Die Wahrheit ist nirgendwo da draußen.
Als popkulturell gebildeter Mensch sollte man einen Oceanic Airlines Flug stets dankend ablehnen, denn seit 1996 verhieß dies nie etwas gutes. Doch dieser eine spezielle Flug sticht in der Geschichte der Fluggesellschaft ganz besonders hervor.
(mega lotto jackpot gewinnzahlen)Bereits als der Absturz des Oceanic Airlines Passagierflugzeug auf dem Flug 815 von Sydney nach Los Angeles am 22. September 2004 das erste Mal gezeigt wurde, war nichts mehr in Ordnung. Weder für die 48 Überlebenden des Fluges, noch für uns Zuschauer.
Noch bevor die unter Schock stehenden Überlebenden die letzten notdürftigen erste Hilfe Maßnahmen durchgeführt haben und sich das kleine Stück Strand erschließen können, auf welches sie aus heiterem Himmel mit dem Vorderteil der Maschine gestürzt sind, ereignen sich mysteriöse Geschehnisse die dazu beitragen, dass das allgemeine Konzept von Wirklichkeit unliebsam überstrapziert wird.
Die episodische, durch Rückblenden durchzogene Form der Serie erlaubt es immer mehr Teile in das seltsame Puzzle Lost einzufügen und genau hier beginnt das Verwirrspiel mit unseren eignen Erwartungen. Ganz wie die zahlreichen Seriencharaktere begeben wir uns ständig auf die Suche nach der Wahrheit und reflektieren dabei in den wenigsten Fällen, welche Probleme wir uns damit einhandelt.
In einem weit verbreiteten und dem Common sense entliehenen Ansatz, betrachten wir Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie: wir vergleichen, einfach ausgedrückt, unsere Gedanken Vorstellungen, Annahmen oder Theorien mit der Wirklichkeit; sind Gedanken und Wirklichkeit deckungsgleich, sprechen wir davon, dass diese wahr sind. Stimmen sie nicht überein, sind sie eben nicht wahr. Um nicht in metaphysische Verlegenheit zu geraten, lassen wir das Problem, wie diese Übereinstimmung aussehen soll, etwa ob die "Form" der Wirklichkeit mit der "Form" unserer Gedanken korrespondieren soll, beiseite. Es ergibt sich jedoch noch eine weitere, nicht zu vernachlässigende Problematik: gibt es tatsächlich eine feststehende Welt der Wirklichkeit, die unabhängig von der Welt unserer Erfahrung existiert und mit der wir unsere Eindrücke vergleichen können? Ohne dies beantworten zu müssen können wir annehmen, dass, sollte eine solche Welt existieren, wir auch diese durch die selbe Brille betrachten würden, deren Gläser durch unsere individuellen und kulturellen Erfahrungen geschliffen wurden. Kurz: was wir als wahr annehmen hängt stets von unserer Perspektive ab und es scheint keine einzunehmende Position außerhalb unserer Überzeugungen zu geben, von der aus wir die Möglichkeit haben eine Übereinstimmung überprüfen zu können. Vielleicht sind wir gerade deshalb stets versucht alles uns nur mögliche zu unternehmen, um Widersprüche in die Kohärenz unserer Wahrheitskonzeption zu integrieren.
Gerade vor diesem Hintergrund scheint Lost das erkenntnistheoretische Dilemma exemplarisch zu beleuchten: Betrachten wir zunächst Jack Shepard, von dem wir als Zuschauer – gleichwohl wie von den anderen Charakteren - mit großer Wahrscheinlichkeit weitaus weniger wissen als wir annehmen. Er vertraut offensichtlich auf ein rationelles, naturwissenschaftliches Konzept von Wahrheit, was vielleicht kaum verwunderlich ist, wissen wir doch, dass er Mediziner ist. Immer wieder ist Jack darin bestrebt, alle auftauchenden Ereignisse und Ungereimtheiten mit naturwissenschaftlichen Methoden und logischen Schlüssen zu erklären und sieht sich dazu genötigt, seine Überzeugungen vor einem Zusammenbruch aufgrund unvereinbarer Widersprüche – wie dem leeren Sarg seines Vaters auf der Insel – zu schützen.; etwa mittels Verdrängung. John Lock hingegen, als eine Shepard entgegengesetzt stehende Hauptfigur der Serie, vertritt eine weitaus spirituellere Wahrheitskonzeption, doch auch mittels dieser gelingt es ihm nie ganz die bizarren Ereignisse kohärent erfassen zu können. Immer wieder finden wir ihn zerrissen und verzweifelt, wenn er über eine lange Zeit hinweg fest daran glaubte, "die Insel" endlich verstanden zu haben und dann doch mit Widersprüchen konfrontiert wird.
Dennoch sind diese, hier exemplarisch aufgegriffen Figuren nicht auf jeweils eine Perspektive fixiert. Lost entwickelt seine Charaktere in Schüben zu runden, sehr komplexen Figuren, die nicht nur immer wieder in der Lage sind ihre Leidensgenossen, sondern auch uns als Zuschauer zu überraschen. Als ein gutes Beispiel lassen sich hier neben Jack und Lock sicherlich Charlie Pace, Locks Protegé, der zwischen der Rolle des hedonistischen Rockstars und der aufopferungsvollen Familienfigur hin und her wechselt, oder der charismatische Weltenbummler Desmond David Hume und seiner an Alan Moores Figur des Dr. Manhattan erinnernden simultanen Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufführen. (Eine ausführliche Betrachtung der philosphischen Namensverweise leistete die Spex bereits in der Ausgabe 314.)
Die persönliche und uns oft gar nicht so bewusste Haltung gegenüber dessen was wir als Wahrheit akzeptieren, spielt bei der Partizipation eine nicht zu unterschätzende Rolle. Je nach Sichtweise – und in deren Verankerung spielen vermutlich unzählige gesellschaftliche, psychologische, kulturelle und andere Aspekte eine Rolle – gehen die einzelnen Charaktere unterschiedlich mit den undurchsichtigen Ereignissen um. Und immer wieder spielt Lost auch mit der Beziehung zwischen dem Zuschauer und eben diesen Charakteren und jenen Ereignissen auf der Insel im Nirgendwo des Pazifik; nur wenn wir uns unsere eigenen Konzeptionen deutlich machen, können wir uns davor schützen nicht selbst in die Falle unserer eigenen Erwartungen zu tappen. Denn durch die Struktur der Serie wähnen wir uns zusehens in Gewissheit bezüglich verschiedenster Vorkommnisse, investierten immer wieder Gedanken und Schlüsse die für uns schlichtweg wahr sind, jedoch nur so lange, bis wir (wiedereinmal) einsehen müssen, dass sie nur unter einem bestimmten Blickwinkel als wahr aufzufassen sind. Ändert sich die Perspektive, so ändert sich die Zuschreibung. Auf diese Weise scheinen wir selbst von der Insel gefangen zu sein.
Durch diese Komplexität entfaltet sich eine polyphone Erzählstruktur in der keine Position die Oberhand gewinnt, sondern als sich widersprechende Perspektiven gleichberechtigt existieren. Die mysteriöse Zahlenreihe ist ein gutes Beispiel hierfür. Ich plädiere dafür zu sagen, dass eben dieser Widerstreit einen großen Teil der Wirkung der Serie ausmacht. Da keine auktoriale Position zu beziehen ist, befindet man sich beim Betrachten im gleichen Dilemma wie in der eingangs erwähnten Korrespondenztheorie; es gibt auch hier keine einzunehmende Position außerhalb unserer auf die Serie bezogenen Überzeugungen, von welcher aus wir die Möglichkeit hätten, etwaige Übereinstimmungen überprüfen zu können. Erst mit einer solchen Perspektive ließe sich das Bestreben von Jack oder Lock (oder uns) als ironisches Verkennen der Wahrheit entlarven. Denn schließlich entzieht die Polyphonie dem Konzept der Ironie schlichtweg den Boden. Und genau hier ergibt sich auch die Fehlerhaftigkeit der Puzzle-Analogie: bei einem Puzzle weiß man immer, dass am Ende alle Teile in einem zwar unbekannten, aber dennoch bestimmten Bild münden werden. Im Konzept der Polyphonie hingegen ist es bereits fraglich, ob sich die einzelnen Teile überhaupt miteinander verbinden lassen.
