Judith Hermann [Alice]

Zwischen Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, (Er)leben und Erinnern, Alltag und Abschiednehmen – Judith Hermanns Protagonisten oszillieren in ihrem dritten Prosaband "Alice" zwischen fünf Erzählungen und eindeutigen Zuständen. Als einzig sichere Komponente des Lebens ist der Tod allgegenwärtig.


"astronauten, dachte alice, wir sind wie astronauten, es gibt nirgends einen halt."
(alice)


Geht es in der Literatur um den Tod, wird zumeist laut geklagt und getobt; die Grauzone zwischen dem Eintreffen der Nachricht und dem Beginn des Verarbeitens - das Gefühl vor dem großen Bewusstsein, dass ein Mensch nicht mehr wiederkommen wird, wird selten thematisiert. Judith Hermanns Protagonistin Alice hat gleich fünf Verluste zu beklagen und tut es doch nicht laut. An unterschiedlichen Stationen ihres Lebens stößt der Leser zu ihr, um sie in der kurzen Sequenz des Abschiednehmens zu begleiten – von alten Liebschaften, einem väterlichen Freund, Verwandten. Genaue Definitionen der zwischenmenschlichen Beziehungen bleiben aus – genau wie umfassende Charakterisierungen der Scheidenden. "Alice" ist kein Nachruf auf die Toten, sondern eine Bestandsaufnahme von dem, was zurückbleibt, wenn da einer nicht sterben kann, einer überraschend geht oder freiwillig gegangen ist.

Judith Hermann schreibt um die „zentrierte Leere“ herum, wie sie sie nennt. Um das Gefühlsvakuum, die Taub- und Stummheit, die zuschlägt wie ein Gegenstand, der dem Zurückbleibenden dumpf auf den Kopf fällt – und schafft dabei das (fast) Unmögliche, diese Sprachlosigkeit in Worte zu fassen. Im Japanischen wird der Zustand des „Dazwischenseins“, der (Wahrnehmungs-) Raum zwischen Personen, Ereignissen, Räumen und Zeiten mit dem Begriff 'ma' eingefasst; wie im Buddhismus wird eine Aufmerksamkeit für Übergänge entwickelt, wird diesen ein besonderer Stellenwert eingeräumt. In Hermanns Prosa drückt sich diese Achtsamkeit in den für sie typischen subtilen Beobachtungen aus, die man bereits aus ihren ersten Werken "Sommerhaus, später" und "Nichts als Gespenster" kennt.

Während. Zu denken, dass während sie an der Tankstelle gehalten hatten, der Rumäne in den Himmel geschaut hatte, ein Falke ein Adler ein Bussard. Während Alice die Tür der Eistruhe aufgeschoben, Anna das Wort Cornetto gesagt hatte, der Tankwart mit den Fingern auf dem Tresen und Lotte im Auto, ihr Profil vor dem Berg, unbewegt hinter den getönten Scheiben, und Alices Hand in slow motion in der Tiefe der Eistruhe in einem Pappkarton, aufgerissen voller Wassereis, Himbeere, Zitrone und Waldmeister, wie heißt dieses Eis, hatte der Rumäne gefragt, Dolomiti hatte Alice gesagt, da war Conrad gegangen. In einem heißen Zimmer am Ende des Ganges mit gleißendem Licht hatte sein Herz geflimmert und dann aufgehört zu schlagen, einfach so, und kein auf Wiedersehen, das war es gewesen.

In ihren oft seltsam sperrigen Sätzen hallt immer wieder die Überraschung darüber nach, dass der Tod nicht mit lautem Getöse in den Alltag einbricht, sondern sich vielmehr mit leiser Selbstverständlichkeit hineinschleicht - ein Versuch, dessen unprätentiöse Gestalt mit der Größe des nachklingenden Gefühls zu vereinbaren. Man mag Judith Hermanns spröde Sprache besonders in Bezug auf diese Thematik als distanziert oder gar emotionslos wahrnehmen – oder aber es als wohltuend empfinden, dass sie dem Leser durch die oft nicht ganz greifbare Bedeutung der Worte genug Raum lässt für eigene Überlegungen und Empfindungen. Ein Gespür dafür zu entwickeln, wie viele unterschiedliche Formen Trauer annehmen kann, wie groß der Irrtum wirklich ist, unsere Nächsten für unverwundbar zu halten und auch, wie nebensächlich die Dinge wirken können, die letztlich Schmerz oder Trost bedeuten können. In der Erzählung Raymond beispielsweise geht Alice zwar mit beinahe ungeheurem Pragmatismus an das Aussortieren dessen zurückgelassener Sachen, doch als sie in einer seiner Jacken den Rest eines Mandelhörnchens findet, bricht völlig unvorbereitet alles um sie herum zusammen.

Raymond. Hatte Hunger gehabt. Lebendigen, einfachen Hunger. Sich ein Mandelhörnchen gekauft. Das hatte er nur in einer einzigen Bäckerei getan, sonst nirgends. [...] Wie früher. Im Winter – die Tüte steckte in der Tasche seiner Winterjacke neben einem Handschuh, wo war der andere Handschuh hin, und war Alice dabeigewesen? War sie dabeigewesen, als Raymond das Mandelhörnchen gekauft hatte, hatte er ihr ein Stück abgebrochen, abgegeben oder in den Mund gesteckt, am Mittag oder Nachmittag oder Morgen eines Tages mit Kälte und Wind und während sie nebeneinanderher gegangen waren, Alices Arm in Raymonds Arm und ihre Hand mit hinein in seinen Handschuh geschoben; möchtest du noch, nein danke, und das letzte Stück in die Tüte zurückfallen lassen, sie zusammengedreht, in die Jackentasche gesteckt. Wann.


Dass das, was einem letztlich das Genick bricht, die Erinnerungen an die kleinen Details sind, die einen geliebten Menschen ausgemacht haben, zieht sich wie ein feiner Haarriss durch die Seiten; die Erkenntnis, dass der Weg eines Zurückgebliebenen ein schmaler Grat ist, ein Dazwischen, das wie im Japanischen „nichts“, „dazwischen“, „Beziehung“, „Leerstelle“ oder „etwas“ bedeuten kann.

Weit entfernt zog ein spätes Flugzeug hoch in den Himmel, und sie dachte daran, wie Raymond in einer der ersten Nächte, die sie so zusammensaßen, gesagt hatte, das Geräusch eines Flugzeuges in der Nacht mache ihn traurig. Wieso, hatte Alice gesagt. Weil es so ist, als wäre es das letzte mögliche Flugzeug gewesen. Für mich, hatte Raymond gesagt, und Alice hatte etwas daran verstanden und etwas anderes nicht, und etwas hatte sie auch gekränkt. Wann immer sie ein Flugzeug sah in der Nacht, musste sie daran denken.
foto: juergen bauer



judith hermann
"alice"
s. fischer verlag, 2009