen Auge ziehen Landschaften und Lichter vorbei, wenn der Opener The Light erklingt, er ist wie eine Reise in der Dunkelheit, sei es ganz früh morgens oder spät in der Nacht. Im Verlauf der Platte scheint manchmal geradezu die Sonne aufzugehen, irgendwo weit weg am Horizont. Jimmy LaValle muss mit sich im Reinen gewesen sein, als er das schuf, und gleichzeitig gewusst haben, dass alles weitergeht, gut weitergeht, ohne jedoch zu wissen, wo er am Schluss landet. Eine Reise nun mal, ins Glück vielleicht und auf alle Fälle durch viele kleine Glücksmomente. Er muss sehr zufrieden gewesen sein.
Das können alles völlig falsche Gedanken sein. Vielleicht war es ganz anders. Aber das ist eine der vielen Qualitäten von "Into The Blue Again": Es stupst die Fantasie an und entführt in Kopfwelten, nimmt mit auf eine Reise und lässt ausführlich träumen. Selbst bei den wenigen Tracks, in denen LaValle die (eigene!) Stimme erhebt, lassen die Texte noch mächtig Interpretationsspielraum.
Also, den Kopf freimachen und Platz schaffen für zehn große Lieder. Und dann auf Reisen gehen, vielleicht nach Island, wo es diesen alten Swimmingpool gibt.
foto: bill zelman
the album leaf
"into the blue again"
city slang 2006 cd
the album leaf
Seayou Records
Wien. Die Spex attributierte die österreichische Hauptstadt mal als "Hochburg des gepflegten Abhängens in Helmut Lang Anzügen" und "Hauptstadt der selbstzufriedenen Langsamkeit“. Die Zeiten ändern sich selbstverständlich und der elitäre Habitus und die Vorherrschaft downbeatesker Klänge scheinen zu Gunsten neuer Ideen und Einflüssen abgestuft worden zu sein.
"i've got a mothfull of promises, i've got a handfu of lousy kisses."
(paper bird, mouthful)
Erwähntes Vinyl beherbergt vier Songs der Wiener Band Go Die Big City! (bei der Ilias selbst Floor Tom und Snare Drum spielt, "was mich in die glückliche Position bringt am lautesten zu sein"), die man neben dem wunderbaren Namen auch noch für ihre innovative Musik beglückwünschen darf. Um sich selbst zu helfen, darf man bei der Beschreibung wohl am ehesten auf das amerikanische Go! Team und die australischen Architecture In Helsinki zurückgreifen, verquickt mit einer Spur Anti Folk. Ohne dabei auszulassen, dass man sich von ersteren die kreative Respektlosigkeit gegenüber den Altmeistern der Popmusik, von den Architekten die ungenierte Integration unterschiedlichster Instrumente entliehen hat. Wenn da zwei Blockflöten aufeinander treffen, wie andernorts E-Gitarren, klingt das nach Dilettantismus im ursprünglichsten Sinne und eben nach Anti Folk Schule; man macht Musik um ihrer selbst willen. Ungestörte Selbstexpression. "We don’t need any reason" (Supernatural Kids Rule), singt man dann auch folgerichtig. Yeah!
Die zweite Veröffentlichung bezieht sich auf Anna Kohlweis, die - neben einer äußert kreativen künstlerischen Tätigkeit - unter dem Pseudonym Paper Bird im Singer/Songwriter Universum verankert ist. Die ebenfalls zu den Wildfängen von Go Die Big City! gehörende Anna, zeigt auf ihrem Debüt Album eine ganz andere Seite ihrer musikalischen Ideen. Maßgeblich von der Akustikgitarre getragen, akzentuiert mit Flöte, Glockenspiel oder Fieldrecordings, beeindruckt sie vor allem durch ihren charismatischen Gesang, bei welchem sie sich als auffallendes Stilmittel immer wieder selbst mehrstimmig begleitet. Die Leidenschaft und Liebe zum Detail wird auch deutlich, wenn man das Cover zu "Peninsula" – vgl. die Luxushotelkette aus Hongkong (sic!) – betrachtet; Ein selbst gebastelter Schriftzug hängt zwischen zwei Bäumen, buntes Laub fliegt durch die Lüfte – alles ist artifiziell und doch bezaubernd homogen und natürlich. Großes Kompliment!
