Selig [Und Endlich Unendlich]

Für einen kurzen Augenblick waren sie Mitte der 1990er Jahre der Nabel des deutschsprachigen Alternativrocks. Nun melden sich Selig nach zwölf Jahren Abstinenz unerwartet mit einem Comeback-Album zurück.




Erinnern Sie sich noch an die Anfänge des deutschsprachigen Alternativrocks? - Hier eine kleine Geschichtsstunde: Wir schreiben das Jahr 1994. Nirvana mischen die Rockwelt ordentlich auf und das erste Mal reagieren internationale Modelabel punktgenau auf den Zeitgeist, um mit bunt karierten Baumwollhemden und zerschlissenen Jeanshosen den musikalischen Hype optisch zu untermauern. Der Seattle-Sound hält Einzug in deutsche Eiche-Rustikal-Wohnzimmer und kündigt den bald darauf folgenden Boom des Indie-Slackertums an, dass dann Protagonisten wie Die Sterne und Blumfeld pflegen werden. Gleichzeitig erliegt der hiesig Popmarkt einer kurzen Phase der Irritation, zumal im Grunge-Gegenprogramm hektische Techno-Mucke läuft, die heute verschämt unter dem Begriff Eurodance bekannt ist und seinerzeit von „Dancefloor-Acts“ wie DJ Bobo, 2Unlimited und Culture Beat stolz angeführt wurde. Daneben gibt es dann natürlich noch etablierte Pop-Helden wie die Toten Hosen, Westernhagen und natürlich Die Ärzte. Was der Indie-Gymnasiast zu jener Zeit jedoch schmerzhaft vermisst, ist das deutschsprachige Pendant zu Kurt Cobain und Kollegen - bis schließlich Selig um die Ecke kommen und diese Lücke über Nacht schließen.

Grunge und Siebzigerrock gepaart mit RAF-Charme

Selig versprühen nicht nur auf den ersten Blick absoluten Anti-Schwiegersohn-Charme. Mit einer Ästhetik aus damals aktuellem Grunge, Siebzigerrock, permanenter Lungenentzündung, Psychedelic, einem Hauch RAF und enorm viel Pathos, setzen sie laut und grell auf Avantgarde und schlagen damit ordentlich über die Stränge. Aber genau jene explosive Mischung ist es, die für einen kurzen Moment die deutschsprachige Popwelt in Atem hält und den Puls der Zeit vorgibt. Mit dem charismatischen Jan Plewka schien nun endlich auch ein Sänger gefunden, der nicht nur wie selbstverständlich deutschsprachige Texte verfasste, sondern diese auch ohne jeglichen Ansatz von Peinlichkeit und frei von Ironie intonierte. Das schlägt natürlich ein wie eine Bombe. Wenn Ich Wollte, Sie Hat Geschrien und natürlich Ohne Dich sorgen für den richtigen Soundtrack im Sommer `94. Nur ein Jahr später veröffentlichen Selig ihren zweiten Langspieler "Hier". Textlich driftet Plewka noch mehr in esoterische Marihuanalyrics ab, während Christian Neander versucht, seiner Gitarre immer noch dunklere und härtere Riffs zu entlocken. Es folgen die erste ausverkaufte Headliner-Hallentour, zahlreiche Festival-Auftritte, Interviewtermine am laufenden Band und insgesamt 14 Videodrehs. Nach nur drei Jahren ist die Band am Zenith seiner künstlerischen Schaffenskraft angelangt - und auch am Ende seiner Kräfte. Das Arbeitspensum ist so enorm, dass der grelle Rockzirkus Selig daran langsam aber sicher zu zerbrechen droht.

Das waren vier Jahre Achterbahnfahrt, die andere wahrscheinlich in die Klapse oder umgebracht hätte. Wir waren 48 Stunden am Tag nur Selig, Selig, Selig. Wir hatten kein anderes soziales Umfeld mehr und sind am Ende an Reizüberflutung fast erstickt.
(Jan Plewka, resümierend über sein Leben als 90er-Jahre Rockstar)

Im Winter '96 spielen Selig den Soundtrack zum Til Schweiger-Film "Knockin' on Heaven's Door" ein. Für die rein instrumentalen Score-Tracks verwendet die Band allerdings das Pseudonym Digital Elvis & Zero. Warum weiß niemand so genau. Um Abstand von sich selbst zu gewinnen, begibt die Band sich im darauf folgenden Sommer nach New York, um dort das dritte Album "Blender" aufzunehmen. Erstmals wagt man elektronische Klangexperimente und tüftelt länger an den Sounds als bisher. Mit Erfolg. Im Vergleich zu den beiden Frühwerken klingt "Blender" selbst heute noch zeitgemäß produziert. Doch die Spannungen innerhalb der Band nehmen immer größere Dimensionen an. Besonders zwischen Plewka und Neander kracht es nun regelmäßig. Ende des Jahres verlässt Plewka schließlich samt Frau und Kind das Land gen Schweden und mit seiner Flucht wird auch das Ende der Band eingeleitet. Ein Großteil der Selig-Jünger zwängt sich fortan in viel zu enge Trainingsjacken und lässt sich Scheitelfrisuren wachsen, um ab sofort den Klängen der Hamburger Schule zu lauschen. Allen voran: Tocotronic.

Die Ex-Mitglieder von Selig hingegen versuchen nun ihre Solo-Karrieren anzutreiben, was mal mehr, mal weniger erfolgreich gelingt: Gitarrist Neander schreibt unter anderem die Boybands Echt und Cinema Bizarre in die Charts, während seine eigene Band KungFu nicht wirklich was reißen kann. Jan Plewka steht und fällt mit seiner rauchigen Ausnahmestimme. Während sein janusköpfiges Soloalbum "Zuhause, Da War Ich Schon" (2002) großartige Songs abwirft, schießen seine Bandversuche "TempEau" (2006) und "Zinoba" (2005) populärgeschmackstechnisch komplett am Ziel vorbei.

Und Endlich Unendlich

Und nun, zwölf Jahre nach "Blender", entsteigen Selig urplötzlich wie Phoenix der Asche und veröffentlichen mit "Und Endlich Unendlich" ihr viertes Studiowerk, das nahtlos an seine Vorgänger anknüpft. Ob der Band damit eine musikalische Renaissance gelingt, ist fraglich, denn herausgekommen ist ein Anachronismus an Platte, welche komplett am Zeitgeist vorbei rockt. Funktionieren könnte das Ganze trotzdem. Dafür sorgen die kompositorische Weiterentwicklung, die neuerliche Melodieverliebtheit und nicht zuletzt die Refrainfixierung, die bei früheren Selig-Aufnahmen immer ein wenig vernachlässigt wurde. Die erste Vorab-Single „Schau Schau“ ist ein wahrer Bastard an Song, ein Ohrwurm, der einem den ganzen Tag über verfolgt, hört man ihn im Frühstücksradio. An ihr kann sich das Album erhobenen Hauptes messen lassen, denn viel schwächer klingen die restlichen Songs auf "Und Endlich Unendlich" auch nicht. Da war er wieder, der Pathos.
foto: universal


selig
"und endlich unendlich"
vertigo / universal, 2009 cd, cd+dvd
selig