Weltall-Erde-Mensch-Metaphysik!
Die Antworten liegen irgendwo dazwischen.
Ebenso diffus, wo die Linien zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt und letztendlich auch der eigenen Wahrnehmung verlaufen, gestaltet sich der mikroskopische Makrokosmos von "Leroy & Dexter", welcher jüngst in einem Sammelbändchen im avant-verlag veröffentlicht wurde. Autor dieser vorab als Webcomic erschienen Serie (wöchentliche Strips auf electromics.com) ist Thomas Gilke, der nun schon seit etwa fünfzehn Jahren durch die Comic-Stratosphäre tingelt und hin und wieder als Freier Illustrator für diverse Agenturen, Zeitschriften und Zeitungen tätig ist.
Pastiche und Glorifizierung
Für Gilke beginnt die Geschichte von „Leroy & Dexter“ im Jahre 2005. Im brandenburgischen Rüdersdorf. Um genau zu sein übt sich Gilke als Tourist des mittlerweile zum Freilichtmuseum umfunktionierten Kalksteinwerkes. Stehen am Beginn des Tages noch die riesigen Dimensionen des Kalksteinabbaus im Fokus des Illustrators, so verschiebt sich die Aufmerksamkeit Gilkes. Ein Karton mit aussortierten Beständen des Kulturhauses „Martin Andersen Nexö“ wird dabei als besonders großer Fund gewertet, denn neben einem Pilzführer und einem Lada-Selbsthilfebuch befinden sich in ihm noch einige Ausgaben des „Pressedigest“ Sputnik – herausgegeben von der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti – und drei Ausgaben des sowjetischen Jugendmagazins Sputnitschik (Koseform des russischen Sputnik, übersetzt: Begleiterchen) mit, man mag es kaum glauben, einigen Ausgaben des sowjetischen Comics „Leroy & Dexter“.
Wohingegen Mütterchen Russland schon lange in den Ruhestand geschickt wurde, überlebten ihre Erzeugnisse in Magazinform die große Umstrukturierungsphase. Was jedoch viel wichtiger ist und uns zum eigentlichen Thema führt: die besagten Magazine konservierten einen unverfälschten Blick auf ein politisches System, das dem Westen in nichts nachstehen wollte und seine eigene Bildästhetik entworfen hat. Als Ergebnis einer angestrebten Internationalität ist nicht nur der Versuch zu werten mit Sputnik und Sputnitschik (Sputnitschik – internationales Magazin in Russischer Sprache) internationale Jugendmagazine auf die Beine zu stellen, welche mit mutlilingualem Charme die Ideologie in Häppchenform über die Grenzen des eisernen Vorhanges tragen soll, sondern auch ein Comic-Strip als Beilage in die Heftchen zu integrieren.
Obgleich der Name der Comics ("Leroy & Dexter") später dem bleiernen Ernst weichen muss und in "Hämmerchen und Sichelchen" umbenannt wird, hat sich in ihnen dennoch ein kruder Humor und ein schlampig-sympathisches Layout erhalten, welches mit einem liebenswerten Purismus überzeugt. Das weckt auch die Neugier Gilkes und er beschließt die Zukunft dieser verschollenen Serie in seinen gleichnamigen Comic-Strips fortzuschreiben. Ein Happy End für Comic-Enthusiasten!
