Kammerflimmer Kollektief [Kassel, 29.03.2005]

Bewegungen in der Zwischenwelt von Hier und Jetzt.
Die Ausnahme Musiker des Karlsruher Kollektiv beeindrucken mit ausufernden Melodiebögen und atmosphärischen alltags Beobachtungen.


"our music is no longer about notes, but about sounds."
(albert ayler)

"Das ist einer der langweiligsten Abende seit langem gewesen", gesteht mir die junge Frau hinter dem Tresen, kurz nach dem Abgang des Karlsruher Kammerflimmer Kollektiefs. Jedoch will sie damit weder den charismatischen Auftritt der fünf begnadeten Musiker, noch die eher spärliche Anwesenheit der rund vierzig Gäste im bestuhlten Konzertraum des Kasseler Schlachthofes kritisieren. "Die Musik war stellenweise so ruhig, fast meditativ, dass wir hier nebenan kaum wagten, ein Glas zu spülen oder miteinander zu sprechen." Sie wollte die Atmosphäre nicht zerstören, welche den kleinen Saal umgab. Während man vereinzelt an kleinen Tischen Rotwein und Zigaretten konsumiert, entfaltet sich ein Film Noir in den Köpfen der Gäste. Die Musik dazu liefert das Ausnahme Kollektiv aus Karlsruhe.

"Absencen". Der französische Ausdruck wird in der Medizin für eine Form des epileptischen Anfalls verwendet, bei welchem eine zehn bis dreißig Sekunden andauernde Bewusstseinsminderung mit nachfolgender Amnesie eintritt. Eine Abwesenheit des Präsenten, welche man auf eine mannigfaltige Weise auch bei den cineastisch choreographierten Stücken des Kammerflimmer Kollektiefs beobachten kann. Edmund Husserl, der 1938 verstorbene Philosoph, so erfahren wir aus dem Begleittext des Albums, verfasste zu seinen Lebzeiten eine Universalrezension, mit welcher sich das Kollektief identifizieren möchte; "Eine gewisse Mittelbarkeit der Intentionalität muss hier vorliegen, die ein Mit da vorstellig macht, das doch nicht selbst da ist, nie ein Selbst-da werden kann. Es handelt sich also um eine Art des Mitgegenwärtigmachens, eine Art Appräsentation." Mit diesen Worten wird nichts anderes als das verspielt Hintergründige deutlich, welches sich in den Stücken abzeichnet. "Augenblicke zwischen Wachsein und Schlaf, oder wenn man im Zug sitzt und aus dem Fenster guckt und dabei eigentlich an gar nichts mehr denkt. Oder wenn du in der Badewanne liegst und die Wassertemperatur wärmer ist als die des Körpers und man das Gefühl bekommt sich langsam aufzulösen", beschreibt es Thomas Weber, Gitarrist des Kollektivs.

Der oft fragile Klang, welcher den akustischen Instrumenten entlockt wird, breitet einen melancholischen Klangteppich aus, der sich manches Mal eskapistisch in Free Jazz Orgien verdichtet, ein anderes Mal zurückhaltend mit Lounge und Ambient Motiven kokettiert, oder sich countryesken Themen bedient und diese in orchestrale Filmmusiken ausufern lässt.

Der Kontrabass auf der rechten Seite der kleinen Bühne, erscheint wie eine anmutige und doch opulent arrangierte Requisite, würde er nicht von dem stilvoll ergrauten Johannes Frisch scheinbar zum leben erweckt. In einem alten, angestaubten Köcher bewahrt er seine Streichbögen auf, und bewegt das riesige Instrument mit fast zärtlicher Hand. Heike Aumüller sitzt entspannt vor dem alten Harmonium, und entlockt diesem die melancholisch späherischen Klänge, welche bereits die 1988 verstorbene Ikone Nico Päffgen verwendete. Hinter einem provisorischen Rack bedient Thomas Weber Knöpfe an Mixern und Sequenzern, lässt eine Gitarremelodie Schleife laufen, und befremdet sensibel die akustische Lautmalerei mit elektronischem Rauschen und Knistern. Er war es auch, der das Kollektief in den späten Neunziger Jahren formte. Damals noch als Ein-Mann Projekt, bei welchem er seine Stücke aus Samples arrangierte, wurde das Kollektiv für die Live-Performance auf die heute bis zu sechs Mitglieder ausgedehnt (Violinistin Heike Wendelin ist an diesem Abend nicht zu gegen). Eingängige Melodien - wie das wundervoll verträumte Mond, welches die Band als Zugabe spielt, nachdem sie eigentlich schon auf dem entspannten Weg zur Theke, gesäumt von andächtig, aber dennoch überzeugt applaudierenden Menschen sind - gehen mit Freestyle Dekonstruktionen einher, ohne dass man dies in Frage stellen möchte. "Alle arbeiten gemeinsam an einem Wohlklang, einer Hymnik zusammen, aber alle sind auch fähig, diese im nächsten Moment hemmungslos zu zerkratzen", erklärt man. Dieses Spiel aus weiten, getragenen Melodiebögen auf der einen, und den ekstatischen, freien Improvisationen der Instrumente auf der anderen Seite, lassen das Karlsruher Kollektiv als eine Ausnahmeerscheinung erstrahlen, die sich jenseits populärer Stile bewegt, jedoch in der Lage ist, ein aufgeschlossenes Publikum mit ihren transzendierten alltags Beobachtungen restlos zu begeistern. Bewegungen in der Zwischenwelt von Hier und Jetzt. "Realistische Eskapismen", sagt die taz. "Nach diesen strebt das Kammerflimmer Kollektief auch bei seinen Live Auftritten, und ihnen hat es mit den gebrochenen Hymnen auf 'Absencen' kleine musikalische Denkmäler gesetzt."
foto: marko kaplan


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