David O. Russel [I ♥ Huckabees]

Not und Tugend.
Da wir leider nicht relevant genug erschienen, um von Fox Searchlight Pictures für eine Film Besprechung des aktuellen Werkes von David O. Russel akkreditiert zu werden, haben wir kurzerhand einen Außenkorrespondenten zu einem Interview mit Bernard Jaffe entsendet.


"how am i not myself?"
(brad stand)

Ich komme mir ein wenig wie im vertrackten, und surreal anmutenden sieben einhalbten Stockwerk des Merton Flemmer Gebäudes vor, in welchem die Lester Corporation fast unbemerkt ihren Sitz hat, als ich mich in das Gebäude im Circle Drive 7025 begebe. Es ist ein wenig wie in einem Labyrinth, wenn man den immer gleichen Gängen folgt, bis man irgendwann, wie durch Zufall vor der Tür steht, die man die ganze Zeit gesucht hat. Suite 909; "Jaffe & Jaffe" steht auf einem glänzenden Metall Schild. Exitential Detectives.

Ich betrete das helle Wartezimmer und gehe auf eine junge Empfangsdame zu. Die hoch gewachsene, blonde Frau blickt kurz in den Terminkalender und bittet mich dann einen Augenblick Platz zu nehmen, da Mr. Jaffe noch in einer Besprechung ist. Neben mir sitzt ein Mittfünfziger in einem Unterhemd. Beide Oberarme sind mit grünlichen Tätowierungen verziert. In der mir gegenüberliegenden Ecke des Raumes brummt fast unbeachtet ein Ventilator.

"Mr. Jaffe erwartet sie jetzt", entgegnet mir die junge Dame Augenblicke später, und weist auf eine Tür. Bernard Jaffe empfängt mich in seinem Büro. Er sitzt hinter einem hellen, aufgeräumten Schreibtisch aus Birkenholz und steht auf, um mir die Hand zu geben. "Freut mich sie zu sehen", lächelt er. Jaffe ist Mitte Sechzig und trägt einen dunklen Nadelstreifenanzug und eine rot-schwarz gestreifte Krawatte. Die Ärmel seines weißen Hemdes sind nicht zugeknöpft, stattdessen hat er sie leicht nach oben geschoben. Beinahe über die gesamte Breitseite der Wand hinter Jaffes Schreibtisch erstreckt sich eine riesige Tafel wie ein Gemälde, auf welcher unzählige, angedeutete Rechtecke mit Kreide gezeichnet sind. Durch das wandhohe Fenster flutet das vormittägliche Licht in das Büro. Bernard Jaffe arbeitet seit 17 Jahren mit seiner Gattin Vivian Jaffe als existentieller Detektiv. "First In Buisness" kann man stolz auf dem Firmen Logo lesen.

