Tocotronic [Pure Vernunft Darf Niemals Siegen]

Dreizehn Bilder zum Thema Begeisterung.
In der Zwischenwelt von Eloquenz und Sprachlosigkeit entfaltet sich eine Ästhetik, die mit jedem Durchhören zu etwas ganz Großem heranzuwachsen scheint.


"feinen menschen muss man geben was sie wünschen, es ist eben eine pflicht."
(mein prinz)

"Es scheint an der Zeit für eine Popkulturrevolution im kleinen Kreis", lamentierte ein Freund von mir Mitte des Jahres. "Oder würdest du sagen, dass man der Wiege der jugendlichen Identität so noch sein Vertrauen schenken kann? Man erduldete mit unverständiger Miene Ausflüge in das Elektronische, beim Abstreifen der Cordschlaghosen und dem so genannten Imagewechsel zum erwachsenen philosophisch Beflissenen hat man auch stillschweigend mitgemacht. Es klingt vielleicht ein wenig polemisch, aber bei Mobiltelefonen hört der Spaß einfach auf." Auch wenn es ihm bei seiner Argumentation um downloadbare Klingeltöne ging, wird das enorme Ausmaß an Bedeutsamkeit, welches der Hamburger Band zugetragen wird, deutlich.

Tocotronic. Das ist diese eine Band, an der schon Freundschaften zerbrochen sind. Sowohl ihre eher privaten Stücke, die mit ihrer intimen Sprache Tagebucheinträgen ähnelten, als auch Haltung und Habitus der drei Musiker, wurden unisono als Identifikationsfolie empfunden, unter welcher eine vermeintlich ganze Generation von Aussenseitern und Verweigerern subsumiert wurde. Die Trainingsjacken, engen Slacker Shirts und Seitenscheitel instrumentalisierten sich selbst und die Band sah sich Ende der Neunziger Jahre an der Schwelle zur steten Reproduktion. Man entschied sich für einen Ästhetikwandel, um der Wiederholungsfalle zu entgehen, und sich selbst weiter zu entwickeln, und widmete sich einer neuen, weniger direkten Sprache sowie einer neuen Musikalität. Diese Entwicklung ist mit dem neuen Album "Pure Vernunft Darf Niemals Siegen" zu einem vorläufigen Höhepunkt herangewachsen, auch wenn man wieder ein paar Schritte weiter vom Abgrund zurücktritt.

Mit dem Wandel hat sich die Musik der, mittlerweile mit Gitarrist und Keyboarder Rick McPhail zu einem Quartett erweiterten Band, auch Menschen erschlossen, die wenig mit dem larmoyanten Dilettantismus der frühen Jahre anfangen konnten. In nur neun Tagen wurden die Stücke ganz klassisch im Proberaum aufgenommen und weisen in ihrer, im Vergleich zu "K.O.O.K." oder auch "Tocotronic", transparenteren aber zweckmäßigen Instrumentalisierung einen gelungenen Kontrast zu eben diesen letzten beiden Alben auf. Arne Zanks Schlagzeug ist stark pointiert und wenig verspielt, stellt aber in seiner Deutlichkeit ein wichtiges Stilmittel der neuen Musik dar, die in ihrer unkomplizierten aber dennoch gehaltvollen musikalischen Ästhetik den Hörer zu fesseln versteht.

Aufgrund der Intensität und letztendlich auch der Fülle an Texten, wird ein Diskutieren auf inhaltlicher Ebene obligat. Die frühe Extrovertiertheit in Dirk von Lowtzows Texten ist einer universaleren Subtilität und Vielschichtigkeit gewichen, mit welcher sie ganz bewusst ein gewisses Maß an Missverständlichkeit provozieren. Vergebens sucht man bei den ersten Durchläufen nach Aussprüchen, auf die man sich festlegen kann, nach augenscheinlichen Fixpunkten. Wenn er in dem eloquent entfesselten, folkloristisch pointierten Titelstück "Pure Vernunft darf niemals siegen / wir brauchen dringend neue Lügen / … / die das Delirium erzwingen / und uns in schönsten Schlummer singen / die uns vor stumpfer Wahrheit warnen / und tiefer Qualen sich erbarmen" singt, offenbart sich dem Hörer eine vielschichtige Palette an Deutungsmöglichkeiten, die es ihm erlaubt, auf die ihm adäquate Weise mit den Stücken umzugehen. Der Titel des siebten Albums verkündet bereits in seinem resoluten Ausruf, dass es hier vielmehr um Emotion als um Verstand geht. "Das ist Popmusik", erklärt Jan Müller. "Ich habe gar nicht den Anspruch, einen Text unbedingt verstehen zu wollen. Darum geht es erst mal gar nicht."