Überhaupt behält man bei Seayou alle Produktionsmaßnahmen in den eigenen Händen, was sich in liebevoll gestalteten Details ausdrückt. Dennoch kommt der Einstand als Label mit einer 7" einem finanziellen Selbstmord nahe. Ilias erklärt mir aber völlig selbstverständlich, dass er das Geld einfach hatte, da er Ende letzten Jahres viel mit seinem Projekt Vortex Rex unterwegs war und wenig stehende Kosten anfielen. "Ich habe ehrlich gesagt nicht so viel darüber nachgedacht. Ich fragte Go Die Big City! ob sie ihre Aufnahmen nicht veröffentlichen wollen und sie wollten das unbedingt als 7" machen.“ Und dann steckte er das Geld einfach in die Platte. Zum Glück.
Wenn man so will, prangt zurecht das Wort Independent über Seayou. Kannst du mit dem Begriff heute noch etwas anfangen? Auch im Bezug auf eure DIY Attitüde?
"Independent ist schon OK, auch wenn er mittlerweile einen altmodischen Touch hat. Ich will natürlich, dass möglichst viele Leute Zugang zu der Musik haben, die ich selber mache oder herausbringe. Mir ist aber schon wichtig, dass das in einem rahmen geschieht, in dem ich mich wohl fühle. Es ist cool mit Leuten zusammenarbeiten, die den gleichen sinn für Action und Ästhetik haben und die auf die gleiche Art Party machen."
Seayou und Fettkakao sind eng miteinander verwoben. Ihr verzichtet beide bislang auf Veröffentlichungen, die den vulgären Nerv der Zeit treffen; will sagen kein Retro Rock, keine Imagebands, keine Deutschpopallstars. Inwiefern siehst du die beiden Label als Möglichkeit für musikalische Verweigerer und Flüchtlinge?
"Sowohl ich als auch der Andi von Fettkakao haben glaub ich schon halbwegs genaue Vorstellungen von dem, was wir Veröffentlichen wollen. Das hat nicht wirklich was mit Musikrichtungen oder bestimmten Images zu tun. Man kann es schwer erklären, weil so viele Faktoren dabei wichtig sind. Ich lebe schon für Musik; Ich höre sie ständig und denke ständig daran. Ich will ehrlich gesagt auch nicht zu viel darüber nachdenken was ich grundsätzlich veröffentliche oder nicht. Was passiert, das passiert."
Wie wichtig ist die lokale Verankerung für euch und inwiefern tragt ihr vielleicht zu einem neuen Selbstverständnis, einer bestimmten Interpretation der Wiener Musikszene bei?
"Als ich mit dem ganzen angefangen habe vor ca. einem Jahr, wollte ich so etwas wie eine neue Infrastruktur schaffen; für mich, meine Homies, deren Musik und anderen Outputs. Ich hab schon länger gemeinsam mit freunden Konzerte für tourende Bands veranstaltet, die sonst in Wien niemand gemacht hätte. Von daher war das mit den Konzerten dann gar nicht schwer. Platten herausbringen war schon neu und ursprünglich auch gar nicht so geplant. Wien selber finde ich als Stadt schon sehr super, wenn man von dem zu kalten und langen Winter mal absieht. Vor allem in letzter zeit hat sich dort viel getan. Und ich bin noch immer oft überrascht von neuen, coolen Bands, Orten usw. Was wir machen ist ja in gewisser Weise schon irgendwie familiär. Deswegen weiß ich nicht, ob sich das in irgendeiner weise auf ein Selbstverständnis als Solches auswirkt."
