600 Wörter [Telefon]

fünf minuten für dich.
an diesem telefon.
und was soll ich dir erzählen?





Komm, lass uns reden
Wer redet, ist nicht tot.
(Gottfried Benn)

du hörst dich gerne reden. du redest viel. du redest über alles. für deine worte bist du nicht verantwortlich. sie brechen aus dir heraus sagst du. über was redest du?

wörter: reden/sprechen/glauben. glauben. was für ein wort. wie aus einer anderen zeit. hast du zeit? können wir reden? wer redet ist nicht tot.

aber worüber reden, wenn man nicht mal einen fernseher besitzt, die tageszeitung liest oder die sehnsucht verspürt, eine kurznachricht zu versenden, kontakt aufzunehmen mit jemandem, ein lebenszeichen von sich geben, irgendetwas belangloses mitteilen wie "ich bin in fünf minuten da".

in fünf minuten kann viel passieren. es dauerte fünf minuten bis sie dir erklärt hatte, dass sie nicht vorhat noch länger mit dir zusammenzuleben. in fünf minuten bist du von zu hause bei deiner arbeit. fünf minuten und 4 sekunden dauert das lied das du gerade hörst. in fünf minuten hättest du eine entscheidung treffen können. du hast fünf jahre gebraucht. fünf minuten ist eine zigarettenlänge. fünf minuten später und du wärst nicht mehr da gewesen.

fünf minuten für dich. an diesem telefon. und was soll ich dir erzählen? wenigstens kannst du erzählen. du erzählst gern. du erzählst geschichten von menschen die ich kaum kenne. von menschen die du kaum kennst. zerbrochene beziehungen, krankheiten die plötzlich ausbrechen, die seelische lage deiner mutter, die finanzielle deiner geschwister. die familie. man könnte sich mal wieder melden, den ersten schritt machen. vielleicht entwickelt sich wieder so etwas wie normalität. normalität. noch so ein wort.

wörter: vision/chaos/sprache. deine vision ist dir abhanden gekommen sagst du. hattest du je eine? wir haben uns verloren im chaos und wieder gefunden sagst du und das klingt verzweifelt. deine sprache hat sich verändert, der ton deiner stimme. ich versuche deine sprache zu entschlüsseln, aus deinem tonfall etwas wesentliches herauszuhören, zwischen den zeilen etwas zu finden , das "du" ist. etwas das ich kenne. aber ich kenne dich nicht mehr.

du erzählst mir von deinem letzten besuch bei deinem vater. du erzählst diese geschichte und ich habe sie schon tausend mal gehört. ich kenne alle einzelheiten. ich kenne ihren ausgang. aber du redest. du willst erzählen. du hörst dich gerne reden. ich nicke. ich vergesse, dass du mich nicht sehen kannst. ich spreche mit dir. aber ich komme nicht zu dir durch.

"ich". das ist etwas wie "du". das sich sucht, das denkt und spricht und zuhört. du hörst dir selbst gerne zu. "du". das ist eine erinnerung an ein gesicht. eine stimme am anderen ende der leitung. du schaltest den computer an. du beantwortest die post. du siehst dir filme an. du triffst dich mit deinen freunden und redest über filme. du triffst dich mit deinen freunden und ihr seht euch filme an. oder ihr hört musik. du redest über musik. du liest bücher. du triffst dich mit deinen freunden und redest mit ihnen über bücher und musik und filme. du kennst all die namen: karl marx, marilyn monroe, david beckham. du gehst zur arbeit. du bezahlst deine rechnungen. du bist manchmal unglücklich verliebt. du wirst krank. du machst dir gedanken wie es weitergeht. du machst weiter. du zählst die tage bis zu deinem urlaub. du zählst die jahre bis zu deinem 30. geburtstag. du zählst dein geld. du zählst deine platten. du hast probleme. du triffst dich mit deinen freunden und redest über probleme. über deine probleme. über ihre probleme. ihr ruft euch gegenseitig an. du kennst all die leute. und du hast eine meinung. du schreibst eine kurznachricht.

du rufst mich an. ich gehe nicht ran. und ich rufe nicht zurück.
Text: Toby Hoffmann
illustration: heiko windisch