Tocotronic [Kassel, 20.03.2005]

Die Grenzenlosigkeit des guten Geschmacks.
Tocotronic wissen die leidenschaftliche Ästhetik ihrer neuen Stücke mit der melancholischen Wut früherer Tage in vortrefflicher Harmonie Live zu verbinden.


"das nächste stück ist ein manifest gegen das schlechte in der welt."
(dirk von lowtzow über 'das unglück muss zurückgeschlagen werden')

Als mir Jan Müller am Nachmittag vor dem Konzert zufällig in Kassel begegnet, unterhält er sich mit zwei weiteren, den hamburger Akzent nicht leugnen könnenden Männern über die alte Provinzmetropole, und ihre banale Beschaulichkeit. Ich verzeihe ihm sein Unwissen großzügig, hat Kassel doch wider jeder Beschreibung tatsächlich wunderschöne Gegenden, und diese wären deutlich ausgeprägter, wäre Kassel nicht zum Ende des zweiten Weltkrieges als einige der deutschen Städte neben Dresden, völlig dem Erdboden gleich gemacht worden. Die anschließende Wohnungsnot führte dazu, unansehnliche Plattenbauten in großen Mengen und vor allem in kurzer Zeit hoch zuziehen. Wem kam zu jener Zeit schon der Gedanke an eine spätere Kulturhauptstadtsbewerbung in den Sinn? Genug Lokalpatriotismus.

Am Abend bietet das, mit gut achthundert Gästen ausverkaufte Musiktheater im Kasseler Nirgendwo zwischen Fitnessstudios und alten Fabrikgebäuden, zunächst für eine halbe Stunde die ruhige Popmusik von La Grande Illusion, einem Pop Duo aus der freien und Hansestadt Hamburg, wie man selbst erklärt. Gemischter Bonnie und Clyde Gesang, akustische Gitarre und Perkussion über elektronisch verträumten Beats.

Die kontrastierende Abwechslung zu Tocotronic weiß leider nur wenige Besucher sichtlich zu begeistern. Wie sagte aber schon Thees Uhlmann in seinen Tocotronic Tourtagebüchern, damals über Erobique im Vorprogram: "Einigen Leuten scheint das nicht gefallen zu haben – aber ich bitte Euch: Das macht doch keinen Sinn, sich eine stilnahe Band aufzuhalsen. […] Man könnte einen auf supersensible Rockkollegen machen, aber wer will das schon?"

Beim betreten der großen Bühne zeichnet sich ab, dass das Publikum den vier Herren die gleiche Freundlichkeit entgegen zu bringen weiß, wie Tocotronic mit stets vorbildlicher Höflichkeit ihrem Zuhörern begegnen. Selbstsicher eröffnet man mit der potentiellen Zugabe Ich Habe Stimmen Gehört, dem letzten, elegischen Stück der aktuellen Veröffentlichung "Pure Vernunft Darf Niemals Siegen". Das Publikum honoriert die vielen ruhigen Stücke von "K.O.O.K.", sowie dem selbstbetitelten weißen Album mit Aufmerksamkeit, und es ist einfach schön den intimen Austausch in dem Club zu fühlen. Dirk von Lowtzows überschwänglicher Freundlichkeit, und seine selten so ausgeprägte Redseligkeit tun ihr übriges. Auch wenn man ihm vielleicht ein wenig Schrulligkeit zuschreiben möchte, wie er da in seinem schwarzen Buffy T-Shirt wie eine Mischung aus dem schlaksigen jungen Mann aus "Digital Ist Besser" Zeiten, und dem intellektuellen Dandy zu Phantom/Ghost Tagen erscheint. Dieses verwischen der Zeiten wird auch durch das klangliche Zusammenführen von Stücken aus den Anfangstagen und denen der aktuellen Alben deutlich. So herrlich ungeniert kann man sich zuhause nicht den Achten Ozean und Drüben Auf Dem Hügel hintereinander anhören, ohne hin und her gerissen zwischen den vergangenen zehn Jahren zu sein. Mit dieser Zusammenführung ihrer musikalisch wie auch textlich so unterschiedlichen Schaffensphasen, dürfen sie einen jeden Lügen strafen, der noch immer nicht umher kann, zurückgewandt die alten Zeiten hochleben zulassen, und die bemerkenswerte Entwicklung dieser vielleicht wichtigsten deutschen Band herunterzuspielen.

Eines ist jedoch sicher, wenn auch eins zu eins vorbei ist, das vertraute Brennen fühlt man noch immer in sich drinnen, genauso wie in den Augen der Protagonisten auf der Bühne, selbst wenn dem Herrn von Lowtzow während dem Stück Drei Schritte Vom Abgrund Entfernt in der ersten Zugabe die Saiten reissen. Durch Rick McPhail und der zweiten Gitarre, erreichen Tocotronic überzeugend eine neue, melodiebetonte Musikalität, welche sich überaus positiv auf das Livespiel auswirkt. Besonders die an diesem Abend in großer Zahl vertretenen Stücke des, den musikalischen Umbruch einleitenden 99er Werkes "K.O.O.K.", zeigen sich in einem rockmusikalischeren Gewand als die Originale selbst, wird doch das Synthesizer und Bläser Arrangement in einem prachtvollen Gitarrenspiel übersetzt. Das, wie Dirk von Lowtzow einleitend erklärt, "Stück mit dem wohl bescheuertesten Anfang der Welt", Jackpot, erstrahlt so in einem neuen Licht, bevor man sich den dogmatisch instrumentalisierten Stücken des wahrlich prachtvollen neuen Albums widmet, und sich nach Pure Vernunft darf Niemals Siegen zurückzieht. "Das ist das letzte Stück für heute Abend", weiß Arne Zank vom Schlagzeug aus zu berichten. "Dafür ist es aber auch ein sehr wichtiges."

Das Publikum - bei welchem auffällig wenig Trainingsjacken und deren Träger ins Auge fallen, auch wenn dieses adoleszente, zum Markenzeichen des Indie-Universums verkommene Artefakt einer vermeintlichen Generation schließlich Anfang der Neunziger versehentlich von Tocotronic inspiriert wurde – applaudiert frenetisch, und der beinahe ungewöhnlich hohe Altersdurchschnitt fällt beim umblicken ins Auge. Um ein Paar Stücke der ersten Alben zu präsentieren, kommen zunächst nur Arne Zank, Jan Müller und Dirk von Lowtzow zurück auf die Bühne, bei einer weiteren Zugabe stehen dort Tocotronic jedoch wieder zu viert. "Wir sehen scheinbar unbeschwert Rock Pop In Konzert" resümieren sie den Abend selbst, um danach mit einer ungewohnt ergiebigen Feedbackorgie am Ende des auf über zehn Minuten angeschwollenen Stückes Neues Vom Trickser endgültig hinter der Bühne zu verschwinden, und die Gäste mit freudig entspannten Gesichtern in die Kasseler Nacht zu entlassen.
foto: marco merten


tocotronic
la grand illusion
musiktheater kassel