Doch hierin könnte letztlich das Dilemma der Serie selbst liegen, dass diese nämlich nur im Status nascendi, im Moment des Entstehens, der Gegenwärtigkeit funktionieren kann. Mit einer am Ende alles erklärenden, geschlossenen Erzählung würde dies polyphone Struktur aufgelöst – in beiderlei Sinne des Wortes - und auf eine simplifizierende Eindeutigkeit reduziert werden. Auf der anderen Seite lesen sich zahllose Beiträge in Blogs dahingehend, dass nichts anderes als eine eindeutige Auflösung am Ende der sechsten Staffel in Frage kommen darf.
foto: buena vista
damon lindelof, j. j. abrams, jeffrey lieber
"lost"
2004-2010
Damon Lindelof, J. J. Abrams, Jeffrey Lieber [Lost]
Bergen [Gegenteil von Stadt]
Sven Regeners Kinder im Geiste bitten zum Tanz: eine wundervolle Dame und sechs junge Herren spielen rumpelig-warmen Folkpop mit knarzenden Gitarren und launigen Trompeten.
"mal’ mir auf ein blatt mit grauschwarzen kästchen das gegenteil von stadt."
(gegenteil von stadt)Mit diesen fast schüchtern anmutenden Worten eröffnet Mario Cetti, Sänger und Kopf des Dresdner Künstlerkollektivs bergen, das erste Stück auf "Gegenteil von Stadt" - und schon befindet man sich inmitten jenes sonderbaren Kosmoses, dessen unendliche Weiten aus Akkordeon, Trompete und Melodika bestehen. Unweigerlich wie unbewusst beginnt der Rezensent bei den ersten Zeilen darüber zu sinnieren, was man Cettis Mal-Aufforderung nun alles entgegensetzen könnte. Gegenteil von Stadt? Hm. Wiesen und Wälder? Ruhe und Ödnis? Und wie soll vor allem letzteres visualisiert werden? Überhaupt: Sonderbar. Mit diesem kleinen Wort lässt sich das Debütalbum von bergen kurz und bündig beschreiben. In einer Zeit, in der mitunter der Eindruck entsteht, dass die Nennung des Produzentennamens bei einer CD-Produktion bald wichtiger ist, als die Nennung des Künstlers, besinnen sich bergen auf naiven, nostalgisch-harmonieseligen, ja fast schon konservativen Folkpop und wissen dabei schrullige Geschichten zu erzählen, wie sie nur das Leben schreiben kann.
Herrlich rumpelnde Folkpop-Perlen im Viervierteltakt
"Gegenteil von Stadt" klingt in seiner Gesamtheit weich und warmherzig, streichelt der gescholtenen Seele immer an den richtigen Stellen durchs lange Haupthaar ohne auch nur den Hauch einer Gegenleistung zu erwarten. Mit anderen Worten, "Gegenteil von Stadt" ist ein von vorne bis hinten liebevoll und feinsinnig arrangiertes Songwriteralbum mit klaren, transparenten Songstrukturen, wie man sie sonst nur von skandinavischen Bands wie Ai Phoenix oder The Concretes kennt. Der herrlich rumpelnde Klangteppich, bestehend aus Gitarre, Schlagzeug, Trompete, Melodika und/oder Akkordeon, trägt den stoischen Flüstergesang Cettis und verbreitet sympathischen Dilettantismus: Leicht schiefe Klaviernoten hier und da sowie Sven Regener-artige Trompeteneinlagen sorgen für den nötigen Charme und Flair. Apropos Sven Regener: Ich wage zu behaupten, wären Element of Crime 20 Jahre jünger, sie würden klingen wie bergen – ungestüm, rumpelnd und kompromisslos romantisch.
Leicht sonderbar scheint auch die siebenköpfige Formation selbst zu sein. Denn entgegen der ersten Vermutung haben sich bergen nicht nach der verregneten norwegischen Künstlermetropole benannt, die u.a. Musiker wie Erlend Øye und seine Kings of Convenience hervorgebracht hat, sondern – man höre und staune - nach einem Ort im oberbayerischen Chiemgau! Die Frage nach dem Warum kann hier wahrscheinlich nur die Band alleine beantworten. Sonderbar ist auch die Tatsache, dass dieses Debütalbum um ein Haar nie erschienen wäre. Denn die Mitglieder sind allesamt Teil des emsig sächsischen Musiker- und Kreativenkollektivs Kumpels and Friends und spielen gleichzeitig in bemerkenswerten Dresdner Bands wie The Gentle Lurch oder Garda, welche im Herbst vergangenen Jahres ihr fantastisches Debüt gaben. Und da in jeder dieser Bands geprobt, aufgenommen, gemischt und getourt werden wollte, musste "Gegenteil von Stadt" erst mal hinten anstehen. Glücklicherweise haben Songs dieses Karats kein Haltbarkeitsdatum! Entstanden ist das Debütalbum dann – wie auch die Alben der beiden Schwestern-Bands – ohne Zeitnot, von den Musikern selbst aufgenommen im gemeinschaftlichen Übungsraum in Dresden. Nur zum Mischen und Mastern gab man das Album schließlich in professionelle Hände.
"Gegenteil von Stadt" ist kein Fast-Food-Alben, das man mal eben "so nebenbei" hören und begreifen kann. Man muss sich darauf einlassen können und sich die erforderliche Zeit nehmen, um in die unterschwelligen Songs hineinzufinden, um die abstrakte Privatsprache Cettis entschlüsseln zu können. Zeit, die man aber dringend investieren sollte, denn es gibt viel zu entdecken in diesem kleinen Folkpop-Kosmos, inmitten von traurigen Frauen in Bädern und Kinder bringenden Störchen der Kleinstadt. Mit Verlaub, ich bin begeistert!
foto: bergen
"gegenteil von stadt"
k+f records, 2009
bergen
Old Splendifolia [...Swaying Boldly Afar...]
Wenn ein deutsches Musikprojekt unter einem japanischen Label in Asien ihr Debutwerk veröffentlicht erweckt das Aufsehen. Jetzt ist das fragil schöne Werk von Old Splendifolia auch in Europa veröffentlicht und verlangt nach gewittrigen Sommernächten.
"pleased to meet you, pleased to meet you too."
(dela cameo)Old Splendifolia, das alte Prachtblatt, das sind Jana Plewa von Kats Kosm und Frank Schültge Blumm, der bisher als F.S. Blumm musikalisch umherstreifte. Sie fanden zusammen als Herr Blumm Worte und eine Stimme für seine bisher instrumentalen Stücke suchte. Er hörte Kats Kosm und mochte was er da hörte. So machte er sich auf die Suche und fand schließlich Jana Plewa und die beiden begannen aus ihren bereits eigenwilligen musikalischen Handschriften eine neue zu formen, die nicht weniger eigenwillig klingt. Und die sich gut auf ein altes Prachtblatt schreiben lässt.
Nach dem Abschleifen einiger Ecken und dem Hinzufügen von neuen, entstand ihr Erstlingswerk „...Swaying Boldly Afar...“. 15 Fragmente, die 41 Minuten um einen herumspielen und die gar nicht recht auseinander zu halten sind. Nicht weil sie alle so gleich klingen, sondern weil sie alle verwoben sind und sich erst nach mehrfachem Hören auch zu eigenständigen Songs entwickeln. Das Verwobene bleibt trotzdem. Und das soll es auch. Die Idee hinter dem Album sei auch, so Jana Plewka, dass es wie eine kleine Reise ist. Von einem Ort zum anderen, von einer Geschichte zu einer anderen. Und am Ende erhascht man vielleicht einen kleinen Einblick in eine schöne Welt, die aber auch nicht frei von Problemen ist. Und das nicht nur textlich, sondern auch musikalisch. Im Vordergrund meist die Gitarre, aber daneben noch zahlreiche andere Klangspiele.
So stehen die Liedgedichte da. Zerbrechlich warm, auch stark, eindringlich und süß, und mit einer in sich rhythmischen Ruhe, die einem die Vorstellung in den Kopf brennt, bei einem Sommergewitter nachts bei geöffnetem Fenster da zu liegen und das Prachtblatt in den Gehörgang flüstern zu lassen. Oder zu anderen besonderen Gelegenheiten, wo nur die Musik und die Ruhe anwesend sind. Und man selbst.
