Gregor Samsa [55:12]

"Wären das ehrliche, flüsternde Offenbaren der tief in der Seele ruhenden Gefühle während der einen umgebenden, mitternächtlichen Ehrlichkeit und der anschließende lange Seufzer in Musik übersetzt, würde diese vermutlich wie 55:12 klingen."
(Gabriel Kalmus Katz, Sound The Sirens Magazine)


"how will we save ourselves? we must remain as one."
(what i can manage)


Mit einer fast schüchternen Schlichtheit treten dir Gregor Samsa gegenüber. Das Debüt Album, nach zwei EPs und einer kurzen Trennung, trägt den Titel "55:12" und meint damit zweifellos nichts anderes, als dass es dich fünfundfünfzig Minuten und zwölf Sekunden lang umschmeicheln wird. Es steckt in einem sehr schlichten, dunkelgrauen Pappumschlag auf welchem ein Baum in noch dunklerem Ton eingeprägt ist. Eine helle Banderole ist der einzige Hinweis auf Informationen. Gregor Samsa steht dort in wenig aufdringlicher Typografie und auf der Rückseite sind die Titel der acht Stücke aufgeführt, die zwischen zweieinhalb und über zehn Minuten Spielzeit variieren.

"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt." Hiermit, einer der wahrscheinlich bekanntesten ersten Sätze in der modernen Literatur, beginnt Franz Kafkas Meisterwerk Die Verwandlung. Mit den Worten "Die Durchsichtigkeit seines Stils betont den dunklen Reichtum seiner Phantasiewelt. Gegensatz und Einheitlichkeit, Stil und Dargestelltes, Darstellung und Fabel sind in vollkommener Weise ineinander verwoben", fasste der 1977 verstorbene russisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Vladimir Nabokov Kafkas Stil zusammen. Ob hier der Anknüpfpunkt zur Namenswahl der Amerikaner liegt muss man sie wohl selbst fragen. Literarisch nahe scheint ihnen jedoch auch Sten Nadolny; Sie entdecken die Langsamkeit für sich, verschmelzen Field Recordings und gehauchte Stimmen mit schimmernden Gitarren und warmen Sounddrones zu einem wehmütigen Prolog namens Makeshift Shelters.

Der Raum des Postrock ist seit jeher sehr weit, betrachtet mehr eine Wahrnehmungsweise innerhalb der Rockmusik, als einen tatsächlichen Stil. Shoegazer und Progrocker bewegen sich darin gleichwohl und, wie in der Besprechung zu dem aktuellem Album von Mogwai im Komakino Magazin zu lesen, höre der Banause hier nur Laut und Leise heraus, wobei es doch viel mehr zu entdecken gäbe. Selbstverständlich verstehen sich auch Gregor Samsa auf diese Formel, produzieren Gitarrenwände die an My Bloody Valentine erinnern und lassen den Hörer im nächsten Augenblick das leise Atmen, das Lufthohlen zwischen den Zeilen von Sänger Champ Banner gebannt vernehmen. Die drei jungen Herren und die Dame aus Richmond, Virginia, verbinden die dynamische Spielweise und das beinahe orchestrale Moment von Godspeed You! Black Emperor, das beharrliche Herausarbeiten musikalischer Themen wie es Do Make Say Think gelingt, den bezaubernden Duett Gesang der Stars, sowie das märchenhafte Element von Sigur Rós Stücken. Es sind nicht immer ihre eigenen Ideen die sie hier ersinnen, aber es sind gute Ideen die sie so nachdenklich wie herzzerreißend umsetzen.

Young And Old ist vermutlich eines der schönsten Stücke, das seit Jahren überhaupt von irgendeiner Band geschrieben wurde. Als würde man sich dem Sonnenaufgang hinter einem Hügel nähern, blinzelnd in das Licht schauen und den Hals recken um letztlich den Blick über die gesamte, sich zögerlich vor einem ausbreitende Klanglandschaft schweifen lassen zu können. So düster-romantisch wie die von Caspar David Friedrich geschaffenen Landschaftsdarstellungen im Breitbildformat, malt das Quartett hier mit Cello und Violine, mit anschwellenden Gitarrenklängen, Beckenrauschen und Klangeskapaden ihr eigenes kleines, elegisch-eruptives Meisterwerk voll zerbrechlicher Schönheit und intensiver Harmonien.

In 2002 veröffentlichte die Band ihre erste, unbetitelte EP, ein Jahr darauf den Nachfolger "27:36", räumte dann eine Pause ein, bei der man sich trennte, um dann in 2006 das erste, lang erwartete Album vorzulegen. Die Aufnahmen zu "55:12" begannen schon 18 Monate vor dem Herausbringen und es sollte ein langer Weg werden, bis man sich tatsächlich zu der Veröffentlichung entscheiden sollte und ein Label dafür fand. Dieser stete Selbstzweifel ist wohl das einzige Merkmal, welches man mit der Figur aus Franz Kafkas Erzählung gemeinsam hat.

Im Unterschied zu stilverwandten Bands wie Mogwai oder Explosions In The Sky, die in ihren Kompositionen weitestgehend auf Gesang verzichten, legen Gregor Samsa wert auf Sprache. Die tiefe, ruhige Stimme von Champ Bennett korrespondiert eindringlich mit dem engelsgleichen Gesang von Nikki King, ergänzt diesen wundervoll und erinnert in den besten Momenten an Amy Millan und Torquil Campbell der kanadischen Band Stars. Sie wagen sich an manierierte, pathetische Zeilen. "How long till I fall in love?", fragen die beiden immer wieder dialogisierend, anschwellend, schmachtend in dem Stück The Points Balance, und die cinematographischen Klangatmosphären, akzentuiert mit Piano und Gitarre benötigen nicht lang, bis sie einen vollends in den Bann gezogen haben. Zwischen Trost und Klaustrophobie hingegen bewegt sich das Stück We’ll Lean That Way Forever, in welchem ein konstant dröhnender Bass auf Störgeräusche trifft. Schritte werden wahrnehmbar, Holzdielen knarren und von ganz weit weg scheint sich eine entrückte Stimme anzunähern. Ihre Sätze überlagern sich, das Lo-Fi Rauschen erklärt sich daher, dass Nikki King den Text mit einem Diktiergerät aufnahm.

"It’s all ending now", erklingt in einem repetitiven Arrangement des letzten Stückes Lessening. Der Klang der Stimmen schwellt an. Irgendwo erklingt eine Lapsteel Guitar, ein warm waberndes Rhodes Piano tritt aus einer Lärmwand hervor, begleitet die letzten Klänge der Melodie einer Gitarre und lässt dich mit einem einzigen, abschließenden Moll Akkord zurück. Dann herrscht Stille. Nach fünfzig Minuten und einunddreißig Sekunden öffnest du die Augen wie nach einem hypnotischen Schlaf. Du wachst auf und spürst, dass irgendetwas anders ist.
foto:



gregor samsa
"55:12"
own records 2007 cd
gregor samsa