Im Gegensatz zur überwiegend desolaten Radiolandschaft in Deutschland, lies euer öffentlich rechtlicher FM4 Go Die Big City! für eine Studio Session spielen. Wie kam es dazu und wie wichtig ist ein solcher Auftritt für euch als Band und für die Musikszene in Österreich?
"Das mit FM4 hat uns auf jeden Fall eine Menge geholfen und uns auch konzerttechnisch auf eine andere Ebene katapultiert. Es ist irgendwie lustig, wenn man die meiste Zeit seines Lebens in Squats, Jugendzentren und Wohnzimmer spielt und dann auf einmal auf riesigen Bühnen herumsteht. Ich glaube FM4 will durch den Soundpark österreichische Musik fördern, was eigentlich schon super ist. Und ich finde in der Tat, dass sich, wie eben gesagt, schon einiges getan hat im vergleich zu früher. Und FM4 hat durch seine große reichweite sicher einen Anteil daran."
Die beiden ersten Veröffentlichungen sind ja relativ gegensätzlich, wenn man sie rein formal und besetzungstechnisch betrachtet. Dennoch steckt viel Netzwerkarbeit dahinter. Was hat es mit dieser Gemeinschaft auf sich, mit den Bands und Solisten, die sich immer wieder gegenseitig supporten?
"Mir hat das ganze Feature Konzept aus dem Hip Hop sehr gut gefallen. Deshalb wollte ich das auf der Vortex Rex Platte auch so haben. Es macht mehr Spaß und man hat schon eine viel schönere Zeit während der Produktionszeit. Es gibt viele Gründe andere in seine Projekte mit einzubeziehen. Es hat sich eben in dem Zeitraum gut angefühlt und ich bin persönlich sehr froh, dass wir bis jetzt nur Sachen gemacht haben, die sich sehr natürlich angefühlt haben und nicht erzwungen wurden. Ich will mit Seayou kein Label sein, dass sich Stil technisch irgendwie beschränkt. So gesehen will ich dezidiert kein indie, lofi, oder was auch immer bis jetzt für Attribute gefallen sind, Label sein. Das schöne daran ist, dass sich alles entwickelt und dass niemand sagen kann, wie es das tut. Und das ist super spannend gerade. Ich wollte lange kein Label haben aber Go Die Big City! und Paper Bird haben das geändert und jetzt bekommt das alles irgendwie seinen eigenen Platz. Und mittlerweile ist das ja auch extrem viel Arbeit. Aber eben 'natürliche' Arbeit, die Spaß macht."
foto: anna kohlweis
sea your records
go die big city!
gdbc! bei fm4
paper bird
fettkakao records
vortex rex
Süddeutsche Zeitung [Diskothek]
Nach den literarischen und cineastischen Betrachtungen, geht die Redaktion des Süddeutsche Zeitung Magazin mit einer neuen, aufwendig produzierten Reihe auf die Geschichte der popkulturellen Entwicklung der letzten fünfzig Jahre ein.
"'stand by your man' drückt natürlich genau das aus,
was konservative männer 1968 hören wollten."
(tammy wynette über besagtes stück)Im Zeitalter der digitalen Datenverwaltung würde es beinahe wie ein überholtes Relikt erscheinen, dass man seine Plattensammlung akribisch ordnet, wenn es nicht die phonophilen Nerds gebe, von welcher Gruppe sich auch der Autor nicht distanzieren kann. Für diese Obsession gibt es die unterschiedlichsten Ordnungsprinzipien, sei es nun nach einem über-sichtlichen alphabetischen System, oder dem Charakter Rob Flemming aus Nick Hornbys Roman High Fidelity entsprechend: "Heute Abend schwebt mir etwas anderes vor, und ich versuche mich zu erinnern, in welcher Reihenfolge ich die Platten gekauft habe"; eine autobiographische Ordnung. Die SZ Magazin Redaktion der Süddeutschen Zeitung hat es sich nun zur Aufgabe gemacht eine, analog ihrer bereits etablierten und von anderen Zeitungen aufgegriffenen Bibliothek sowie der weniger Beachtung geschenkten Cinemathek, eine SZ Diskothek zu erstellen, bei welcher sie die Musik in einer chronologischen Ordnung erfassen. Weiter noch, die Redaktion unternimmt den Versuch, jedes einzelne Jahr, von 1955 bis 2004 einzeln zu betrachten, den pophistorischen Hintergrund aufzuführen und die, wie sie es nennen, "besten 20 Songs" eines jeden Jahres vorzustellen. Großspurig wie ein Noel Gallagher verkündet man so auch gern über sich selbst, dass diese "ultimative Anthologie der Popmusik [….] auf Jahre hin Maßstäbe setzen wird."
