Im sechsten Jahr wagt sich das Immergut auf unbekanntes Terrain und geht trotz manch skeptischer Stimmen nicht verloren, sondern wird für seinen Mut belohnt.
(paul smith)
Der Stereotyp im Allgemeinen ist einer der natürlichsten Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen und essentieller Bestandteil in der persönlichen Bewertung einer Sache, mag der Blickwinkel auch noch so objektiv erscheinen. Dies gilt selbstverständlich auch für Festivals, insbesondere aber für das Immergut. Seit der Premiere im Jahr 2000 hat es sich zu einem Festival von formidablem Ruf entwickelt und wird nicht nur von der Fachpresse immer wieder zum besten Festival des abgelaufenen Jahres gekürt. Dies trägt allerdings auch zu einem gewissen elitären Gestus bei, der durch die starke subkulturelle Ausprägung des Publikums hervorgerufen wird.
Dementsprechend hoch sind jedes Jahr die Erwartungen an das Line-Up und heuer war die Aufregung groß, als die letzten Acts bekannt gegeben wurden, namentlich Last Days Of April, The Album Leaf, Melody Club und Deichkind. Nicht nur schien ein großer Knaller zu fehlen, besonders Letztgenannte sorgten für kontroverse Diskussionen, war dies doch neben den Puppetmastaz bereits der zweite HipHop-Act, der für dieses explizite Indiefestival gebucht worden war. So verbinden die meisten Besucher mit dem Immergut im weitesten Sinne Gitarrenmusik abseits des Mainstream, so dass der Name Deichkind bei vielen zunächst für Irritationen sorgte und auf intuitive Ablehnung stieß, während das restliche Line-Up sich in gewohnten Bahnen bewegte.
Den Anfang machten die Belgier Styrofoam, denen es bei strahlendem Sonnenschein jedoch the album leaf nicht so recht gelang, den Zauber ihrer Musik vom Studio auf die Bühne zu übertragen, was neben den fehlenden Gastmusikern insbesondere mit einem katastrophalen Sound zusammenhing. Zu begeistern wussten dagegen Timid Tiger, die als erstes die Zeltbühne betraten. Erstaunlich routiniert und gleichzeitig erfrischend präsentierte sich das jüngste Signing von L’Age D’Or, dementsprech-end sprang der Funke aufs Publikum innerhalb kürzester Zeit über.
Ein erster Höhepunkt des Abends waren The Robocop Kraus auf der Hauptbühne. Kraftvoll stiegen sie in ihr Set ein, welches durchsetzt war von Stücken ihres in Kürze erscheinenden Albums "They Think They Are The Robocop Kraus". Eine energiegeladene Masse feierte sämtliche Stücke ab, als seien sie alle bereits Klassiker. Von selbigen spielten Nada Surf nur sehr wenige, und so verstrich ihr Auftritt zwar angenehm doch unspektakulär.
Von der Euphorie des Publikums überrascht wurden Girls In Hawaii, die ihre Songs mit Hilfe von Videoclips auf mehreren Fernsehern und als Projektion visualisierten. Ihr treibender Indierock benötigte keine großen Gesten, vielmehr war die Exaltiertheit der Band auf die Gefühlsintensität zurückzuführen, die durch die Musik als Bindeglied zwischen Musikern und Publikum zu spüren war.
Unter strahlendem Sternenhimmel präsentierte sich Moneybrother als ein Headliner, der seine Band und das Publikum fest im Griff hatte. Sein gesamtes Auftreten war von einem starken Showeffekt geprägt, was dem Soulelement seiner Musik ebenfalls eine größere Betonung verlieh. Dabei überspannte er den Bogen ein wenig, doch die Menge ließ sich von ihm mitreissen.
Die Überraschung des Abends waren jedoch die Puppetmastaz, die zum Abschluss auf der Zeltbühne spielten und zum Headliner der Herzen wurden. Zu packenden Beats boten sie eine wahnwitzige Puppenshow mit verschiedenen Charakteren, die sich gegenseitig in Grund und Boden rappten. Die Reaktionen des Publikums waren dabei derart überwältigend, dass sie erst nach einem halben dutzend Zugaben die Bühne für die anstehende Disco räumten.