Ein zweites Album ist bereits in Arbeit und erscheint vielleicht noch dieses Jahr. Man darf darauf gespannt sein. Aber erstmal sollte man sich vielleicht das nächste Konzert im "Schokoladen" in Berlin am 26. März ansehen. Und natürlich die CD hören.
Für die Leser, die musikalische Vergleiche zur Einordnung mögen: CocoRosie, aber in akustisch und ohne soviel elektronischen Krach, Psapp und auch ein wenig wie Emiliana Torrini.
foto:
"...swaying boldly afar..."
plop records, 2009
old splendifolia
Shaun Tan [Ein Neues Land]
Fünf Wörter braucht es um eine epochale Geschichte zu erzählen, welche als ein universelles Idealbild eines Miteinanders in einer globalisierten Welt gelten könnte. Der australische Illustrator Shaun Tan weiß, wie man solche Geschichten erzählt.
(shaun tan)Am unliebsamsten sind mir meistens die Comics mit der Unterzeile "Ohne Worte!" Hier ist Pragmatismus gefordert, welcher mit den Bildern einhergeht. Meistens prangt dieses selbsterklärende Hinweisschildchen auf Panels in Lokalzeitungen, welche lediglich ein kurzes Lächeln erzeugen sollen. "Klar", denkt man sich, "diesen Witz habe ich verstanden"! Ohne Spruchbläschen und Gehirn geht es dann weiter zur nächsten Seite. Doch dass das Attribut "Ohne Worte!" für weit mehr stehen kann als für ein lapidares Bilderrätsel, beweist der Illustrator Shaun Tan, der mit seiner Graphic Novel "Ein Neues Land" (Original: "The Arrival"), eine surreale Flüchtlingsgeschichte nacherzählt, welche mit einem Minimum an Text auskommt und trotzdem alles zu sagen vermag.
Im Grunde genommen lassen sich die Wörter, die Tan für seine großformatige Graphic Novel benutzt, an einer Hand abzählen. Sie befinden sich direkt am Anfang, noch bevor man in die Geschichte hineingezogen wird. Zwei für seinen Namen und drei für den Titel. Macht insgesamt fünf Wörter, die eine Story von epischen Ausmaßen erzählen. Nicht ganz so pragmatisch verfährt er, wenn es um die zahlreichen, oft gemäldeartigen Illustrationen in dem 128-seitigen Hardcover geht. Insgesamt vier Jahre soll der in Melbourne lebende Illustrator an den einzelnen Skizzen, Figuren und Panels gesessen haben. In diesen vier Jahren hat sich Tan nicht nur Inspiration bei seinem Vater geholt, der ebenso als Emigrant nach Australien gekommen ist, sondern er hat auch ein Auge auf die großen Flüchtlingserzählungen "The Immigrants" (von Wendy Lowenstein und Morag Loh) und "Tales from a Suitcase" (von Will Davies und Andrea Dal Bosco) geworfen, die nicht nur exemplarisch für Abschied und Neuanfang stehen, sondern auch Episoden aus dem Leben eines jeden Emigranten einfangen. Da wären die Fremdheitserfahrungen, die sich in Sprache, Kultur, Kleidung und Architektur der "neuen Welt" manifestieren. Und außerdem die wandelbaren kulturellen Identitäten, die sich durch den Umstand der Emigration aus den geprägten Strukturen lösen.Ein Blick ins Familienalbum
Ähnlich symbolisch verfährt Tan, der mit "Ein Neues Land" ein verwandtes Szenario einfängt. Der Protagonist, ein junger Vater mit europäischen Wurzeln, verlässt Haus und Hof, um ein besseres Leben für sich und seine Familie in einem fernen Land zu ermöglichen. Mit dem Versprechen, am anderen Ende des Ozeans nach einem festen Job und einem sicheren zuhause für seine Familie zu suchen, betritt er ein Schiff, das ihn in eine fremde Metropole führt, die in jeglicher Hinsicht als eigenartig einzustufen ist. Als Einwanderer registriert, betritt er den fremden Boden, der in naher Zukunft seine Heimat werden wird. Er sieht surreale Bauten, die sich wie amorphe Monumente in der ganzen Stadt wiederfinden. Er erblickt Luftschiffe, fliegende Ballon-Taxen, Dampfmaschinen und Zeitungsjungen, die das aktuelle Tagesgeschehen in Runenform verkaufen. Mit Unsicherheit versucht er sich in den Straßen der Stadt nach einer Bleibe zu erkundigen und stolpert über die Unverständlichkeit der fremden Sprache. Mit sicherer Hand erklärt er seinen Gesprächspartnern sein Anliegen und findet schnell eine Familie, die ihn aufnimmt und schließlich auch einen Job, der ihn zu eigenem Vermögen kommen lässt. In der Zwischenzeit hat er bereits einen Begleiter in Form eines ihm fremden Tieres gefunden, welches nicht mehr von seiner Seite zu weichen scheint. Doch eines lässt ihn weiterhin verzweifeln: seine Familie ist immer noch weit entfernt. Ihm fehlt Frau und Kind, die er so schnell wie möglich wiedersehen möchte.
Doch das Wiedersehen wird noch auf sich warten lassen müssen. Ein zentraler Topos in "Ein Neues Land" ist die Ankunft des Protagonisten im Hafen der fremden Stadt. Dicht gedrängt steht dieser mit vielen anderen auf dem Bug des Schiffes und späht in die Ferne. Die erste Kunde vom Festland bringen zahlreiche Vögel, die das Schiff überfliegen und sofort drängen sich die Reisenden an die Reling, um den Hafen als Erste/r einsehen zu können. In der Ferne erblicken sie zwei monumentale Statuen, die sich einander die Hände reichen - ein symbolhafter Gestus, der nicht nur zur Begrüßung der Neuankömmlinge dient, sondern vor allem ein moralisches Wertebild aufrechterhalten möchte. Viele der nachfolgenden Panels - das einfahrende Schiff im Hafen, die Wartehalle, die Registrierung - basieren auf Originalfotos aus der Sammlung des Ellis Island Immigration Museums, dass, im Hafen vor New York, im 18. und 19. Jahrhundert der Hauptanlaufpunkt für Flüchtlingsschiffe aus Europa und Afrika war.
Home Sweet Home
Tan ist ein Meister des allegorischen Erzählens. Wie ein universelles Sinnbild für die Fremdheitserfahrungen eines jeden Auswanderers wirkt "Ein Neues Land" wie eine Postkarte oder ein Schnappschuss aus einer anderen Welt, mit der man am Anfang nichts anzufangen weiß. Auf dem Vorsatz prangen viele namenlose Portraits von Menschen, die das gleiche Schicksal mit dem Protagonisten zu teilen scheinen. Aufbruchsstimmung und Ungewissheit umfängt die Mienen der vielen Namenlosen. Ehe man sich versieht beginnt man den Portraits eine eigene Biografie zuzuordnen und aufgrund von Kleidung und Erscheinung Rückschlüsse auf die Personen zu ziehen. Doch weit gefehlt: durch das langsame Enthüllen der fremden Eigenarten wird der Leser mit dem Protagonisten auf eine Stufe gestellt. Das Selbst und das Andere scheinen zu verschmelzen und schlagen somit eine Brücke zu der eigenen Fremdheit, die nicht nur negativ konnotiert ist, sondern zum subjektiven Empfinden des Selbst dazu gehört.
Der Protagonist, der nach einem zuhause für seine Familie sucht, findet sich genauso wenig in der unbekannten Welt zurecht wie der Leser, dem die surrealen Straßenzüge der namenlosen Stadt ebenso vor den Kopf stoßen wie den Charakteren. Alles muss man zweimal anstarren, bevor man hinter dessen wahre Bedeutung gelangt. Jenes schafft Verständnis und Akzeptanz und lässt zuletzt die Fremdheit zu einem Miteinander werden. Man entdeckt Eigenheiten, die sich wie vertraute interkulturelle Muster von der einen in die andere Welt übertragen lassen. Und außerdem menschliche Wesenszüge, die auch ohne Worte sagen, dass man stets willkommen ist.
fotos: shauntan.net, carlsen
shaun tan
"ein neues land"
(the arrival)
carlsen 2008
shaun tan
shaun tans neuestes projekt
ClickClickDecker [Den Umständen Entsprechend]
Melancholischer Befindlichkeits-Indie-Pop, der es sich irgendwo zwischen Kettcar und Tomte gemütlich gemacht hat – leider kommt das Ganze fünf Jahre zu spät.