Der jeweils rund 80-seitige Band stellt das Jahr in fünf Teilen vor. Zunächst durch ein zusammenfassendes Essay, welches das Jahr selbst betrachtet, eine diesem angeschlossene Fotostrecke, ein, mit "Das Fundstück" bezeichneter Zeitungsartikel oder Interview aus dem jeweiligen Jahr, eine Vorstellung der, wie sie dargestellt werden, "20 besten Songs des Jahres", und zu guter letzt der im Buchrücken befindliche CD mit eben diesen Stücken, welche exklusiv für die SZ Diskothek kompiliert wurde.
Für die essayistische Bestandsaufnahme eines jeden Jahres hat die Süddeutsche Zeitung, neben ihren eigenen Feuilleton Redakteuren, den ein oder anderen bekannten Namen wie Hans Nieswandt oder Ralf Niemczyk gewinnen können. Innerhalb dieser sorgfältig recherchierten Abhandlung erfahren wir Offensichtlichkeiten, aber auch Zusammenhänge, die man so vielleicht noch nicht betrachten konnte. Der Band 1968 sieht die Welt im Aufruhr und setzt die zeitgenössische Popmusik in diesen gesellschaftlichen Kontext. "Rock 'n' Roll ist die Speerspitze unserer Attacke", wird dort John Sinclair, der Manager der Detroiter MC5 zitiert. "Mit unserer Musik ziehen wir nichts ahnenden Spießern das Geld aus der Tasche und machen ihre Kinder zu Revolutionären." Die unterschiedlichen politischen Strömungen des Jahres werden eingefangen, ihre gesellschaftliche Relevanz erfasst und schließlich die popkulturellen Bewegungen als plakative Auswirkungen dieser Hintergründe impliziert. Das "Popjahr" befand sich im Spannungsfeld zwischen zynisch ironischer Gesellschaftsbetrachtungen von Frank Zappa und seinen Mothers Of Invention, den gerade aus Indien zurückkehrenden Beatles, einem politisch desinteressierten Mick Jagger und einer popkulturellen Ohnmacht in Deutschland, die sich besonders durch Heintjes Spitzenbelegungen in der Hitparade abzeichnete; seine Stücke Mama und Heidschi Bumbeidschi dominierten das Jahr 1968 in der jungen Bundesrepublik. Das Jahr 2000 wird vor dem Hintergrund des anbrechenden Millenniums und den damit heraufbeschworenen Superlativen beleuchtet. Das Ausbleiben des Y2K Crashes sowie des Weltunterganges im Allgemeinen haben eine unspektakuläre Dekade der Revivals ausgelöst die bis heute anzuhalten scheint. Musikalisch bewegte man sich in unseren Gefilden zwischen US Mainstream HipHop, alternden Ikonen wie John Bon Jovi oder Santana und vor allem dem Erschließen eines neuen Marktes; Durchschnittsbürger werden aus einem provozierten TV Kult als Pseudostars in die hiesigen Charts geschleust und penetrieren mit Dauerrotation jeden Haushalt. Allen voran die Big Brother Epigonen Zlatko Trpkovski und sein Kumpel Jürgen. Ansonsten weiß Tobias Kniebe über den Untergang der Tauschbörse Napster zu berichten und den damit beginnenden Ansturm immer neuer Pear2Pear Programme, welche den aktuellen Untergang der Musikindustrie als florierende Geldquelle mit einläuteten.