Samstags war der Festivalbesucher zu Beginn des Tages traditionellerweise vor die Wahl gestellt, den Mittag an einem der vielen nahe gelegenen Seen zu verbringen oder sich beim Immergutzocken am fußballerischen Können der Musiker zu ergötzen.
So war es kaum verwunderlich, dass auf dem Festivalgelände noch reichlich wenig los war, als das Programm nachmittags startete. Doch spätestens bei Seidenmatt hatte sich wieder eine größere Schar an Zuhörern versammelt. Dies honorierend lieferten die vier Berliner genauso wie ihre Sinnbus-Labelkollegen von Kate Mosh kurze Zeit später einen großartigen Auftritt ab, ihre charmante Art wirkte dabei genauso einnehmend wie ihr instrumentaler Postrock. Vor der Hauptbühne ließen sich viele Menschen zu den Klängen von The Album Leaf in ein Nachmittagsnickerchen wiegen, welche ein stimmungsvolles und andächtiges Set spielten.
Als Herzensband angekündigt wurden anschließend die Boxhamsters. Die alten Giessener Punkheroen, einstmals wichtige Wegbereiter der Hamburger Schule, wurden so stürmisch abgefeiert, dass es ihnen fast die Sprache verschlug. „Dass wir das nach zwanzig Jahren erleben dürfen!“, mit diesem Satz auf den Lippen verließen sie die Zeltbühne, während Kante auf der Hauptbühne vom Sonnenuntergang begleitet einen Querschnitt ihrer letzten beiden Alben präsentierten.
Einen der besten Auftritte bestritten Ms. John Soda, deren Sängerin Stefanie Böhm interessanterweise die einzige Frau im gesamten Festival Line-Up war. Gemeinsam mit Micha Acher gelang ihr eine packende Verquickung von Gitarren und elektronischen Beats, und nicht zuletzt sollte ihre charismatische Stimme die Zuhörer schmelzen lassen.
Der von vielen erwartete Höhepunkt des Abends waren Maximo Park. Noch vollmundig als beste Band der Welt angekündigt rechtfertigten sie diese Ansage vollkommen. Ein Paul Smith, der die Musik mit Haut und Haaren performte, eine Band, die ein musikalisches Feuerwerk abbrannte und auf einmal wurde jeder gute Song des aktuellen Albums zu einem Überhit. Großartig!
Kaum zu glauben war da, dass hinterher Deichkind noch gelang, die Stimmung im Zelt völlig zum Überkochen zu bringen. War vor dem Auftritt von manchem Skeptiker noch ein Debakel prophezeit worden, so belehrten ihn die drei Wahl-Hamburger eines Besseren. Treibende Elektrobeats und in grellen Neonfarben leuchtende Kostümierungen verwandelten das Zelt in ein Tollhaus. Ob der musikalischen Qualität und der fast schon überhandnehmenden Euro-Trash-Verweisen mag man sich streiten, doch Deichkind gelang es in jedem Fall aufzuzeigen, wie man Immergutbesucher an den Rand der körperlichen Erschöpfung treiben kann.
Umso enttäuschender war die abschließenden Melody Club aus Schweden. Sie spielten zwar ein sehr routiniertes Set, doch ihre Mischung aus Glamrock und billigem Klingeltonpop, der zuweilen an Matthias Reim erinnerte, hätte dem Festival einen unwürdigen Abschluss gegeben. Doch im Anschluss legte das Spex-DJ-Team im Zelt zum Tanz auf, und die Menge feierte bis in den Morgen hinein sich selbst und das Festival. Nicht zu unrecht, denn in diesem Jahr hat das Immergut einen Blick über den eigenen Tellerrand gewagt. Ein starres Schema wurde aufgebrochen und das sonst als wertkonservativ geltende Publikum honorierte dies. Eine Veränderung die gut tut.
foto: mujuk.de
immergut festival
Immergut Festival [Neustreliz, 27.-28.05.2005]
"this is such a beutiful surrounding."