Es gibt Alben, die sind so belanglos und schlecht, dass man sie bei Veröffentlichung am liebsten überhören und an einem vorüber ziehen lassen möchte, dies aber Dank medialer Überpräsenz nicht kann. Dann gibt es solche, in die man sich auf Anhieb verliebt und die man vor Verzückung rauf und runter hört, egal ob medial überpräsent oder nicht. Alben, die mit jedem weiteren hören wachsen und dem Hörer enormen Spaß bereiten. Irgendwo dazwischen gibt es dann noch dieses kleine Sammelbecken an Alben, die man im ersten Moment nicht wirklich zuordnen kann und die einen erst mal irritiert zurücklassen. "Den Umständen Entsprechend" von ClickClickDecker ist eine davon.
Erst die gute Nachricht: Der gebürtige Berliner und seit geraumer Zeit Wahl-Hamburger Kevin Hamann alias ClickClickDecker ist in seiner musikalischen Schaffenskraft mindestens so produktiv wie schizophren. Während er vor kurzem noch gemeinsam mit Norman Kolodziej (besser bekannt als Der Tante Renate) ravige Electro-Clubhits unter dem holprigen Pseudonym Bratze abfeuerte und damit auf den hiesigen Dancefloors für ordentlich Furore sorgte, heult er sich nun wieder als ClickClickDecker mit deutscher Befindlichkeitsprosa aus, wie man sie seit Jahren aus Hamburg und Berlin kennt. Dagegen ist an und für sich auch nichts einzuwenden, nur: "Den Umständen Entsprechend" klingt – und man muss es an dieser Stelle leider deutlich sagen – stilistisch in seiner Gesamtheit wie ein mittelmäßiger Abklatsch der bisherigen Kettcar-Alben, von denen das letzte aber bekanntermaßen auch nicht mehr sonderlich zu überzeugen wusste. Die wiebusch’eske Darbietung Hamanns berührt den Hörer zwar streckenweise inhaltlich wie musikalisch, beeindruckt ihn jedoch zu keiner Zeit. Zu sehr lässt die Produktion Originalität vermissen und zu satt hat man sich an derlei Akkordfolgen in den vergangenen Jahren einfach gehört, als dass sich beim Hören auch nur ein winziges Aha!-Erlebnis einstellen könnte.
„Weggehen bedeutet nicht unbedingt irgendwo anders dann anzukommen…“
(Kevin Hamann alias ClickClickDecker)
Wie schon die beiden Vorgänger, hat Hamann auch sein drittes Album komplett auf seinem Laptop im heimischen Schlafzimmer (=O-Ton Presseinformationsblatt; Warum eigentlich nicht im Wohnzimmer? Weil Hamann in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebt?) (vor-) produziert. Unzufrieden mit dem eigenen Werk (schließlich will man sich ja weiterentwickeln) fasste er aber kurzerhand den Entschluss, sich ins Tonstudio von Station 17 zu begeben, um mit echten Instrumenten und einer Hand voll Gastmusikern (u.a. Tobias Bade und Torben Leske von The Sea) das Album Spur für Spur organisch neu einzuspielen. Ganz auf sein elektronisches Gefrickel konnte Hamann dann aber doch nicht verzichten. So sorgen der ein oder andere Loop und die knisternden Laptop-Beats, die sich im Hintergrund sanft mit echten Drums vermischen, dann doch noch für den gewissen Electro-Flair in der Produktion. Musikalisch dominiert wird das Album aber von Hamanns (bewusst?) schiefem Gesang und der guten alten Akustikgitarre, die in fast jedem Stück ein kleines Stelldichein gibt. Vom Ansatz her ist das auch alles ganz toll und wunderbar, nur bedauerlicherweise fehlen der Scheibe gänzlich die alles entscheidenden Hook-Lines, wie man sie beim Original – also den Kettcar- und Tomte-Aufnahmen – an jeder Ecke findet. Dafür wird der Wohlfühlfaktor ganz groß geschrieben, sofern man sich als Hörer auf das Gesamtwerk einlässt und die Scheibe von vorne bis hinten am Stück durchhört. Aber ist letzten Endes nicht gar das gute Gefühl wichtiger, als die Tatsache, ein halbes Dutzend Smash-Hits auf ein und demselben Langspieler versammelt zu haben? Manchmal vielleicht schon.
Kann ich dieses Album nun also uneingeschränkt anpreisen? Nein, denn für Befindlichkeitsprosa fühlt sich der Rezensent mittlerweile ein kleinwenig zu alt. Aber wer die letzte deutsche Indie-Welle vor gut fünf Jahren verpasst hat (aus welchen Gründen auch immer) oder vom typischen Kettcar-Sound gar nicht genug bekommen kann, dem sei diese Platte hiermit wärmstens empfohlen.
foto: torben iversen
clickclickdecker
"den umständen entsprechend"
audiolith 2009 cd
clickclickdecker
Situation Leclerq [Glåxø]
Mit ihrem späten Debutalbum "Glåxø" liefern Situation Leclerq endlich den Beweis dafür, dass die Jahre, die seit der Bandgründung 2003 verstrichen, nicht vergeudet waren. Heraus kommt eine kleine in Pappe eingepackte Platte für die Disko.
"you better stand, you better talk, you better move when the sun keeps shining."
(freaks)Die meiste Musik ist "nur" Musik für ganz bestimmte Momente. Das ist auch gut so - zu Uzi & Ari fährt man durch die Nacht, bei Kimya Dawson summt man mit und zu den Fotos stimmt man sich auf den Abend ein. Situation Leclerq sind auch nur für ganz bestimmte Situationen da, der Name spricht hier also für sich. Leider beschränken sich diese Situationen auf die wenigen Minuten oder Stunden, die man vor oder besser gemeinsam mit der Band auf der Bühne verbringt. Situation Leclerq bedeuten Gehüpfe - und entgegen des ersten Eindrucks auf sehr hohem Niveau.
Von The Rapture über Hot Chip bis hin zu Whitest Boy Alive, The Notwist und The Postal Service lässt sich alles wiedererkennen. Situation Leclerq ordnen sich selbst irgendwo zwischen Indie, Electronica und New Wave ein. Die Vergangenheit als Emo- und Indie-Band "Byron" ist zwar kaum noch zu spüren, aber ein kleiner Rest ist geblieben; schließlich wollte die ursprüngliche Besetzung nicht ganz von vorn anfangen, sondern lediglich ein paar Käfige sprengen, die die Emomusik so mit sich brachte. Das haben sie geschafft. Glåxø ist ein gelungenes Musikexperiment, möglichst viele Stile, Zitate und Synthezier zu mischen. Jetzt dominieren schmatzende Akkorde, pfeifende Töne, springende Beats und vibrierende Bässe. Sie reisen mit dem Tanzenden durch die 80er und die 90er bis heute. Situation Leclerq sind zeit- und grenzenlos.
Live blühen die vier jungen Männer (Shaun Hermel, Nils Nordmann, Robert Witoschek und Sascha Cammarota) zu den Stars der deutschen Indieszene auf, mit ihrer Hilfe knattern und wackeln ganze Wände, die Massen schreien, hüpfen, drehen sich, und das am besten neben den teuersten Boxen. Da wird es garantiert nicht langweilig. Die Band trat nicht umsonst mit Gruppen wie Zoot Woman, 2raumwohnung, Tocotronic, MIA, Ratatat, Seachange und Whitest Boy Alive auf, zur Zeit geht es durch ganz Deutschland bis nach Luxemburg. Kein Wunder, dass Songs wie "Shiny Boots" jedem Clubbesucher schon einmal im Ohr hingen. Nur schade, dass tanzbare Musik tiefgründigere Lyrics gleich auszuschließen scheint, denn Situation Leclerq geben auf Myspace selbst zu, dass die Texte im Hintergrund stehen.
