Essay [Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?]

Morbides Kinderspiel oder kollektive Angstpsychose? Die Figur des schwarzen Mannes ist ein ambivalenter Topos in der Literatur- und Filmgeschichte. Ob als Gewaltverbrecher in M – Eine Stadt sucht einen Mörder oder als Sandmann bei E.T.A. Hoffmann, der schwarze Mann ist stets pathologisch.


welches Recht habt ihr zu urteilen! wer seid ihr denn… alle miteinander? verbrecher!
(peter lorre in m – eine stadt sucht einen mörder)


Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? ist der Titel eines Kinderspiels, welches sich in mehreren Variationen bis in die heutige Zeit gerettet hat. Der schwarze Mann ist dabei der Häscher. Derjenige, der die anderen Mitspieler immer wieder auffordert, in die Ecke drängt und auf seine Seite zieht. Und obwohl seine Gegner auf die Frage, ob noch jemand Angst vor ihm hat, beständig mit „Niemand“ antworten, so zieht der schwarze Mann im Spielverlauf seine Kreise, tippt seine Gegner an, die dann durch Aufforderung für ihn agieren.

Psychoanalytisch gilt der schwarze Mann jedoch als Inbegriff der kindlichen Angst – eines kollektiven Unbewussten. Jener wird deshalb auch von manchen Eltern eingesetzt, um die Kinder zur Raison zu bringen und sie im Endeffekt auch einzuschüchtern. Das Szenario wird vermutlich jeder kennen: Nach dem Sandmännchen kommt die allseits bekannte Frage: „Darf ich noch ein bisschen fernsehen?“ Mutter und Vater suchen dann händeringend nach Formeln, um das Kind ins Bett zu bewegen. Wenn gar keine Argumente mehr fruchten, versuchen sie es mit dem schwarzen Mann oder einer anderen Kinderschreckfigur: „Tu was ich sage oder der schwarze Mann wird dich holen.“ Das Kind wird dann nörgelnd die Segel streichen und sich fügen. Was die Autorität der Eltern nicht vermochte, wird durch eine fiktive Gestalt erreicht.

Eine Figur ähnlicher Prägung ist der Sandmann, der entgegen der heutigen Annahme, im 19. Jahrhundert noch deutlich abgründigere Charakterzüge trug. In E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung ist der Sandmann ein Schreckgebilde mit wandelbarem Gesicht, das nachts den Kindern Sand in die Augen streut und im schlimmsten Fall diese dann herausreißt. Was an dieser Erzählung fehlt, ist die Illusion einer intakten Welt: der lange schlohweiße Zottelbart des kleinen Männchens, das wir heute Sandmann nennen, die Heimeligkeit beim Betrachten desselben und die darauffolgenden Kindergeschichten vor dem Fernseher. Der Sandmann Hoffmanns ist ein albtraumhaftes Gegenstück, das nicht viel mit seinem modernen Vertreter gemeinsam hat.

In Jon J. Muth Graphic Novel M (erstmalig 1990 publiziert, seitdem leider vergriffen, jüngst wiederveröffentlicht bei Cross Cult) fehlt ebenso die Illusion einer intakten Welt, denn der schwarze Mann ist in diesem düsteren Szenario in der Gestalt eines Kindermörders Realität geworden. Während Hoffmanns Figur des Sandmanns noch Teil einer psychotischen Traumwelt zu sein scheint, tritt der schwarze Mann in M als ein Albtraum in die reale Welt.

Nach Klaus und Klara Klawitzky wird nun auch Elsie Beckmann vermisst, die mit ihren Freundinnen Ball spielen war und danach nicht zurückgekehrt ist. Alles deutet auf ein Verbrechen. Die städtische Bevölkerung gerät daraufhin in einen andauernden Alarmzustand, doch er, der schwarze Mann ist nicht aufzufinden, denn er hat kein Gesicht. Alle sprechen darüber und keiner weiß, was geschehen ist. Es folgen psychotische Szenen auf der Straße. Bekannte werden denunziert etwas mit dem Morden zu tun zu haben, Passanten werden auf dem Bürgersteig angehalten, weil diese sich mit Kindern unterhalten haben. Als die Polizei weiterhin im Dunkeln tappt, obgleich sie den Fahndungsbereich bin ins Unermessliche ausweitet und immer öfter Razzien im Rotlichtviertel durchführt, beschließen die Barone der Unterwelt selbst nach dem Täter zu suchen. Daraufhin werden an jeder Straße und an jedem öffentlichen Ort Posten aufgestellt, um die Umgebung zu scannen. Mit verschiedenen Mitteln kommen Kriminalisten sowie Kriminelle auf die Spur des Täters. Doch wohingegen die Polizei lediglich die Wohnung und den Namen des Täters ermittelt hat, wird der Mörder von den Baronen der Unterwelt gestellt und soll in einem Prozess der Schuld überführt werden.

In diesem film noir-ähnlichen Setting verbirgt sich ein düsteres Sittengebilde, das Jon J. Muth in gedeckten Braun- und Grautönen nachzeichnet. Inspiriert wurde die Graphic Novel von der gleichnamigen, filmischen Vorlage von Fritz Lang aus dem Jahre 1931. Textlich hält sich Muth dabei sehr stark an das Originaldrehbuch von Lang und Thea von Harbou. Doch M ist – bildlich gesehen – keineswegs eine Kopie des Originals, denn Muth hat die prägnantesten Szenen und Einstellungen aus Langs Film mit einer Gruppe von Schauspielern in Cincinnati nachgestellt. Diese Eindrücke hat er fotografiert und später mit Tusche und Pinsel reinszeniert. So treffen in der Graphic Novel fotorealistische Szenen auf nachgefärbte Hintergründe und einzelne Figuren und Objekte erhalten so eine völlig neue Akzentuierung. Im letzten Kapitel beispielsweise, in dem die Geschichte ihren Höhepunkt erreicht und der Mörder Hans Beckert verurteilt werden soll, scheinen sich die Panels mehr als sonst aus dem Seitenkontext herauszulösen. Sie verschwimmen in einem Film aus Ölfarbe, zwischen Mimesis und Verfremdung, zwischen Ohnmacht und Angst.