Im Gegensatz zu den angelegten Fotoreihen, die teilweise mit bekannten Fotos aus den jeweiligen Jahren und kurzen Fotostrecken, wie protestierenden Studenten auf dem gesamten Globus daherkommen, weiß das "Fundstück" zu überraschen. Hier versucht man, das jeweilige Jahr in einem zeitgenössischen Blickwinkel zu betrachten. Interviews, wie jenes der deutschen Zeitschrift Konkret vom November 1968 mit Frank Zappa, in welchem dieser zum Ende flapsig mit der Frage "Übrigens, wollen Sie Antichrist sein?" konfrontiert wird, oder einem Artikel über OutKast aus dem britischen Guardian im Jahr 2000, schildern in ihrer Funktion als Zeitzeuge ein aktuelles Verständnis der Popkultur im jeweiligen Jahr, und dokumentieren über die Zeit hinweg, wie sich dieses Verständnis verändern sollte; von der subkulturellen Jugendkultur hin zu einem der ergiebigsten Kapitalströme bis zum aktuell anhaltenden Niedergang eben dieser Branche.
Den Kern der Anthologie dieser fünfzig Jahre Popgeschichte, bilden die 1000 Songs, welche es über die gesamte Serie hinweg zu entdecken gibt. "Nie ist Popmusik bisher ausführlicher und schöner gewürdigt worden", behauptet man von sich selbst. Zu jedem Jahr benennt die SZ Redaktion gemeinsam mit Musik Journalisten die 20 besten Stücke, wobei die Auswahl auf den zugehörigen CDs sich stets zwischen Songs welche für die Repräsentation des Jahres nicht offensichtlicher sein könnten, und einigen Überraschungen bewegt, da man gewillt ist, eine gute Übersicht über unterschiedlichste popkulturelle Strömungen zu liefern.
Was an dem Soundtrack zu oben erwähnter Nick Hornby Verfilmung enttäuschte, nämlich dass der größte Teil der Songs, welche in dem Buch angesprochen werden, dort nicht vertreten sind, fällt auch an der SZ Diskothek auf. Werden im Band 1968 Country Joe & The Fish, die Fugs, Frank Zappas Mothers Of Invention sowie die bereits benannten MC5 als die vier herausragenden Bands mit direktem politischen Ansatz gehuldigt, findet sich leider kein einziges Stück dieser auf der Kompilation wieder. In dieser Hinsicht darf man sich durchaus einen direkteren Bezug zwischen Essay und der Zusammenstellung der 20 Stücke wünschen, denn dieser Aspekt könnte der gesamten Reihe – wahrscheinlich aufgrund der bestehenden Kopierrechte – den veritablen Anspruch vereiteln.
Die Auswahl als solche kann dennoch überzeugen, bietet sie einen repräsentativen Querschnitt von dem, was gehört wurde und andererseits besser hätte gehört werden sollen. In der Ausgabe zum Jahr 2000 sind demnach sowohl Chartserfolge etwa von der verstorbenen Aaliyah, den mittlerweile zerstrittenen All Saints oder OutKast, andererseits jedoch auch Stücke von den fantastischen Calexico, den ewig unterschätzten Grandaddy, der provokanten Wahlberlinerin Peaches oder dem Weilheimer Console zu finden, welcher sich im Millennium Jahr an einen Remix des Tocotronic Stückes Freiburg wagte. Jeder Song wird kurz besprochen und die jeweiligen Umstände liebevoll rekonstruiert, in welchen er entstand. Gerade bei den frühen Jahren ergibt sich so für die jüngeren Generationen ein aufschlussreiches Nachschlagewerk, welches pophistorische Zusammenhänge aufzuschlüsseln weiß, auch wenn der enorme Umfang eines solchen Ansatzes selbstverständlich viele Momente unbeachtet lässt.