Einige Differenzen zwischen den Mitgliedern, verschiedene Identitätskrisen und Trennungen sind die Gründe, weshalb Situation Leclerq erst fünf Jahre auftraten und so dies und das schrieben, bevor sie ein richtiges Album produzierten. Ein Demotape in bemerkenswert gutem Artwork war der Preis für den ersten Platz beim Lado-Nachwuchswettbewerb und erschien zwar bereits 2006, zum Release kam es aber leider nicht. Deshalb haben Situation Leclerq diesen selbst in die Hand genommen. Sie wussten außerdem: Wenn wir nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort spielen, lässt das Label nicht mehr lange auf sich warten. Und so war es. Das Label Alison Records nahm sich den Hannoveranern an - und kann sich glücklich schätzen. Bisher fielen die (eher spärlichen) Kritiken sehr gut aus, und auch die intro schrieb: "Eigentlich wusste man es ja immer schon: Hannover hat doch ein bisschen mehr zu bieten als die gleichnamige Industriemesse, Klaus Meine und eine Expo-Brache".
Derjenige, der sich von Situation Leclerq jedoch auch zu Hause mehr erhofft, wird enttäuscht werden. Die Band ist trotz allen Lobes eine kleine Vereinigung von Menschen, die DJs sind und bleiben werden. Das hört man beim Hören, weshalb einem daheim schnell die Lust vergeht. Da muss dann eben doch wieder was anderes her.
Das besonders Gute ist, dass Situation Leclerq selbiges auch sehr wohl wissen und provozieren: Irgendwann werden sie in Paradiesvogelkostümen auftreten, um zur Abwechslung Klischees zu erfüllen, sagten sie in einem Interview mit Crazewire.de. Außerdem kamen mit der Promo-CD liebevoll geklebter Glitzerstaub, Goldkügelchen und viele bunte Sterne, wie sie bereits das Demo berühmt machten. Die werden aus meinem Teppich noch Jahre nicht weggehen. Deswegen ist Situation Leclerq jetzt doch nicht nur im Club, sondern irgendwie auch bei mir zu Haus daheim.
Tanzempfehlungen: "B.O.O.K.S." und "Homevideo".
foto: alsion records
situation leclerq
"glåxø"
alison 2009 cd
situation leclerq
Mike Mignola [Hellboy]
Seit 1992 lässt Mike Mignola seine Gruppe paranormaler Ermittler im Dienste einer geheimen US-Behörde auf das Unheimliche in der Welt los. Im Zentrum dieser Geschichte steht der horngestutzte Hellboy.
"don't mess with me lady. i've been drinking with skeletons."
(hellboy)Von Beginn an, als Mike Mignola seinen Charakter Hellboy auf der San Diego Comic Convention 1992 vorstellte, beeindruckte dieser außerordentlich und vor allem nachhaltig. Dies begründet sich, so scheint sich die Fachwelt im Nachhinein einig, in zweierlei Aspekten: Zum einen weiß Mignola – in der ersten Episode noch maßgeblich von Kollege John Byrne unterstützt – seine Geschichten gekonnt mit geschicktem Wortwitz und sich sorgsam entfaltenden Spannungsbögen zu erzählen. Er bemüht sich, seine Charaktere langsam und sorgsam zu entwickeln und gibt ihnen, sich selbst und den Lesern die nötige Zeit dazu. Zum anderen ist sein holzschnittartiger, mit Schlagschatten versehener, kontrastreicher und kantiger Zeichenstil ein wahrer Augenöffner. In seinem kreativen Ideenreichtum wird er gar von Altmeister Alan Moore mit Jack Kirby und dessen wegweisenden Illustrationen verglichen. In der Welt der Comicindustrie ist Mignola als Autor und Zeichner seiner eigenen Reihe durchaus untypisch. Doch ist dies nur die mit Anerkennung überschwänglich gelobte Form, die ohne den mit ihr verknüpften Stoff nicht erdenklich ist: Hellboy. Der schöpferische Akt der Kreation dieses Antihelden im Dienste des geheimen US-Amerikanischen Bureau for Paranormal Research and Defense – kurz B.P.R.D. - samt dessen skurrilen Welt kann nicht hoch genug gelobt werden. Im eingespielten, von Marvel und DC dominierten Markt, ist das Etablieren einer eigenen Figur und ihrer Welt, der Schaffung eines neuen urabnen Mythos im Stile Bat-, Super- oder Spidermans und deren kohärenter Sekundärwelt, eine Seltenheit. Selbst wenn Dark Horse, der publizierende Verlag, der drittgrößte auf dem US-Amerikanischen Markt ist, beträgt deren Anteil an Veröffentlichungen und Umsatz verschwindend geringe vier Prozent. Hellboy bleibt damit ein Phänomen, welches Moore lobend einen „Juwel von beachtlicher Größe und überraschendem Glanz“ beschreibt. Für Mignolas Talent und der Begeisterung an seiner Schöpfung spricht letztlich auch, dass sein hellboy vom Empire Magazin auf Platz 35 der „Top 50 Greatest Comic Book Characters“ aller Zeiten gesetzt wurde. Binnen gut 15 Jahren ist er bereits in der Lage Spawn, Green Lantern und gar New Yorks blinden Rechtsanwalt Daredevil auf die Plätze zu verweisen.
Der über zwei-Meter große, hühnenhafte, rothäutige, gelbäugige, gehörnte, rauchende, fluchende, fürchterlich starke und kaum klein zu kriegende Hellboy fand seinen Ursprung in „unserer“ Welt – so erzählt es sein Mythos im Prolog zu "Seed of Destruction" - als winziges Geschöpf, welches aus einer anderen Dimension in die unsere gelangte. Ein Unfall, so erscheint es zumindest zunächst, der von einer kleinen Gruppierung von Nazis am Ende des Ersten Weltkrieges verursacht wurde. Ein halbes Jahrhundert später ist der ausgewachsene „Vorfall“ teil eben jenes streng geheimen B.P.R.D. und widmet sich der Aufgabe, paranormalen Aktivitäten nachzugehen. „When things go bump in the night, we are the ones who bump back.“ Hellboy und die weiteren obskuren Agenten der Behörde – wie der Fischmensch Abe Sapiens oder die pyrokenetisch begabte Liz Sherman – agieren dabei als eine Mischung aus dem nach archäologischen und mystischen Geheimnissen suchenden Indiana Jones – vgl. auch die Nazi Schergen - und den sich mit parapsychologischen Phänomenen herumplagenden Agenten Mulder und Scully.
Mignola verzichtet beim Erzählen weitgehend auf einen kontinuierlichen Storyverlauf und unterbricht die gegenwärtigen Ereignisse der Fabula immer wieder durch kurze, in der Zeit springende Erzählungen und Rückblenden und nährt sich hierüber langsam der Geschichte und Gegenwart der einzelnen Charaktere und deren Konstellationen an, ohne dabei die Kohärenz seiner Welt aufs Spiel zu setzen. Durch den daraus resultierenden episodenhaften Stil einzelner One-Shot Stories gelingt es Mignola außerdem, seine Liebe für Pulp Geschichten, Lovecraft'schen Horror, Poe'sche Düsternis, sowie Märchen und Folklore in die eigenen Werke einfließen zu lassen. So findet sich der große rote Kerl im knittrigen Trenchcoat immer wieder in intelligenten Interpretationen zahlreicher Volksmythen wieder und wird mit Sagengestalten aus aller Welt konfrontiert, wie der slawischen Baba Jaga, die bei Mignola sowohl die Figur der bösen Hexe als auch der esoterischen Auffassung als Muttergöttin in sich vereint.