Vom Hundertsten ins Tausendste
Wie schön, dass "Leroy & Dexter" den kalten Krieg überlebt haben und Thomas Gilke den beiden Nano-Wesen auf electrocomics.com und jüngst auch im avant-verlag ein neues zuhause gegeben hat. Letztlich ist dies auch ein großes Geschenk für den Leser, denn die Lebenswirklichkeit von "Leroy & Dexter" ist eine sehr eigentümliche, fast schon surrealistische. Die beiden ungleichen Charaktere sind, gelinde gesagt, ziemlich winzig und stehen damit vor wirklich ernst zu nehmenden Herausforderungen. In einer Episode erhält die Phrase "Von hier aus betrachtet, sehen alle aus wie Ameisen" eine ganz neue Bedeutung. Während sich die Redewendung im Normalfall nur auf große Höhen und dementsprechend auf kleiner werdende Menschen anwenden lässt, bezieht sich der Ausspruch bei Leroy und Dexter auf eine wirkliche Ameise, die die beiden wimmernden Protagonisten um einiges überragt. Von dort an gilt es die Beine in die Hand zu nehmen und wegzurennen. Gefahr droht auch von giftigen Pilzsporen und mannsgroßen Blütenpollen. Dauernd verschieben sich Zeitebenen; erscheinen noch größere Wesen und neue Affronts. Dank Kathi Mogels Gastzeichnungen kann man in verschiedenen Strips sogar zum Zuschauer der Zellteilung werden. Was will man mehr?
Leroy und Dexter funktionieren übrigens auch ziemlich gut als komische Figuren. Obgleich man im ersten Moment vielleicht über den Begriff stolpert, so bieten die beiden Charaktere zahlreiche Referenzen zu anderen Pärchen der Popkultur. Leroy folgt beispielsweise dem Pastiche des überschlauen, kaltschnäuzigen Zynikers, der wild in der Geistesgeschichte herumwildert und der die Welt in ihrer Komplexität zu ergründen versucht. Dexter ist sein Kontrapunkt. Als trotteliger Gehilfe zottelt er Leroy hinterher, lässt sich von ihm die Welt erklären und stellt Fragen über Fragen. Die Rollenverteilung ist dabei ebenso klar ersichtlich wie die komischen Effekte, die diese Muster auslösen. Komik entsteht auch hierbei aus der Gegensätzlichkeit, so ähnlich wie bei Laurel und Hardy oder Didi und Stulle. Es werden stereotype Charakteristika eingesetzt um Schenkelklopfer zu erzeugen. Wie soll man auch sonst handeln, schließlich bietet ein Strip meist nur Platz für 4-8 Panels?
Doch hin und wieder werden diese stereotypen Muster zu Testzwecken verwendet, um auf viel größere Problemstellungen hinzuweisen. Gibt es Parallelwelten? Wie groß ist das Universum? Heißen linksdrehende Milchsäurebakterien deshalb so, weil sie im Karussel linksherum fahren? Warum steht dem Koch der Mund offen, obwohl er gar nichts sagt? Weltall-Erde-Mensch-Metaphysik – Die Antworten liegen irgendwo dazwischen. Die Fragen darauf findet man in "Leroy & Dexter".
thomas gilke
"leroy & dexter"
[134 Seiten, vierfarbig, HC]
avant-verlag 2009
empfehlung:
electrocomics.com
Thomas Gilke [Leroy & Dexter]
„ein nanometer entspricht in einem stück metall ungefähr einer strecke von vier benachbarten atomen oder ist ungefähr 70.000 mal dünner als ein menschliches haar" (wikipedia, definition 10-9 m)
Ich weiß nicht, ob es schon jemandem aufgefallen ist, aber wenn man die Augen ganz langsam schließt, wird die Welt immer kleiner. Wenn man dann noch die Ohren mit Watte verschließt, dann fehlt einem nicht nur die visuelle Weltkomponente, sondern auch die akustische. Doch existieren Dinge, die man weder hören noch sehen kann? Wer nichts mit rhetorischen Fragen anfangen kann, dem sei dieses physikalische Beispiel ans Herz gelegt. Bis 1897 glaubte man noch, dass Atome die kleinsten Bestandteile der Materie sind, bis ein gewisser Herr Thomson das Elektron entdeckte und die Theorie vom kleinsten Bestandteil der Materie widerlegte. Niemand kann mir erzählen, dass er mit bloßen Augen – und seien sie noch so geschult – ein Atom erkennen kann, geschweige denn ein Elektron und doch existieren sie.
Die abgebildeten Strips stammen von electrocomics.com. Zum Vergrößern einfach auf die Bilder klicken.
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