Sigur Rós [Takk...]

Eighteen Seconds Before Sunrise.
Mit ihrem beeindruckenden Gespür für das Schöne, tragen die Isländer auch mit dem vierten Album Farbe für Farbe auf ihre Klangleinwand, um dem Zuhörer eine außergewöhnliche Collage voll epischer Kleinode und unzähliger Höhepunkte zu präsentieren.



"lächelnd. im kreis drehend. hände haltend. die welt verschwimmt, außer du bleibst stehen."
(hoppipola)


Als ich klein war, machten mein Vater und mein Großvater gern den Scherz, dass sie schon an den unmöglichsten und am weitest entfernten Orten dieser Welt gewesen wären, nur um dann hinzuzufügen, dass es bloß mit dem Finger auf der Landkarte gewesen sei. Mein Erstaunen wich dann einem Lachen. Ich mochte den Scherz. In den heutigen Tagen hat sich die Welt zu einem winzigen globalen Dorf verniedlicht, alles ist vernetzt und scheint jederzeit erreichbar. Was die visuelle Verstärkung dieses Gedankens anbelangt, so wird sich in nächster Zeit Google Earth bei der Mehrheit der mit dem Welt Weiten Netz Verbundenen manifestieren, auch wenn man diesem mehr als atemberaubenden Programm auch kritisch gegenüber stehen sollte. Den anfangs erwähnten Spaß kann man heute also zeitgeistig untermauern. Setzt man sich nun abends vor den PC, dem intimen Fenster zur Welt, und lässt genanntes Programm die vorhandenen Datenmengen von Island generieren, so breitet sich vor dem Auge das Abbild einer unbeschreiblichen Landschaft aus, welche dem tatsächlich noch niemals vor Ort Gewesenen, einen kleinen Eindruck beschert, von dem was dieses Land ausmacht. Von dem, was die Menschen prägt, die in diesem Land leben. Von der Musik die gespielt wird, die in diesem Land entsteht. Von der skurrilen Einzigartigkeit und der andersartigen Anmut.

Nach ihrem letzten Ausflug in die Sprachspiele einer dadaistischen, fabelhaften Welt, welche durch Worte beschrieben wurde, deren ursprünglichste Bestimmung ihnen entwendet wurde, kehren Sigur Rós zurück zu ihrem Land. Zu ihrer Muttersprache, die auf gleiche, einvernehmlichste Weise diesem elfengleichen Gesang zu ähneln scheint, den sie als "Hopelandish" betitelten. "Takk…", was auf Isländisch soviel wie danke bedeutet, lautet der Name dieses vierten regulären Albums der Perfektionisten, welches Sänger Jón Birgisson dem britischen NME vor einiger Zeit als "a bit more happy, with a bit more hope in it" treffend beschrieb.

Und tatsächlich scheint die Schwermut, das melancholische Moment, welches im Vorgänger "()" noch allgegenwärtig schien, einer neuen Glückseeligkeit, einer neuen Hoffnung gewichen zu sein, ohne dabei auf die so prägnanten Stilmittel der Band zu verzichten. Immer noch entfalten sich geräuschintensive Stücke langsam, um sich dann über Minuten hinweg mäandernd zu entwickeln. Gleich das zweite Stück macht deutlich, dass Sigur Rós ihren Stil nicht nur weiterentwickelt haben, sondern ihre Klangbilder in noch reicheren Farben malen als zuvor. Ohne die fragile Schönheit ihrer oft schmerzlichen Stücke zu brechen, bereichern sie eben diese mit ungewohnt lauten und überraschend krachenden Gitarrenwänden, in einer Manier, wie sie kaum eine Band vollkommener beherrscht wie die fünf Schotten von Mogwai.

Das profunde Pathos, die esoterische Verquertheit und den zeitweise überbordenden Bombast darf man ihnen gern vorhalten und die beträchtlichen, fast orchestralen Klänge herabreden, dennoch gelingt ihnen mit dem Stück Glósóli ("glühende Sonne") ein kleines Meisterwerk ihrer oft so introvertierten und mit sphärischem Klang durchsetzten Nische der populär Musik. Das Stück erzählt fast naiv von einem kleinen Jungen, der in der Dunkelheit aufwacht und sich auf die Suche nach der Sonne macht. Und eben diese Bilder spielen sich auch im Kopf ab, wenn der charismatische, schlaksige Jón Birgisson mit dem angedeuteten Irokesenschnitt, feenhaft mit seinem Falsett Gesang diese Geschichte voller Euphorie erzählt, und seine Melodie zum Ende hin gegen die donnernde Gitarrenwand ankämpft nur um selbst von einer Gitarre getragen zu werden.

Dieses bildhafte, sich von Beschreibungen abhebende Gefühl, welches in den Stücken von Sigur Rós seit nun mehr elf Jahren verortet und transportiert wird, erlangt auf "Takk…" neue Konturen, eine neue Transparenz und Zugänglichkeit, welche die Stücke in einem noch farbenfroheren Licht erstrahlen lassen. Alles um einen herum scheint für Augenblicke stehen zu bleiben, und vielleicht haben die vier Isländer recht, wenn sie über sich selbst behaupten, dass sie keine Band, sondern vielmehr Musik sind. Mehr Klang als klassischer Song, sind ihre Kompositionen, wozu neben den gewöhnlich verwandten Instrumenten vornehmlich Piano, Glockenspiel, Vibraphon, das involvierte isländische Streichquartett Amiina sowie die orchestralen Aufnahmen in einer Kirche beitragen. Auch mit dem überraschend fröhlichen Einsatz verschiedenster Blechblasinstrumente in Sé Lest ("Ich sehe einen Zug"), das ein wenig an die Stimmung der für New Orleans bekannten Jazzspielweisen der Trauermärsche erinnert, überrascht die Band mit neuen Klängen.

Die isländische Musik wird oft als Spielwiese der skurrilen bisweilen spinnerten Ästhetik und Interpretation betrachtet und von manch einem belächelt, und ganz gewiss läuft sie auch die Gefahr, sich in ihren eigenen Strickmustern zu verfangen. Dennoch geht von diesem mythischen Charakter, welcher sich nicht nur um Sigur Rós rankt, eine unwirkliche Faszination aus, eine scheinbar zauberhafte Parallelwelt zu der unseren. Nicht zuletzt die Sprache, die sich aus dem Altnordischen entwickelte, in den letzten tausend Jahren jedoch kaum veränderte, provoziert eine märchenhafte, friedliche Atmosphäre und führt dazu, dass sich allein um den Band Namen hundert Vermutungen ranken, wie er denn tatsächlich ausgesprochen wird ['sɪɣuʀ 'roʊs].

So ursprünglich schön und majestätisch wie die Landschaft ihrer Heimat, und wie sie von den Satellitenbildern von Google Earth für den Ortsfremden angedeutet werden, gestalten die vier Endzwanziger auch dieses Album, welches vielleicht die perfekte Umsetzung all ihrer bisherigen Spielweisen in sich zu vereinen weiß.
foto: yoshika horita



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"takk..."
capitol 2005 cd / lp
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