Selbst wenn ein so grenzenlos subjektiv belegter Versuch, wie die Zusammenstellung und Präsentation der größten und wichtigsten Stücke der letzten 50 Jahre Musikgeschichte stets zu polarisieren weiß, jeder zu beanstandende Lücken ausmachen kann und man sich gern über die Notwendigkeit und den Gehalt einer chronologischen Sammlung von Popmusik – vielleicht auch gerade vor dem Hintergrund der stagnierenden Umsätze im Zeitungsverkauf im Allgemeinen – streiten mag, scheint der SZ Redaktion eine veritable Großtat zu gelingen, von der man das ein oder andere Exemplar früher oder später in seinem Schrank wieder finden wird.
foto: sz diskothek
süddeutsche zeitung magazin
"diskothek"
50 jahre popmusik, ein jahr und seine songs
1955 bis 2004
süddeutsche zeitung verlag 2005-2006
Melt! Festival [Gräfenhainichen, 14.-16.07.2006]
Eine Symbiose zwischen Elektronik und Gitarre, nicht geringer ist der Anspruch des Melt!festivals. Denn was scheinbar nicht zusammengehört, kann doch mehr als die Summe der einzelnen Teile sein.
(neil tennant) “Yeah, I've been working a week and I'm just living for the weekend”, postulierten hard-fi vor knapp einem Jahr und sprachen damit aus, was nur zu viele Menschen leben: Während dem Wochenende finden die lebenswerten Momente statt, das eigentliche Leben weicht unter der Woche dem Zwang, selbiges durch Erwerbsarbeit zu finanzieren. Und je besser das Wochenende war, umso mehr wird man sich der Gegensätze bewusst. Doch manchmal kann man auch ein wenig von der Stimmung mitnehmen in den Trott des Alltags. Das Melt!wochenende war definitiv ein solches.
Der Name des vom Musikmagazin Intro veranstalteten Festivals ist Programm, denn hier werden schon zumindest atmosphärisch die Pole Arbeit und Freizeit aufgeweicht und miteinander vermengt. Die Bühnen werden umrahmt von gigantischen Braunkohlebaggern, die dereinst Symbole des Fortschritts waren und heute Zeugnis des vergangenen Industriezeitalters sind. 13.000 Menschen zogen nach Ferropolis, um ihr Wochende ausgerechnet an einem Ort zu verbringen, der wie kaum ein anderer für schwerste Arbeit und die Abhängigkeit des Menschen von Lohnarbeit steht.
Freilich ist Ferropolis ein ausgebautes Veranstaltungsgelände, doch dem Bann der riesigen Maschinen konnte sich niemand entziehen. Der Reiz des Festivals ergibt sich jedoch vor allem in Kombination mit dem musikalischen Anspruch, Elektronik und Gitarre miteinander zu verbinden. Dies äußerte sich dieses Jahr einmal mehr in einen phantastischen Line-Up: The Streets und Roni Size waren angekündigt, Phoenix und Jamie Lidell, Egoexpress und Blumfeld, Art Brut und 2manydj’s. Doch vor allem die beiden Headliner waren von besonders exquisitem Charakter: Die Pet Shop Boys bestritten ihr erstes Festival in Deutschland überhaupt und um den Auftritt von Aphex Twin hatte es bereits im Vorfeld viel rumort. Doch ob die angekündigten Acts auch tatsächlich eine genreübergreifende Symbiose bilden würden blieb abzuwarten.
Die Dekoration auf dem eigentlichen Festivalgelände fiel recht dezent aus, hier und da waren übergroße Discokugeln aufgehängt, nachts wurden die riesigen Bagger in verschiedenen Farben illuminiert. Stattdessen wurde man mehr oder weniger stark auf die Werbemaßnahmen der Sponsoren hingewiesen, zumal ein relativ großer Teil der Veranstaltungsfläche vom Backstage-Bereich eingenommen wurde. So konnte man aufdringlichen Werbehostessen kaum aus dem Weg gehen, höchstens mit Vehemenz ignorieren. Zwar ist das Sponsorentum ein notwendiges Übel, um ein Festival finanzieren zu können, doch schien der Veranstalter allzu sorglos mit diesem Thema umzugehen.