Wie es die Höflichkeit erfordert tauschen wir zunächst einige Oberflächlichkeiten aus, bevor wir uns intensiver unterhalten können. Er erklärt mir, dass das penible Beobachten eines jeden seiner mittlerweile über 300 Klienten zur Erörterung der individuellen Fragestellungen führt. Wie die Umkehr der eigentlichen Arbeit eines Defektives erscheint der berufliche Alltag von Jaffe & Jaffe.
"Wie sieht die Konkurrenz aus?", frage ich ihn.
"Es gibt Wenige die sich auf unser Terrain begeben, ohne zu straucheln. Viele Klienten begeben sich zunächst zu Therapeuten und Psychiatern, bevor sie erkennen, dass das eigentliche Problem nicht in dysfunktionalen Familienverhältnissen oder unterdrückten Sexualfantasien, sondern in der Welt selbst liegt."
Es ist bekannt, dass zwischen Bernard Jaffe und der Französin Catherine Vaubon, ihrerseits auf eine ähnliche Weise in Frankreich beruflich aktiv, ein intellektueller Misskredit besteht, über welchen gern geschwiegen wird.
"Woran liegt es, dass Sie auf die französischen Philosophin Vaubon nicht gut zu sprechen sind, Mr. Jaffe?"
Er setzt seine zierliche Lesebrille ab, steckt sie in die Brusttasche seines Jackets, lehnt sich, auf dem Schreibtisch abgestützt nach vorn und faltet die Hände. Seine dunklen, klaren Augen schauen wach unter seinem bereits ergrauten Pagenkopf hervor.
"Sehen sie", entgegnet er ruhig mit gekräuselten Lippen, "Catherine Vaubon betrachtet alles aus einem anderen Blickwinkel. Und das ist eigentlich gut so. Meine Frau und Partnerin Vivian zum Beispiel ist Existentialistin. Sie geht davon aus, dass sich jeder Einzelne durch sein spezifisches Verhalten gegenüber sich selbst, anderen Menschen und der Welt verwirklicht. Ich betrachte die Dinge gern etwas anders und dennoch, wir beide ergänzen uns ganz ausgezeichnet. Es gibt viele Wege die man ausleuchten muss, um sich auf den weisesten Pfad zu begeben. Sehen sie, Catherines Ansichten zufolge steht das Nichts hinter Allem; ein Standpunkt, der in der Geschichte der Philosophie zu meinem Unverständnis von einigen skurrilen Persönlichkeiten geteilt wurde. Doch das Sein und das Nichts überschneiden sich." Er hält kurz inne und schaut mich an.
"Was denken sie ist das reine Sein?"
Ich fühle mich überfordert und schaue ihn vermutlich einige Sekunden mit großen Augen an, überzeugt davon, gleich etwas zu sagen. Dann erlöst er mich.
"Genau", lächelt er und stimmt mir - um mich damit vollends zu verwirren - zu.
"Das reine Sein enthält zunächst Nichts. Es ist kein Mobil Telefon, kein Schoko Keks und auch kein fünf Sekunden Orgasmus. Das reine Sein an sich enthält Nichts. Das reine Nichts enthält jedoch sich selbst, und macht aus dem Nichts etwas Seiendes. Ich bin der Überzeugung, dass eine übergreifende Verbindung existiert, eine höhere Identität, welche sowohl die Identität als auch die Nicht-Identität enthält."
Die Nicht-Identität? Dies übersteigt meinen gegenwärtigen Horizont bei weitem. Jeder Mensch hat eine eigene Identität denke ich bei mir, und bisweilen liegt es einem jeden sehr daran, seine eigene Identität besonders hervorzuheben. Eine Nicht-Identität jedoch? Wie kann ich nicht ich selbst sein? Während ich nachdenke, ist Bernard Jaffe aufgestanden und hat aus einem Schrank ein Bettlaken geholt, was er jetzt vor mir ausbreitet.
"Sehen sie, dieses Laken hier umfasst uns alle. Das hier sind sie", er hebt unter dem Laken eine Hand. "Das hier drüben bin ich. Und das hier ist der Eifelturm. Paris, verstehen sie?" Ich kann nicht umhin ihn verwundert anzulächeln. "Und das hier ist ein Krieg, das ist die Milchstraße, das hier ist eine Krankheit und das ist ein Hamburger. Verstehen sie? Es gibt keinen Rest in der Mathematik der Unendlichkeit. Wir alle sind Teil des Ganzen, und das mein junger Freund, dürfen sie niemals aus den Augen verlieren."
Ich staune nicht schlecht. "Wo denken sie befinden sie sich im Augenblick? In einem Raum, einer Stadt, einem Land? Das mag sein. Warum springen Menschen aus Flugzeugen oder nehmen Drogen? Sind sie auf der Suche nach sich selbst? Auch das mag sein. Aber ist es die ganze Wahrheit?"
Die Tür öffnet sich und eine Dame mit schulterlangen schwarzen Haaren und einem schwarzen Kostüm tritt herein.
"Darf ich vorstellen", setzt mich Jaffe in Kenntnis, während er auf die Dame zugeht, "meine Frau und Partnerin Vivian Jaffe. Endschuldigen sie mich einen Augenblick". Verlegen lächle ich. Die beiden tauschen einige Worte miteinander, küssen sich kurz und Vivian Jaffe verlässt das Zimmer.
"Ich bin untröstlich, doch leider muss ich mich auf den Weg machen. Ein Kunde von uns befindet sich in einer Gewissens Krise dritten Grades. Es hat mich sehr gefreut sie kennen zulernen."
Er gibt mir die Hand, hält mir die Tür auf, und ich kann mich nur noch verabschieden, anstatt ihn nach der großen, ganzen Wahrheit zu fragen, von der er eben gerade noch sprach. Beim Verlassen des Gebäudes schwirren meine Gedanken wild durcheinander und ich bemerke nur im letzten Augenblick, dass mich beinahe ein weißer Lastwagen überfahren hätte. Eine blonde Frau lächelt mich überlebensgroß von der weißen Plane aus an und in bunten Lettern prangt I ♥ Huckabees auf der Breitseite.
text: Cosmo Kramer
foto:
20th century fox


david o. russel
"i ♥ huckabees"
2005