Explosions In The Sky [All Of A Sudden I Miss Everyone]

Irgendwo zwischen Postrock, klassischen Orchesterwerken und expressionistischer Malerei. Das texanische Quartett offenbart auf seinem fünften Album erneut große Erzählungen, und zeigt vor allem, was man heute noch alles von Gitarrenmusik erwarten darf.


"honestly, it's been worth the wait."
(under the radar #16)

Bist du schon mal eine ganze Nacht hindurch wach geblieben? Allein. Keine Party. Kein Fernsehen. Nur du ganz allein. Irgendwann gelangst du zu dem Punkt, an dem du die Augen kaum aufhalten kannst. Der Körper fährt seine Funktionen herunter. Du beginnst ein wenig zu frieren. Gedanken lassen sich nicht mehr ganz klar fassen. Aber dann, wenn du diesen Punkt überschritten hast, beginnt der Körper Endorphine und Adrenalin freizusetzen. Du wirst plötzlich wach. Wach auf eine ungewohnte Weise. Du nimmst plötzlich auf eine andere Art wahr. Eindringlicher. Exzessiver. Es ist stockdunkel draußen. Es braucht noch einige Zeit, bis sich der nächtliche Vorhang langsam lüften wird. Die Geburt des Tages steht bevor. Die ersten Töne sind gewaltig. Wie eine einstürzende Mauer prasseln sie bedrohlich auf dich nieder. Es vergeht ein wenig Zeit, bis sich der Lärm legt. Langsam kristallisiert sich so etwas wie eine Melodie aus dem Krach heraus. Nimmt Konturen an. Verdrängt die Misstöne. Dann folgt das erste Licht des Tages. Ganz schwach. Einzelne Strahlen verdichten sich. Konturieren Silhouetten von Bäumen. Von Häusern. Skizzieren die Umrisse von Dingen, die man noch nicht klar erkennen kann. Fallen durch Fensterscheiben. Aber noch herrscht die Dunkelheit. Die Stille. Die Nacht. Es sind vereinzelte Lichtblitze in einem Meer voll Schwarzer Farbe. Doch das Licht des Tages bäumt sich wie eine enorme Welle auf. Sammelt sich. Holt zu einem letzten Schlag aus. Feine Strahlen werden zu riesige Wogen gleißenden Lichts. Der Himmel öffnet sich. Wie in einer Explosion vertreibt das Licht die Finsternis. Die Nacht verschwindet, als hätte sie niemals stattgefunden. Nicht hier. Nicht an diesem Ort. Nicht in dieser Welt. Nicht in diesem Bild. Nicht in der Geschichte die hier erzählt wird. Eindringlich. Ohne Worte.

Willkommen, Geister. Zehn Minuten vergehen, bevor die erste Dissonanz auftaucht. Der erste Satz der Sinfonie verstreicht. Eine leichte Verstörung hält Einzug. Eine unbestimmte Angst. Etwas Bedrückendes. Schemenhaftes. Ungreifbares. Das Andere der Angst affiziert dich. Hinterlässt Spuren. Tritt hervor. Wird deutlicher. Wird erkannt. Wird natürlich. Löst sich auf. Im Verschwinden des Unbekannten kehrt das Licht erneut zurück. Als würde sich ein Triumphzug ankündigen, irgendwo, dem du gewillt bist hinterher zueilen. Über Strassen und Plätze. Wege und Felder. Bis du erkennst, dass du ihn nicht erreichen wirst. Die letzten Schritte wirst du langsamer. Du bleibst stehen. Die Hände auf die Knie gestützt. Rasch atmend. Wie ein Kind, das sich beim kriegen spielen erschöpft hat. Ungesehen verschwindet der vermeintliche Zug im Nirgendwo. Aber auch er hat Spuren hinterlassen. Ankündigungen. Versprechen. Du kehrst zurück. Langsam machst du dich auf den Heimweg. Vielleicht regnet es sacht. Der dritte Satz beginnt.

Ein neues, unbekanntes Element reiht sich ein. Zart. Klein. Fragil. Doch die Aufmerksamkeit auf sich ziehend. Eine neue Farbe malt Wolken auf die Leinwand. Alles erscheint leicht. Wird leicht. Ist leicht. Blätter werden behutsam vom Wind durch die Luft getragen. Eine sanfte Brise umschmeichelt dich. Durchatmen. Tief durchatmen. Zur Ruhe kommen. Stehen bleiben. Augen schließen. Fühlen. Riechen. Schmecken. Hören. Freude. Schmerz. Leid. Glück. Das Geschehene als bittersüße Gegensätze. Als schöngeistiges Oxymoron. Die Katastrophe und das Heilmittel in einem Atemzug. Betörend schön und schmerzlich zugleich. Doch mit der Gewissheit, dass am Ende alles Gut ausgehen wird. Du wähnst dich in einer seltsamen Sicherheit. Geborgenheit. Einsamkeit. Das Finale.

Alles ist im Fluss. In Bewegung. Vermengt sich. Offenbart sich. Durchdringt dich. Nimmt dir den Atem. All Of A Sudden I Miss Everyone. Ermutigende Melancholie. Ein Lächeln in deinem Gesicht. So Long, Lonesome.
foto: bella union


explosions in the sky
"all of a sudden i miss everyone"
bella union 2007 cd / lp
explosions in the sky