Gerade vor dem Hintergrund, dass ein wesentliches Erfolgsmerkmal der Reihe die einprägsamen und charateristischen Zeichnungen sind, hat sich der deutsche Lausch-Verlag auf ein heres Wagnis eingelssen: der Verarbeitung der mignolschen Erzählungen als Hörbuch. Neben den franchise Verarbeitungen wie Del Torros jüngste Blockbusterverfilmungen und der dichter an den Comics angelehnten Animationsfilme, ist dieser Ansatz ein originär Neuer. Dass die Macher durchaus einen ambitionierten Ansatz verfolgen wird nicht zuletzt durch die hauptsächlich orchestrale Musikuntermalung und durch den Gewinn der gesamten Synchronsprecherriege, die den Charakteren auch in eben erwähnten Filmen ihre Stimmen verliehen hat. Was das rein akustische Medium per definitionem an bildlicher Sprache einbüßen muss, versucht es durch die atmosphärische Klanggestaltung wett zu machen. Was im Comic durch zwei, drei Panel angedeutet wird und sich der Leser induktiv erschließen muss, wird hier sowohl musikalisch als auch sprachlich artikuliert. Man ist bestrebt die original Dialoge zu übernehmen, die inneren Monologe der einzelnen Charaktere glaubhaft zu inszenieren und schmückt lediglich jene Passagen der Erzählung detailreich aus, welche im Original nur Angedeutet oder durch kurze Verweise hervorgehoben werden. Dies gelingt überraschend gut, wenn auch einige kleine Unstimmigkeiten übersehen wurden; So dient Hellboy etwa auch an den Stellen als Erzähler, von denen er als Hellboy schlichtweg nichts wissen kann. Doch die Artikulation ist oftmals zu präzise, schließt jene Leerstellen, die Mignola mittels seinen Zeichnungen bewusst eröffnet. Dem Medium Comic gelingt es in dieser Hinsicht dem Betrachter oft unterschätzte Projektionen jenseits der Sprache anzubieten und es scheint mir naiv zu glauben, man könne mit Worten eben all jenes nicht nur adäquat, sondern gar klarer und deutlicher ausdrücken. Ebenfalls fraglich ist, weshalb die bislang veröffentlichten Erzählungen „Seed Of Destruction“ und „Wake The Devil“ jeweils als zwei Teile separate verkauft werden, wo eine Doppel-CD sicherlich käuferfreundlicher gewesen wäre.
Die Hörspiele sind vielleicht ein interessanter Einblick in Mignolas Werk für all jene die den Funny-Books distanziert gegenüberstehen, dem Medium Hörspiel gegenüber jedoch offen sind. Doch ist die Comic-Reihe selbst eine klare Empfehlung. Oder, um es mit Alan Moore zu sagen: „Sit down and knock it back in one, then wait for your reading experience to undergo a mystifying and alarming transformation. Hellboy is a passport to a corner of funny-book heaven you may never want to leave. Enter and enjoy."
foto: christine mignola / illustration: mike mignola
mike mignola
"hellboy"
dark horse comics
cross cult verlag
lausch 2008
mike mignola
600 Wörter [Achtjährige sind die ewigen 68er]
Achtjährige sind die ewigen 68er – was wir von Ihnen lernen können
ODER: Jetzt oder nie: Anarchie!Die Welt ist schlecht. Soweit nichts Neues. Politiker sind korrupt, Manager gierig, Frauen immer schon vergeben. Gegenstrategien versprechen statt Veränderung höchstens Lob fürs Engagement und wenn’s schlimm kommt einen Platz in der Neon-Liste der 100 wichtigsten Deutschen. Geschenkt. Zeit sich zu besinnen. Wir feiern in diesem Jahr 40 Jahre 68, jener kruden Phase der Politikentschlossenheit, einer wie auch immer gearteten Kulturrevolution, eine Jahreszahl, die für mehr Assoziationen herhalten muss als manche Jahrhundert. Wie viele Bilder assoziieren wir mit dem 13. Jahrhundert?
1968 gab es in den USA einen Revoltefachmann namens Jerry Rubin. Er trug die Haare lang, nahm Drogen, setzte sich für die Black Panther ein. Ein agitierender Bud Spencer an der Seite von LSD-Guru Abbie Hoffmann. Zwar schnitt er sich nach dem Ende des Vietnamkriegs den Bart ab, wurde vom Yippie zum Yuppie, Börsenmakler an der Wall-Street und später vom Auto überfahren (Leben und sterben auf der Straße, sic!), doch eine Parole seines Agitprop-Bändchens „Do it – Scenario für die Revolution“ ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. „Unsere Führer müssen die Achtjährigen sein!“
Nun gut, nicht jeder Kevin-Leon und jede Britney-Jaqueline hätte das Zeug zum Che. Dennoch hat dieses Bild etwas Faszinierendes. Denn ja, die waren Anarchisten sind acht Jahre alt. Erinnern wir uns: Wir, ein paar Kinder aus dem Plattenbau, zusammengewürfelt wie Gemüsesorten beim mütterlichen Reste-Reis-Risotto. Wir stopften uns mehr Kaugummi in die Münder als hineinpasste, stahlen Smarties im Edeka Wucherpfennig („Wer so heißt, muss beklaut werden!“) tranken Cola bis wir durch die Nase sprudelten und rülpsten. Überhaupt rülpsen. Wir rülpsten in Supermärkten, wir rülpsten in der Fußgängerzone, rülpsten an Straßenbahnhaltestellen. Autoritäten waren uns fremd. Wenn wir nicht rülpsten spuckten wir, warfen mit Süßigkeiten und hauten „Ich muss um acht zu Hause sein“-Jochen eine rein. Nur zum Spaß. Wir traten Mülleimer um, warfen mit verfaulten Äpfeln und abends, wenn es dunkler wurde und Jochen sich ins holunderfarbene Bettzeug verkroch, gingen wir auf die Laternen los. Ein Knallen, ein Krachen, ein Kinderlachen!
Wir hatten Waffen, Bomben, Kriegspläne, wir hatten nichts zu verlieren. Wir versenkten unsere Köpfe in Wassermelonen und kruden Ideen, wir bauten aus Moddermatsch Panzer und aus Überraschungseierhüllen mit wenig Wasser und Backpulver kleine Sprengkörper. Wir waren nicht aufzuhalten. Wir waren Großstadtindianer und Häuserschluchtsoldaten, Panzerknackerrubbelbildträger und Barbiepuppenfrisöre, wir waren Kellerspielkinder und Straßentennisweltmeister, wir waren die bessere BMX-Bande (Nicole Kidman mit roten Locken ging ja mal gar nicht) und die Skatebordjugendgang, die immer zu laut war, wir waren Dosenfußballkoryphäen, Kaugummiautomatenkiller, Stromleitungsbewerfer und Telefonzellenpinkler, wir waren Autospiegelabtreter und Wandbeschmierer und vor allem waren wir nicht verantwortlich. Wir lebten Anarchie, unsere Träume, die Freiheit.
Unsere Eltern glaubten uns zu kontrollieren, dabei kontrollierten wir sie, bestimmten über ihren Tagesablauf, ließen uns von ihnen chauffieren. Die Politiker gaben uns Geld, allein weil wir Kinder waren, schafften Einrichtungen, in denen wir uns mit anderen Kindern zusammenschließen konnten, und versicherten immer wieder: Kinder sind unsere Zukunft!
Wir hatten längst gewonnen. Wir waren frei. Die Welt mochte schlecht sein, unsere war es nicht. Wir waren selbst korrupt und gierig genug, um alles zu bekommen, was wir wollten. Frauen? Sie küssten uns, schmusten und betonten immer wieder, wie groß wir schon geworden wären. Wir hätten sie alle haben können.
Zurück ins Jahr 2008. Rubin hatte Unrecht. Die Achtjährigen müssen nicht unsere Führer sein, sie sind es längst. Und uns Älteren bleibt nur die Kooperation. Wir können uns einschleimen und ihnen nacheifern.
Das macht die Welt vielleicht nicht besser – aber spannender. Leben wir unsere Träume, versenken wir unsere Köpfe in Wassermelonen und kleben wir uns Panzerknackerrubbelbilder auf die Arme. Und wenn uns 1968 und dieser kleine Erinnerungstrip etwas lehrt, dann das Frauen auf Outlaws stehen. Auf zum Klingelstreich!
Matthias Glasner [Der Freie Wille]
Ein Film von Matthias Glasner über Theo und Netti. Über Einsamkeit und Zweisamkeit. Zwischen triebhafter Brutalität und liebevoller Hingabe, menschlichen Abgründen und ersehnter Normalität. Ein Film über zwei Menschen die gemeinsam bis zum konsequenten Ende gehen.