Hatten nachts zuvor noch Blitze den Himmel über Ferropolis hell erleuchtet, so war am Freitag nachmittags kein Wölkchen mehr am Himmel zu sehen. Das größtenteils betonierte Veranstaltungsgelände heizte sich auf und die ersten Acts konnten bei gefühlten Sauna Temperaturen bestaunt werden, wenn man denn rechtzeitig auf das Gelände kam. Grund dafür war die hoffnungslos unterbesetzte Eingangskontrolle, die den Einlass zeitweise zu einer einstündigen Aktion werden ließ. So konnten erst We Are Scientists vor einem annehmbar großen Publikum spielen.
Doch wer erst einmal auf dem Gelände war stand vor einem Luxusproblem: die Acts verteilten sich auf vier Bühnen, die fast alle gleichzeitig bespielt wurden. So musste man sich entscheiden zwischen Art Brut und Phoenix auf der Hauptbühne, den Infadels, Hot Chip und der Mediengruppe Telekommander auf der Gemini Stage, den Hush Puppies im Melt! Klub und schließlich Angie Reed und Erobique auf der Big Wheel Stage. Dank der Überschaubarkeit des Geländes lagen sämtliche Bühnen maximal 5 Minuten Fußweg auseinander, so dass man kaum an einen einzelnen Ort gebunden war.
Dennoch harrte eine große Menge auf der Gemini Stage aus, wo die Infadels mit dem Linecheck erst begannen, als sie schon längst hätten beginnen sollen. Ein Stau hatte eine pünktliche Ankunft verhindert und so mussten sie Ihr Set um eine zwanzig Minuten verkürzen. Umso energiegeladener war die Show, die Band stellte die Inkarnation des musikalischen Ansatzes des Melt!festivals. Verzerrte Gitarren und treibende Beats sind kein Widerspruch, sie können sogar eine wunderbare Symbiose eingehen.
Spielten bis in den späten Abend hauptsächlich Bands, so wurde es musikalisch nach Mitternacht zunehmend elektronischer. „In Germany we are festival virgins!“, rief Neil Tennant dem Publikum zu und unterstrich damit die Bedeutsamkeit des Auftritts der Pet Shop Boys. Psychological war das Introducing zu einem Hitfeuerwerk, bei dem tief in die historische Soundkiste gegriffen wurde. Große Klassiker wie Suburbia oder West End Girls wurden von einer schlichten aber wunderschönen Bühnenshow untermalt, ein stoffbespannter und aufklappbarer Kubus diente als Projektionswand und mehrere Tänzer sorgten für Bewegung. Kurz gesagt, es war ein fantastisches Erlebnis.
Anschließend schlug die Stunde der Djs: Ob Hell, Miss Kittin oder Moonbootica, ab jetzt wurde nur noch hemmungslos gefeiert. Das abschließende Highlight der Nacht waren allerdings Deichkind. Zwar ist man von diesen Trash-Helden schon einiges gewohnt. Aber wer hätte daran gedacht, dass sie um 4.30 Uhr morgens das Publikum dazu auffordern, die Hauptbühne zu stürmen und selbiges kommt dieser Aufforderung auch noch nach! Die Security war völlig überfordert, die Bühne zum Schluss völlig überfüllt.
Da hieß es anschließend erst einmal ausschlafen, doch bei strahlendem Sonnenschein ist dies leichter gesagt als getan. Also begaben sich einige Festivalbesucher samstags in den See, in dem dieses Jahr erstmalig gebadet werden durfte. Vermutlich verrichteten in diesem außerdem nicht Wenige ihre Notdurft, denn die Anzahl der Toiletten konnte man an einer Hand abzählen. Ebenso waren Abfalleimer fast nirgendwo zu sehen, man war scheinbar aufgefordert, seinen Müll einfach fallen zu lassen. Doch die organisatorischen Mängel fielen kaum mehr ins Gewicht, wenn man die zu erwartenden Auftritte am Samstag betrachtete.
