Matthias Glasner [Der Freie Wille]

Ein Film von Matthias Glasner über Theo und Netti. Über Einsamkeit und Zweisamkeit. Zwischen triebhafter Brutalität und liebevoller Hingabe, menschlichen Abgründen und ersehnter Normalität. Ein Film über zwei Menschen die gemeinsam bis zum konsequenten Ende gehen.


"ich möchte so eine art vorbild sein. (...) ich will zeigen, dass es möglich ist ein gesundes, normales leben zu leben, auch wenn man mal falsch angefangen hat."
(theo)


In "Der freie Wille" spielt Jürgen Vogel den Sexualstraftäter Theo Stoer, der nach neun Jahren Maßregelvollzug in der Normalität des Alltags Fuß zu fassen versucht und trotz aller Kraft und Bemühen letztlich an sich selbst, seiner Angst und seinem Trieb zu scheitern droht.
Für mich ist dieser Film einer von den Guten, den wirklich Guten. Ein Film der dem Zuschauer nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern ihn ebenso packt, fordert und vielleicht sogar auch herausfordert. Diese Idee der Herausforderung erscheint einem sogleich einleuchtend, sobald man sich die Anfangssequenz anschaut. Theo überfällt tagsüber in einer abgelegenen Dühnengegend eine junge Radfahrerin und vergeht sich sexuell an ihr.
Nein... eigentlich müsste man es so bezeichnen, wie es dem Zuschauer tatsächlich auch präsentiert wird: er vergewaltigt sie. Er dringt triebhaft plump in die junge Frau ein, spuckt sich zwischenzeitlich auf Zeige- und Mittelfinger um es seinem Treiben zu erleichtern und schlägt ihr sogleich mehrmals kräftig ins Gesicht. Völlig gedankenlos und losgelöst von jeglichem menschlichen Verstand vergeht er sich an ihr. Und ich muss sagen: all diese Worte können nicht ansatzweise das Gefühl beschreiben, welches der Zuschauer wohl empfinden mag, wenn er mit dieser Szene konfrontiert wird.

Nach neun Jahren in einer Maßregelvollzugsanstalt und drei vergewaltigten Frauen wird Theo in eine betreute Wohngemeinschaft entlassen, mit dem ehrlichgemeinten Ziel für sich und sein bisheriges Leben einen Neubeginn zu wagen: „Ich will zeigen, dass es möglich ist ein gesundes, normales Leben zu leben, auch wenn man mal falsch angefangen hat.“ Dem Zuschauer begenet Jürgen Vogel als Theo Stoer nach seiner Entlassung mit einem völlig veränderten Auftreten. Nicht nur die ins Gesicht hängenden Haare, die Bomberjacke und Jogginghose sind weg, sondern auch der bezeichnend schwere, beinah nach vorne fallende Gang ist verschwunden.
Der scheinbar „neue“ Theo wirkt auf den Zuschauer wie ein normaler junger Mann, der bereit ist eine Arbeit zu finden, ihr gewissenhaft nachzugehen und auch sonst ein ganz normales Leben zu führen.

Doch trotz festem Job, festem Wohnsitz, einem zeitweilig guten Freund als Ansprechpartner und einer Kampfsportart zum inneren Ausgleich, spürt Theo immer mal wieder seinen Trieb, das gewisse Verlangen. Dennoch beharrt er darauf alles in den Griff zu bekommen und ist beinahe besessen davon, das zu werden, was er sich als Ideal gesetzt hat: ein stink normaler Mann mit einem stink normalen Leben. Weg vom Trieb, hin zum Leben!

Zeitgleich schafft es Netti (Sabine Timoteo), die Tochter von Theos Chef, sich nach 27 Jahren von ihrem besitzergreifenden Vater zu lösen. Eines Tages lernen sich Netti und Theo persönlich kennen und verlieben sich einige Zeit und Probleme später auch ineinander. Doch zunächst sind sich beide mehr als suspekt und gehen keineswegs menschlich aufeinander ein. Netti will Theo klar machen: „Pass auf, das hier bringt nichts. Ich mag Männer nicht und ich will auch keinen in meinem Leben. Wir können uns also die ganze Unterhaltung sparen!“ „Trifft sich gut, ich mag Frauen auch nicht so besonders“, setzt Theo ihr entgegen und macht dem Zuschauer gleichzeitig klar, dass mit dieser kurzen Konversation ihre gemeinsame Geschichte nun beginnt. Die Zeit zwischen den beiden scheint beide völlig zu verändern. Sie gehen aufeinander ein, wirken wie ein ganz normales, verliebtes Paar, dass eine harmonische Beziehung zu führen scheint. Doch Theo und Netti müssen sich schnell eingestehen, dass sie beide gebrannte Kinder sind. Theo, der sich stets mit seinem Verlangen auseinandersetzen muss und Netti, die versucht über die psychischen Misshandlungen ihres Vaters hinwegzukommen. Zusammen ergibt ihre Beziehung eine komplizierte, aber für den Zuschauer zugleich romantische Liebesgeschichte, die beiden Figuren zunächst Halt und Wohlbefinden schenkt.

Doch als Theo erneut seinem Trieb erliegt und eine weitere Frau brutal vergewaltigt, erkennt er, dass es nie aufhören wird, er immer und ausausweichlich mit seinem Verlangen konfrontiert sein wird. So sehr er sich auch um Besserung bemüht, er fühlt sich gefangen in seinem eigenen Körper und zu schwach, um gegen sich selbst anzukämpfen. Theo entscheidet sich dazu, Netti seine bisher verschwiegene Vergangenheit zu erzählen. „Bevor ich hierher kam, da war ich neun Jahre weggesperrt. Ich hab drei Frauen vergewaltigt. Erst hab ich sie verprügelt und dann hab ich sie gefickt. Eine hab ich ausgezogen und auf'n heißen Herd gesetzt. Ich wollte, dass alles gut ist zwischen uns. Dass es aufhört. Aber das is’ hier drinnen. Immer. Immer. Und es hört nicht auf, das weiß ich jetzt. Hörst du das? Ich weiß, dass es nie aufhört.

Mit dieser Ankündigung trennt sich Theo von Netti und lässt sie weinend und schreiend hinter sich. Er will sie aus ihrem Leben streichen und seine Liebe zu ihr unterdrücken. Für ihn scheint das realisierbarer als sein Verlangen nach Frauen zu unterdrücken, an dem er sich gescheitert fühlt.

Es läuft einem kalt den Rücken und das Herz hinunter, wenn man sich vorstellt, dass Nettis Liebe so eine Große ist, dass sie Theo gehen lässt. Bevor er sich selbst verliert, verliert sie lieber ihn. Den jungen Mann, der an sich selbst gescheitert ist und mit dem Gedanken nicht leben wollte, dass es niemals ein Ende nehmen wird. Netti war die erste Frau, bei der Theo nicht primär auf der Suche nach sexueller Befriedigung war. Er suchte Nähe, menschliche Nähe, und fand diese bisher ungespürte Zuneigung bei ihr, die sie ihn bis zu seinem Ende spüren ließ. Seine Erfüllung war, dass es einen Menschen in seinem Leben gab, der für ihn zutiefst bedeutsam war.
Dieser Film ist alles was ich mir wünsche: Alles und nichts zugleich. Schockierend und beeindruckend. Schonungslos und konsequent. Erlösend und fast unerträglich. Er ist einer von den Guten!
foto:


matthias glasner
"der freie wille"
2006