Fritz Langs filmische Vorlage

M ist ein wahrer Motivschatz – bildlich wie inhaltlich – und überaus interessant für Comic-Liebhaber. Doch dies ist nicht einzig Jon J. Muth zu verdanken, sondern resultiert auch aus der wirklich dichten Atmosphäre des Films von Fritz Lang. Lang wiederum ist einer der großen Regisseure des europäischen Kinos (Metropolis, Das Cabinett des Dr. Caligari, Die Frau im Mond) und kreierte mit M – eine Stadt sucht einen Mörder nicht nur einen der ersten Tonfilme, sondern auch ein klaustrophobisches Meisterwerk des expressionistischen Kinos.

Bei der Recherche interessierte Lang vor allem das gesellschaftliche Klima der Weimarer Republik und im Speziellen die Auswirkungen von Gewaltverbrechen auf das gesellschaftliche Miteinander: „In den meisten Fällen findet man eine fast gesetzmäßige sich wiederholende Erscheinung der Begleitumstände, wie die entsetzliche Angstpsychose der Bevölkerung, die Selbstbezichtigung geistig Minderwertiger, Denunziationen, in denen sich der Hass und die ganze Eifersucht, die sich im jahrelangen Nebeneinanderleben aufgespeichert hat, zu entladen scheinen, Versuche zur Irreführung der Kriminalpolizei teils aus böswilligen Motiven, teils aus Übereifer.

Daher beginnen Film und Graphic Novel mit einer befremdlichen Sequenz. Man erblickt die Skyline einer unbekannten Stadt – vom Dialekt ihrer Bewohner durchaus mit Berlin vergleichbar –, im nächsten Strip sieht man spielende Kinder, die dabei ein morbides Lied singen: „Warte, warte nur ein Weilchen, / bald kommt der schwarze Mann zu dir, / mit dem kleinen Hackebeilchen, / macht er Schabefleisch aus dir.“ Vorlage dieses schrecklichen Liedes ist Fritz Haarmann, der von 1918 bis 1924 24 Jungen ermordet hat. Die breite Berichterstattung des Falles Haarmann alarmierte die Öffentlichkeit in der Mitte der 1920er Jahre und schuf, neben einer Sensibilität für das Thema des sexuellen Missbrauchs, eine flächendeckende Angstpsychose in der Bevölkerung, denn was Haarmann getan hatte, schien auf einmal überall möglich.

M – Ein moralischer Appell?

Der Haarmann in M ist ein Mann aus der Mittelschicht, der eine ganze Stadt in den Alarmzustand versetzt. Als Hans Beckert (In Fritz Langs Film wird dieser durch Peter Lorre verkörpert) erhält er seine bürgerliche Identität, sein wahrer Charakter ist jedoch weitaus psychotischer und absolut gefährlich. Beckert ist klar ersichtlich ein Wahnsinniger mit einer multiplen Persönlichkeit. Während sein bürgerliches Ich unter seinen Taten leidet, sichtet sein psychotisches Ich schon das nächste Opfer. Dieser Umstand verleiht der Figur eine moralische Ambivalenz, die sich am Offensichtlichsten in der Gerichtsverhandlung zeigt. Beckert wird von den Baronen der Unterwelt zur Rede gestellt. Die Absicht des Wortführers Schänker – selbst wegen Totschlag in drei Fällen gesucht – ist klar ersichtlich: „Wir wollen dich unschädlich machen.“ Doch Beckert zweifelt an der Glaubwürdigkeit des Gerichts: „Welches Recht habt ihr zu urteilen! Wer seid ihr denn… alle miteinander? Verbrecher!“ Folgt man dieser Argumentation so ist die Schuld auch auf der Seite des Klägers zu suchen. Der moralischen Ambivalenz dieser Szene folgt ein Zusammenbruch der Ordnungen von Gut und Böse, von falsch und richtig. „Am Ende“, so schreibt der Filmwissenschaftler Georg Seeßlen „sind alle schuldig, aber niemand ist verantwortlich (schon weil wir niemandem begegnen, der in der Lage wäre, Verantwortung zu übernehmen)“.

Die Figurengeschichte des schwarzen Mannes wird also auch in M – Eine Stadt sucht einen Mörder fortgesetzt. Doch im Gegensatz zum ungreifbaren, weil konturlosen Sandmann bei E.T.A. Hoffmann tritt der schwarze Mann in M wie ein zum Leben erweckter Albtraum in die wirkliche Welt. M ist zugleich jedoch auch ein Rekurs auf die kollektiven Ängste, die nicht nur die Weimarer Republik geprägt haben, sondern beinahe zeitlos sind. Muth und Lang greifen diese Ängste auf und verpflechten sie in eine moribde Geschichte, die leider genauso zeitlos ist wie die Figur des schwarzen Mannes.

oberes Foto: Peter Lorre als Hans Beckert
Portrait: Fritz Lang (Bild von goldenageofhollywood.co.uk)



jon j. muth
"M"
cross cult, 2009







fritz lang
"M - Eine Stadt sucht einen Mörder"
UFA
peter lorre







e.t.a: hoffmann
"Der Sandmann"
Reclam