Auch wenn er sich bei dem direkten Kommunizieren über ein gerade abgeschlossenes Werk unwohl fühlt, erklärt Dirk von Lowtzow im Interview mit dem Rolling Stone seine derzeitige Betrachtungsweise unseres Landes, als einen Einfluss für das Entstehen des Albums. "Es herrscht momentan eine Stimmung in diesem Land, wo ich sagen würde, dagegen richtet sich die Platte und ein Stück wie Aber Hier Leben, Nein Danke. Man muss ganz unqualifiziert oder nörglerisch mal wieder sagen können: Hier ist es Scheiße.“ Ihre Verweigerungshaltung gegenüber der vermeintlichen, schwarz-rot-goldenen Popdissidenz, welche augenblicklich ausgelegt wird, als sei sie ein gesellschaftlich unakzeptierter Tabubruch, wurde schon des öfteren im Vorfeld der Albumveröffentlichung deutlich. Der Kopf-Hoch-Deutschland-Club wird nicht direkt verunglimpft, aber im Kommunizieren ihrer Texte, wird die Anti-Haltung erahnbar. Aber Hier Leben, Nein Danke. Hinter diesem kraftvoll vorgetragenem Stück fassen sich anfängliche Äußerungen wie Ich Hasse Euch Wegen Eurer Kleinkunst Zutiefst oder Alles Was Ich Will Ist Nichts Mit Euch Zu Tun Haben zusammen - die es in ihrer Subjektivität so manches Mal mit Peter Handkes literarischen Diffamierungen hätten aufnehmen können - auf eine weitaus differenziertere und überlegtere Form, und artikulieren sich höflich entschlossen. Und dennoch fällt auch hier die Missinterpretation ins Auge, denn ein Konkretisieren findet in den Stücken nicht statt.

Aus einem kulturellen Klima der ungestörten, stets reproduzierbaren Vergnügungsfähigkeit und unhinterfragtem Genuss heraus, driftet die Popmusik immer mehr in Belanglosigkeit ab, und auch Rockmusik scheint immer uninspirierter und aussageärmer zu werden. "Rockmusik ist zu einer harmlosen Sache verkommen, die nichts mehr zu sagen hat, die nichts mehr angreifen oder bekämpfen will", farciert es von Lowtzow. Und während sich Pop beharrlich aus der zur Schau getragenen Besinnungslosigkeit des bunten Konsumpluralismus und jüngst eben auch der unreflektierten Modeerscheinung des Patriotismus bedient, ähnelt er immer mehr der Dreiseeligkeit des Schlager, mit seinen vaterländisch nationalen, besinnungslos heiteren und sentimental tumben Repertoires. Dieser spießigen Meinungs-, und Belanglosigkeit als akzeptanzverschrobenen Grundtonus, treten Tocotronic mit ihrem neuen Album trotzig gegenüber. "Völker! Auf zum Gefecht! / Die Illusion wird Menschenrecht / Ich bin nicht allein in meiner Sucht / vor den Spießern auf der Flucht" (Gegen Den Strich). Dennoch verweigern sich die Texte einem ausdrücklichen Bedeutungsgehalt in all ihrer Pracht, und wollen auf eine emotionalere Weise verstanden werden.

Die Stücke sind auditive, zunehmend poetisch verspielte, illusionstrunkene Beobachtungen von zu weit hinausgefahrenen Booten, von der stilisierten Angst, von höchsten Höhen und tiefsten Tiefen und vor allem den Zwischenräumen, als Seilakt über Schluchten der Selbstverschwendung und Ohnmacht. Und gar Pathos weiß man durch sehnsüchtige Berührungen mit dem Sujet Liebe zu begegnen. Wie etwa in dem Stück Angel, wo es heißt: "Ein weißes Blatt Papier / Liegt vor meiner Tür / Es sagt: ich such so lang nach dir." Besonders phrasiert erscheint das Stück Cheers For Fears, eine langsam ansteigende akustische, sich opulent ausdehnende Mär aus elektrifiziert anmutenden Beats, Keyboard und Gitarren, welches nach "K.O.O.K." der erste englisch betitelte und tatsächlich auch ausschließlich in englischer Sprache dargebotene Tocotronic Albumtitel ist, und vielleicht auch deshalb an Dirk von Lowtzows und Thies Mynthers Projekt Phantom/Ghost denken lässt. "Say it loud / I’m lost and proud / Say it clear / Cheers for Fears". Und obwohl Rockmusik, sofern sie gut ist, nicht von sicheren Häfen singt, wie der Pressetext zu berichten weiß, erstrahlt am Ende der Reise doch ein Stück offenkundiger Schönheit, und bietet einen erhabenen Abschluss für das Album. "Ich habe Stimmen gehört / Ich habe Dinge gesehen / Die waren so schön / Wie nichts auf der Welt / Ich habe die Schwelle gekreuzt / In die Unendlichkeit / Der Weg war weit / Ich war wie Treibholz der Zeit", tastet sich der Gesang in der schwelenden Ballade wie hinter einem fallenden Vorhang voran, der sich nur langsam senkt, und die Schönheit dahinter zaghaft preis gibt. "Tocotronic machen ein leidenschaftliches Angebot", erklärt Peter Abs im Pressetext. "Wer es annimmt und sich anvertraut, wird schon sehen."
foto: lado musik gmbh



tocotronic
"pure vernunft darf niemals siegen"
l'age d'or 2005 cd / lp
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