Im Verlauf des Abends und Nacht wurde jedoch eines klar: Die Rockacts mussten gegenüber der Elektronik zwangsläufig den Kürzeren ziehen, denn bis in den späten Abend hinein entspannten sich die meisten Besucher eher und ließen die Auftritte gemütlich an sich vorüberziehen. So waren Bands wie die Editors, Blumfeld und Tomte nicht mehr als nettes Beiwerk im Programm. Einzig im kleinen Melt! Klub stiegen die Stimmungstemperaturen schnell über ein lauwarmes Fußbad hinaus an. Erlend Oye a.k.a. The Whitest Boy Alive wusste mit einem erstaunlich flotten Set zu überzeugen. Anschließend stand PeterLicht leibhaftig auf der Bühne, nur mit Gitarre und Keyboardbegleitung. Das Publikum war völlig außer sich vor Begeisterung, doch wurde einmal mehr deutlich, dass PeterLicht nicht die Ich-Maschine des jetzigen Jahrzehnts geschrieben hat. Mit dem Gestus eines Pädagogik-Studenten wurden hauptsächlich vom Lebensgefühl geprägte politische Halbwahrheiten in zugegebenermaßen gewitzte Texte verwandelt.
Wahre Begeisterungsstürme löste auch der Auftritt von Mike Skinner alias The Streets aus. Mit reanimiertem Sänger und Minibar auf der Bühne wurden die verschiedensten musikalischen Genres durch den Fleischwolf gedreht, ob Red Hot Chili Peppers oder die Pet Shop Boys, alles Partytaugliche wurde zitiert. Doch der mit am meisten Spannung erwartete Auftritt war jener von Aphex Twin. „Boo me off stage!“, hatte er kurz zuvor in einem Interview gefordert und er machte es dem Publikum in der Tat nicht einfach. Ein nicht enden wollendes Intro und eine minutenlang völlig dunkle Bühne erforderten viel Konzentration, bevor Aphex Twin ein immer wieder von Brüchen durchzogenes Set spielte, welches in den unterschiedlichsten elektronischen Gefilden wilderte. Spätestens als eine Gruppe von Rollstuhlfahrern die Bühne enterte und abfeierte, war auch beim Publikum das Eis gebrochen.
So glich der Auftritt des Elektrogurus einem riesigen gespannten Bogen, den er fast überspannt hätte, doch rechtzeitig ließ er die Sehne sausen und ergriff damit auch die Masse vor der Bühne. Wer sich mit dem Auftritt des Altmeisters nicht anfreunden konnte, hatte mit Egoexpress und den Soulwax Nite Versions noch immer mehrere Alternativen zur Auswahl. Letztere ließen es dann auch noch als 2manydj’s ordentlich krachen, nachdem bereits Superdiscount auf derselben Bühne eine hemmungslose Party gefeiert hatten.
Nicht enden wollte der finale Auftritt von Roni Size, dessen Drum’n’Bass-Klänge weit über die geplante Auftrittszeit hinaus in Ferropolis widerhallten, während die Sonne bereits am Horizont erschien.
Dies ist in jedem Fall was das Melt! von so vielen anderen Festivals unterscheidet. Es wird eine einzige große Sause gefeiert von und mit einem Publikum, wie es entsprechend der musikalischen Vielfalt unterschiedlicher kaum sein könnte. Trotz des relativ hohen Prollfaktors ging es in Ferropolis deutlich friedlicher zu, als auf so manchem Indiefestival. Vielleicht mag das auch den ganzen Drogen gelegen haben, die manch testosterongeschwängertem Macker die Aggressivität nahm, wohler und unbefangener hätte man sich jedenfalls kaum fühlen können. Wenn es nun auch mit dem Organisatorischen in Zukunft besser klappt, dann kann man sich wohl kaum ein schöneres Festival vorstellen. Denn musikalisch und menschlich funktioniert die Symbiose allemal.
foto: flickr user sint
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