Die Provinz als Lebensgefühl.
Slut veröffentlichen ihr vielleicht emotionalstes Album als Abschluss einer zehnjährigen Entwicklung.
(wasted)
Was ist eigentlich eine Provinz? Die Provinz ist eine Region, welche vom Zentrum territorial und kulturell entfernt ist. So steht es zumindest im Wörterbuch. Ingolstadt, die Heimat der fünf Musiker zählt ganz gewiss zu dieser geographischen Kategorisierung. Dennoch sollte man die Provinz eher im übertragenen Sinne als einen psychologischen Begriff betrachten, wenn man ihn im Kontext zu Slut verwenden möchte; als Seelenzustand oder Lebensstil, einem Ruhepol, welcher der Massenbewegung und steten Wachheit der Metropolen entgegenwirkt. Während viele ihre Musik als Möglichkeit der heimatlichen Einöde zu entfliehen betrachten, scheinen Slut mit ihrer Musik stets wieder zurück in ihre Heimat kehren zu können. Diese cosmopolitische Fluchtmöglichkeit findet sich auch während der Vorbereitung für die neue Platte bei der Band wieder. Man zog sich zur Klausur in die Abgeschiedenheit eines tschechischen Schullandheimes zurück, bevor die erarbeiteten Ideen, mit einem ausgereiften Popverständnis verarbeitet, gemeinsam mit dem Weilheimer Produzenten Mario Thaler aufgenommen wurden.
Slut haben mit diesem, ihrem fünften Album einen Schritt weiter in ihrer Entwicklung gemacht, sind puristischer im Umgang mit Effekten und Klangelementen geworden, und näherten sich auf diese Weise ihrem Live Sound an. Alles ist auf das wesentliche reduziert, klingt transparenter und dennoch melodienverliebt, und büßt trotz allem nichts von der Dichte und Kraft ihres vorangegangenen Albums "Nothing Will Go Wrong" ein. Das Gerücht, "All We Need Is Silence" sei die letzte Slut Platte, kursiert in dem dazugehörigen Umfeld, seit Slut selbst eine dementsprechende Bemerkung bei den diesjährigen Festivalauftritten fallen ließen. Schlagzeuger Matthias Neuburger ist derweil bemüht, diese Aussage zu kommentieren. So soll vielmehr der Abschluss einer steten Entwicklung, wie eben beschrieben, zum Ausdruck gebracht werden, welche sich ohne eine drastische Veränderung in Reproduktion verlieren würde.
Um den Albumtitel "All We Need Is Silence" nicht als Oxymoron zu verstehen, bedarf es ihn nicht ausschließlich auf Musik als solche zu beziehen, sondern in einem soziokulturellen Kontext zu betrachten. Während aktuelle Musik weitestgehend Wert auf Konsens und Political Correctness legt, steuern die fünf Ingolstädter bewusst ein paar Reibungspunkte in ihren Songs ein, die für Diskussion sorgen dürften. Wenn Chris Neuburger "let's make war instead of love" im ersten Stück der Platte The Beginning skandiert, hat das natürlich weniger mit Militarismus als mit dem Öffnen der Augen zu tun. Was die vielseits erwähnte Spaßgesellschaft zu konsumieren weiß, verliert sich immer weiter in Belanglosigkeiten, und führt zu einer meinungsfreien Selbstgefälligkeit, die es aufzuhalten gilt. "Somone borrow me a gun, for all the millions having fun" reduziert diesen Ansatz mit provokanter Direktheit. Der Albumtitel ist als notwendiges Plädoyer gegen die omnipräsente gesellschaftliche Reizüberflutung zu betrachten, erklärt die Band, welcher es weitestgehend gelingt, sich dem Starrummel und den massentauglichen Medien zu entziehen.
In den pointierten 37 Minuten, welche das Benötigen von Ruhe ausmachen, überzeugen Slut mit gitarrenorientierter Ausgewogenheit und intelligenter Melodiensuche, bei welcher man sogar Reminiszenzen an Beethovens Ode an die Freude wieder finden kann. "All We Need Is Silence" besticht durch die transportierte emotionale Bewegung, welcher man sich nicht entziehen kann.
Und während besonders Homesick und Cosmopolite - welche die bereits erwähnte Provinz- Urbanisations Polarität aufgreifen - die Gedankenstürme Neuburgers mit bekanntem Geschrei durchsetzen, wird man als Hörer scheinbar im freien Fall auf das letzte Stück losgelassen. "Get away, get away. This is no holiday baby!" schreit Chris Neuburger in dem einen Augenblick verzweifelt, als sich, nach einer behäbigen Rückkopplung, das letzte Stück der Platte wie ein Fallschirm zu öffnen scheint, und sich rettend über einem ausbreitet. Gefühlvoll klingt Neuburgers Stimme jetzt, dabei so natürlich und frei von Pathos, verdichtet sie sich mit den zarten Gitarrenmelodien über dem treibenden Schlagzeugrhythmus zu einem letzten Manifest, als Appell an die Vernunft. "Go hit me like an avalanche, i'll blame it on the circumstance", bittet er, sich gegen den gegenwärtigen Wertkonservatismus und das allgemeine Sicherheitsbedürfnis aufzulehnen, und nicht in gedankenloser Akzeptanz verloren zu gehen. "And every girl who passed the test, will end up in her wedding dress to spend her summer seasons by the sea." Das idyllische Bild der provinziellen Freiheit als Metapher für den Verlust des eigenen Idealismus. Ironie als Unterschied zwischen verzückter Melodie und kritischer Aussage. Get Lost, Get Lost zählt zu diesen Stücken, auf welche man bei Konzerten sehnsüchtig als alles abschließende Zugabe warten will, um danach in fremden Augen zu lesen, wie aufregend die Welt sein kann.
foto:
Slut [All We Need Is Silence]
"if only they would tell us who we are."
tags:
musik,
plattenbesprechung,
Slut,
Virgin