(theo)In "Der freie Wille" spielt Jürgen Vogel den Sexualstraftäter Theo Stoer, der nach neun Jahren Maßregelvollzug in der Normalität des Alltags Fuß zu fassen versucht und trotz aller Kraft und Bemühen letztlich an sich selbst, seiner Angst und seinem Trieb zu scheitern droht.
Für mich ist dieser Film einer von den Guten, den wirklich Guten. Ein Film der dem Zuschauer nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern ihn ebenso packt, fordert und vielleicht sogar auch herausfordert. Diese Idee der Herausforderung erscheint einem sogleich einleuchtend, sobald man sich die Anfangssequenz anschaut. Theo überfällt tagsüber in einer abgelegenen Dühnengegend eine junge Radfahrerin und vergeht sich sexuell an ihr.
Nein... eigentlich müsste man es so bezeichnen, wie es dem Zuschauer tatsächlich auch präsentiert wird: er vergewaltigt sie. Er dringt triebhaft plump in die junge Frau ein, spuckt sich zwischenzeitlich auf Zeige- und Mittelfinger um es seinem Treiben zu erleichtern und schlägt ihr sogleich mehrmals kräftig ins Gesicht. Völlig gedankenlos und losgelöst von jeglichem menschlichen Verstand vergeht er sich an ihr. Und ich muss sagen: all diese Worte können nicht ansatzweise das Gefühl beschreiben, welches der Zuschauer wohl empfinden mag, wenn er mit dieser Szene konfrontiert wird.
Nach neun Jahren in einer Maßregelvollzugsanstalt und drei vergewaltigten Frauen wird Theo in eine betreute Wohngemeinschaft entlassen, mit dem ehrlichgemeinten Ziel für sich und sein bisheriges Leben einen Neubeginn zu wagen: „Ich will zeigen, dass es möglich ist ein gesundes, normales Leben zu leben, auch wenn man mal falsch angefangen hat.“ Dem Zuschauer begenet Jürgen Vogel als Theo Stoer nach seiner Entlassung mit einem völlig veränderten Auftreten. Nicht nur die ins Gesicht hängenden Haare, die Bomberjacke und Jogginghose sind weg, sondern auch der bezeichnend schwere, beinah nach vorne fallende Gang ist verschwunden.
Der scheinbar „neue“ Theo wirkt auf den Zuschauer wie ein normaler junger Mann, der bereit ist eine Arbeit zu finden, ihr gewissenhaft nachzugehen und auch sonst ein ganz normales Leben zu führen.
Doch trotz festem Job, festem Wohnsitz, einem zeitweilig guten Freund als Ansprechpartner und einer Kampfsportart zum inneren Ausgleich, spürt Theo immer mal wieder seinen Trieb, das gewisse Verlangen. Dennoch beharrt er darauf alles in den Griff zu bekommen und ist beinahe besessen davon, das zu werden, was er sich als Ideal gesetzt hat: ein stink normaler Mann mit einem stink normalen Leben. Weg vom Trieb, hin zum Leben!
Zeitgleich schafft es Netti (Sabine Timoteo), die Tochter von Theos Chef, sich nach 27 Jahren von ihrem besitzergreifenden Vater zu lösen. Eines Tages lernen sich Netti und Theo persönlich kennen und verlieben sich einige Zeit und Probleme später auch ineinander. Doch zunächst sind sich beide mehr als suspekt und gehen keineswegs menschlich aufeinander ein. Netti will Theo klar machen: „Pass auf, das hier bringt nichts. Ich mag Männer nicht und ich will auch keinen in meinem Leben. Wir können uns also die ganze Unterhaltung sparen!“ „Trifft sich gut, ich mag Frauen auch nicht so besonders“, setzt Theo ihr entgegen und macht dem Zuschauer gleichzeitig klar, dass mit dieser kurzen Konversation ihre gemeinsame Geschichte nun beginnt. Die Zeit zwischen den beiden scheint beide völlig zu verändern. Sie gehen aufeinander ein, wirken wie ein ganz normales, verliebtes Paar, dass eine harmonische Beziehung zu führen scheint. Doch Theo und Netti müssen sich schnell eingestehen, dass sie beide gebrannte Kinder sind. Theo, der sich stets mit seinem Verlangen auseinandersetzen muss und Netti, die versucht über die psychischen Misshandlungen ihres Vaters hinwegzukommen. Zusammen ergibt ihre Beziehung eine komplizierte, aber für den Zuschauer zugleich romantische Liebesgeschichte, die beiden Figuren zunächst Halt und Wohlbefinden schenkt.
Doch als Theo erneut seinem Trieb erliegt und eine weitere Frau brutal vergewaltigt, erkennt er, dass es nie aufhören wird, er immer und ausausweichlich mit seinem Verlangen konfrontiert sein wird. So sehr er sich auch um Besserung bemüht, er fühlt sich gefangen in seinem eigenen Körper und zu schwach, um gegen sich selbst anzukämpfen. Theo entscheidet sich dazu, Netti seine bisher verschwiegene Vergangenheit zu erzählen. „Bevor ich hierher kam, da war ich neun Jahre weggesperrt. Ich hab drei Frauen vergewaltigt. Erst hab ich sie verprügelt und dann hab ich sie gefickt. Eine hab ich ausgezogen und auf'n heißen Herd gesetzt. Ich wollte, dass alles gut ist zwischen uns. Dass es aufhört. Aber das is’ hier drinnen. Immer. Immer. Und es hört nicht auf, das weiß ich jetzt. Hörst du das? Ich weiß, dass es nie aufhört.“
Mit dieser Ankündigung trennt sich Theo von Netti und lässt sie weinend und schreiend hinter sich. Er will sie aus ihrem Leben streichen und seine Liebe zu ihr unterdrücken. Für ihn scheint das realisierbarer als sein Verlangen nach Frauen zu unterdrücken, an dem er sich gescheitert fühlt.
Es läuft einem kalt den Rücken und das Herz hinunter, wenn man sich vorstellt, dass Nettis Liebe so eine Große ist, dass sie Theo gehen lässt. Bevor er sich selbst verliert, verliert sie lieber ihn. Den jungen Mann, der an sich selbst gescheitert ist und mit dem Gedanken nicht leben wollte, dass es niemals ein Ende nehmen wird. Netti war die erste Frau, bei der Theo nicht primär auf der Suche nach sexueller Befriedigung war. Er suchte Nähe, menschliche Nähe, und fand diese bisher ungespürte Zuneigung bei ihr, die sie ihn bis zu seinem Ende spüren ließ. Seine Erfüllung war, dass es einen Menschen in seinem Leben gab, der für ihn zutiefst bedeutsam war.
Dieser Film ist alles was ich mir wünsche: Alles und nichts zugleich. Schockierend und beeindruckend. Schonungslos und konsequent. Erlösend und fast unerträglich. Er ist einer von den Guten!
foto:
matthias glasner
"der freie wille"
2006
K&F Records
Noch ist Dresden nicht der Folk-Nabel der Welt. Aber das könnte sich schon bald ändern, denn das junge Dresdner Independent-Label K&F Records bietet talentierten Singer/Songwritern eine musikalische Heimat und schielt dabei ungeniert über den großen Teich.
"k&f records heißt nicht, dass hier die ganze zeit ein einzelner mann zur akustischen gitarre
weint, sondern bezieht auch breitwandigere bandformate mit ein."
(mario cetti und lars hiller)Nach dem großen weiten Amerika soll der Label-Sound klingen: anmutend, episch, countryesk und sich zuweilen in den Unweiten der Electronica verirrend. Das jedenfalls haben sich Mario Cetti und Lars Hiller vom Dresdner Independent-Label K&F Records groß auf die Fahnen geschrieben. Hervorgegangen aus einer Künstler- und Kreativ Gemeinschaft, welche bereits seit einigen Jahren als Bookingagentur und Veranstalter von Dresden aus die Fäden zieht, will man zukünftig auch das Label „K&F“ wachsen lassen, dabei aber die regionalen Wurzeln nicht aus den Augen verlieren. Gleichzeitig möchte man sich aber auch nationalen wie internationalen Künstler nicht verschließen, sondern stattdessen Türen und Ohren offen halten. Die ersten beiden Band-Veröffentlichungen des Labels, die in Zusammenarbeit mit Broken Silence erschienen sind, stammen von The Poem is You und Garda.
