Architecture In Helsinki [In Case We Die]

SuperMelodyWorld.
Die Musik ist wie ein erster Kuss: chaotisch, leidenschaftlich, aufregend und flüssig. Das weiß die neue Supergroup aus Australien jedenfalls selbst über sich zu sagen.

"i've got problems, i'm gonna use them."
(in case we die parts 1-4)


"Auf den Birken und Weiden da wachsen die Semmeln und Brötchen frischbacken und unter den Bäumen fließen Milchbäche; in diese fallen Semmeln und Brötchen hinein und weichen sich selbst ein für die, so sie gern einbrocken." So beschrieb der deutsche Schriftsteller Ludwig Bechstein im neunzehnten Jahrhundert das Schlaraffenland, diesen ungewöhnlichen Ort an dem Alles im Überfluss vorhanden sei. Ganz ähnlich erscheint die Musik von Architecture In Helsinki, deren zweites Album mit Verzögerung nun auch in Deutschland veröffentlicht wird. Die drei Damen und fünf Herren aus der näheren Umgebung von Melbourne versammeln – so die Pressemitteilung – ein "Tischfeuerwerk aus frechen Popeffekten". Tatsächlich präsentiert die Band ein überbordendes Sammelsurium an verspielten Melodien und entrückten Rhythmen, dass einem ob der Vielfalt schwindlig werden kann. Akribisch sind im Booklet die verwendeten Instrumente aufgeführt und zu jedem einzelnen Song zugeordnet. 41 an der Zahl. Da wird schnell klar, dass neben den acht Mitgliedern noch über vierzig Freunde an den Aufnahmen der Platte beteiligt waren, die im eigenen Studio mit dem klangvollen und überaus passenden Namen Super Melody World produziert wurde.

So zahlreich wie das Instrumentarium sind auch die Anekdoten die sich um die Stücke, die Platte und die ganze Band ranken. Der seltsam anmutende Name entspringt einer recht spontanen Begebenheit; Cameron Bird - der Kopf, Dirigent oder vielleicht Architekt der Band – schlug einfach eine Zeitung auf und kombinierte Wörter miteinander, welche seines Erachtens nach einen guten Klang ergaben. Architecture In Helsinki war das Resultat als man sich kurz vor einem Auftritt auf einen Bandnamen einigen musste. Ähnlich diesem Schema, so erklärt Sängerin, Keyboarderin und Percussionistin Kellie Sutherland, sei auch die Herangehensweise von Bird beim Schreiben der Texte; der Klang der Worte und Sätze steht im Vordergrund, die Interpretation überlässt man lieber den Hörern. "Blue and red up I'm fed, you're upset almost dead, tongue twisted." (In Case We Die Parts 1-4)

Auch zu den einzelnen Stücken ist man um kleine, skurrile Geschichten nicht verlegen; Das bereits auch visuell arrangierte Stück Do The Whirlwind – vielleicht der eingängigste, wenn nicht zumindest tanzbarste Song des Albums - sang Cameron Bird aus Mangel an Aufnahmemöglichkeiten zu Hause auf den Anrufbeantworter, nachdem ihm die äußerst eingängige Melodie während dem Fahrradfahren in den Kopf kam. Die Folge war, dass jeder Anrufer über Wochen hinweg mit dieser Melodie konfrontiert wurde. Eine Idee, die sich die Band vielleicht noch schnell als Werbewirksames Marketingkonzept patentieren lassen sollte.

Das bunte Pop Panoptikum mit dem leicht morbiden aber auch ironisch lebensfrohen Titel "In Case We Die" ist eine Zusammenstellung von Popmusik Liebhabern. Manche Stücke erscheinen geradezu, als würde man durch die mittlerweile unzähligen Musikkanäle im digitalen TV Zeitalter zappen. Es gibt zahlreiche Künstler, welche die verschiedensten Musikrichtungen in ihren Stücken verarbeitet haben. Doch erst in der letzten Zeit haben sich Bands hervorgetan, welche aus allen Zutaten einen homogenen Stil herausarbeiteten. Und wenn man dann solch allumfassende Verknüpfungen wie "Rocky Horror Picture Show, Bangles, Smith meets Queens Of The Stone Age und Cure mit einem A Capella Breakdown" heraufbeschwört um einen Song zu beschreiben, erscheint dies nur folgerichtig. Gerade Australien und Neuseeland mit Künstlergemeinschaften wie den Avalanches oder jüngst Fat Freddys Drop scheinen hierfür prädestiniert zu sein. Toby, Trompeter letzterer Band, beschreibt diese Herangehensweise damit, dass man solch ein Wagnis nur dort ohne sich zu verlieren sinnvoll durchführen kann, wo der Markt begrenzt ist und man Teil einer Szene als Ganzes sein muss. "Wenn du Musiker sein willst, musst du dich in verschiedene Stile einbinden – was eine andere Art von Musikern hervorbringt, mit breitem Geschmack, Interesse und Verstand unterschiedlichster Arten von Musik." Ganz ähnlich verhält es sich seit geraumer Zeit in Kanada, allen voran auf dem stilsicheren Label Arts & Crafts, welches mit Bands wie Broken Social Scene, den Stars und demnächst der Most Serene Republic diesen Allroundstil vorantreibt. Während man sein Augenmerk also in kontinental Europa und den USA auf Altbewährtes legt, bringen die Außenseiter aus der Not geboren den frischen Wind. Vor diesem Hintergrund ist auch die eigene Beschreibung der Architecture In Helsinki ganz klar; "A group of people with influences and tastes spanning the last 183 years of pop music, coupled with the isolation of Australia."

Die zwölf Stücke, die letzten Endes auf "In Case We Die" zu finden sind, scheinen allesamt nur Momentaufnahmen von sich selbst zu sein. Was zunächst widersprüchlich klingen mag, ist aber nur die dynamische Arbeitsweise des Oktetts. Während Cameron Bird den Großteil der Stücke schreibt, entwickeln sich diese im Laufe der Zeit durch das jeweilige Zutun der Beteiligten und ihrer Instrumente. So kann es schon einmal dazu kommen, dass ein Song zunächst nach Fatboy Slim klingt, später eher nach einem Beach Boys und Animal Collective Mix und zu guter Letzt zu einem "enrico-moriconesquen Epos mit cheesy Soundeffekten" heranreift. Das sagt zumindest James Cecil über Nevereverdid, dem ersten Stück des Albums.

Alles in allem überrascht die Platte immer wieder aufs Neue, sei es aufgrund der vielen kleinen Details, welche man erst mit der Zeit entdeckt, oder der abwechslungsreichen Gesangs- und Melodieführung und nicht zuletzt wegen der Instrumentenvielfalt, welche man in diesen Konstellationen – Marimba, Saxophon, Flöte und Wurlitzer E-Piano in Need To Shout - wirklich selten zu hören bekommt. Trotzdem stößt man sich das ein oder andere Mal auch an eben diesen charmanten Kanten. Vielleicht auch, weil etwas zuviel Melodie in jedem Stück steckt, ein Übermaß an Impulsivität aus ihnen herausplatzt, lange nachdem sich das Sättigungsgefühl bereits eingestellt hat.
foto: aih



architecture in helsinki
"arms down"
moshi moshi records 2006 cd
architecture in helsinki