Letzt genannte Formation setzt sich aus einem bunten Musikerkollektiv um Sänger und Texter Kai Lehmann zusammen. Gardas Grundidee, minimalistische Songs zu schreiben, die allein durch Lehmanns zerbrechliches Organ und einer Akustik Gitarre getragen werden, wurde schnell verworfen und die Stücke im Studio mit Streichern, Piano, Bläsern und Klarinette arrangiert. Das Schöne daran: Die Songs würden immer noch mit spärlicher Instrumentalisierung funktionieren, denn Lehmanns Stimme kann flüsternd schreien, so wie das vor ihm in jüngster Vergangenheit nur Damien Rice und Conor Oberst perfektioniert haben. Und so dürfte es dann auch kein Zufall sein, dass die Musik von Garda durchgehend wie eine geniale Mischung aus Bright Eyes und Damien Rice klingt. „Die, Technique, Die!“ gehört auf jeden Fall mit zu den besten Herbstplatten des Jahres 2008 und es ist eigentlich eine Schande, dass diesem wunderbaren Album nicht die mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde, die sie verdient gehabt hätte.
Anders, aber kein bisschen schlechter, klingt die sechsköpfige Multi-Kulti-Truppe von The Poem is You, die auf „The Promised South“ feinsten Neo-Folk-Rock zelebriert. Hier werden zu lebensbejahenden Cowboyhymnen sympathische Verlierertexte gedichtet und die Vocals auf charmante Weise abwechselnd von beiderlei Geschlechtern vorgetragen. Elf verschrobene Kleinode sind so in kürzester Zeit entstanden, die in ihrer Gesamtheit süßer nach Western schmecken als eine honigverschmierte Bärenpfote.
Noch in den Startlöchern bei K&F Records steht eine Formation mit dem idyllischen Namen „bergen“, in der u.a. die beiden sympathischen Label-Betreiber selber zu Klampfe und Trompete greifen und rumpelnd warmen Folkpop zum Besten geben. Musikalisch wie textlich wandert man hier eng auf den Pfaden der großen Element of Crime. Für uns jedenfalls Anlass genug, um mit den beiden Labelbetreibern und Musikern ein kleines Gespräch zu führen.
Was hat euch beide dazu veranlasst, in Zeiten der globalen Musikkrise allen Unkenrufen zum Trotz in diesem Haifischbecken als Labelbetreiber aktiv zu werden? Und wofür steht in diesem Zusammenhang eigentlich die Abkürzung „K&F“?
Mario Cetti: "Die Unkenrufe haben wir zunächst einfach ausgeblendet. Wir sind in Sachen Musik leicht bekloppt und wussten einfach, dass wir das mit dem Label jetzt einfach angehen müssen. Von so was träumt man als selbst musizierender Mensch ja schließlich schon seit Blockflöten-Musikschul-Tagen."
Lars Hiller: "Das mit Haifischbecken hatten wir uns übrigens gar nicht so schlimm vorgestellt, wie wir es nun erleben. Wir waren selbst überrascht, wie wenige Platten heutzutage tatsächlich nur noch verkauft werden. Ich bin allerdings auch immer noch der Meinung, dass da etwas grundlegend schief läuft und sich vielleicht auch irgendwann wieder einrenkt. Musik zu produzieren und zu veröffentlichen kostet etwas und eine MP3, die man mit zwei Klicks kopiert hat, spiegelt da beim Konsumenten einfach keinen Wert wider.
Das Hauptproblem ist aber, glaube ich, ein anderes. Es gibt zu viele Bands. Die erste Generation Rock-Musiker ist ja gerade erst dabei abzutreten. Seither kamen kontinuierlich weitere dazu, mehr jedenfalls, als aufgehört haben. Die Kunstform ist überbevölkert. Es ist schon schwer, sich aus der Flut neuer Veröffentlichungen überhaupt herauszuheben.
Da wir beileibe auch kein großes, umsatzstarkes Label sind müssen wir da aber auch nicht so viel erreichen. Allerdings ist es schon ein wenig frustrierend, in welch geringem Maße man von den etablierten Musikmedien wahrgenommen wird. Das Album von Garda könnte tatsächlich viel mehr Menschen, als nur einen kleinen Kreis Eingeweihter glücklich machen, aber Qualität allein reicht leider nicht, um in der Musikpresse berichtet zu werden. Da sollte man nach gerade mal einem Jahr Label-Arbeit aber auch nicht zu viel erwarten."
MC: "K&F entlehnt sich im Übrigen von unserem Mutterschiff, den 'Kumpels and Friends“' Das ist eine Art Kreativgemeinschaft, die ursprünglich aus dem Erzgebirge kommt und heute im Dresdner Raum Booker, Bands, Grafiker, Filmemacher, Comic-Zeichner oder Werbemenschen vereint. Man kennt und mag sich untereinander und hilft sich gegenseitig und kostenfrei beim Umsetzen diverser Projekte."
LH: "Die Reduktion des Namens soll das Ganze einerseits offener, irgendwie neutraler klingen lassen, so dass eher die veröffentlichte Musik den Namen langsam mit Bedeutung füllt. Schließlich gibt es kaum etwas nichts sagenderes, als zwei Buchstaben als Name einer Sache. Außerdem wollten wir auch ein Stück weit weg von dem ursprünglichen Kumpels-Gedanken, eine Linie ziehen zwischen reiner Freundschaft und Kunst. Das ist wichtig für die Qualität auf dem Label. Idealerweise jedoch sollte beides zusammenfallen."
Viele Independent-Labelbetreiber werden vom Idealismus angetrieben, Musikkunst unter das Volk zu bringen, was ihnen dann beim Kreditgeber der hiesigen Bank zumeist nur ein gequältes Lächeln einbringt. Wie schwierig war es einen finanzkräftigen Partner für K&F Records zu finden, oder läuft die Finanzierung derzeit noch komplett über private Mittel?
LH: "Leider gibt es hierzu nicht allzu viel zu sagen. Es ist der pure Idealismus, finanzkräftige Partner sind weit und breit nicht in Sicht. Das Ganze finanziert sich aus privaten Ersparnissen. Die Idee ist auch nicht die, davon irgendwann reich zu werden, es würde auch schon reichen, beständig schwarze Zahlen zu schreiben. Das ist ja auch heute noch ein realistisches Ziel."
K&F Records ist im Großen und Ganzen für Singer/Songwritermusik reserviert, wie es auch aus eurem Pressetext sehr schön zu entnehmen ist. Gibt es in Deutschland, oder wo auch immer, ein vergleichbares Label, dass musikalisch eine ähnliche Philosophie fährt wie ihr und an dem ihr euch orientiert?
LH: "Ganz so sklavisch folgen wir der Singer/Songwriter-Idee dann auch nicht, aber es lässt auch nicht verhehlen, dass wir beide ruhigere Musik ganz gerne haben. Eine weitere Grundidee ist die, dass es auch in Deutschland Bands geben sollte und geben darf, die diese Art von Musik spielen und dabei glaubwürdig klingen. In Skandinavien ist das akzeptiert und sogar erfolgreich, in Deutschland rümpft man da eher die Nase, wenn eine Band zu amerikanisch klingt. Aber gerade an diesen urbanen deutschen Wohnzimmer-Folkpop kann ich selbst auch nicht so richtig ran."
MC: "Ich schon eher. Ich spiele in einer solchen Band. Zum Thema andere Labels fällt mir ein bisschen Glitterhouse ein, wenngleich die sich gefühlt ja eher an die alten Zausel und Familienväter wenden. Und das meine ich hier durchaus positiv. Uns verorte ich da doch ein gutes Stück jünger. Von der Organisation her mag man vielleicht noch Sinnbus nennen. Die machen musikalisch zwar was komplett anderes, wurzeln aber in einem ähnlichen Kollektiv-Gedanken."
Worauf basiert eure Affinität zu Genres wie Folk, Americana und Country? Gab es ein konkretes Erlebnis, das euch zu dieser Art von Musik brachte oder wie kam es dazu?
LH: "Die Nähe zu den besagten Genres resultiert daraus, dass wir beide schon länger in Bands spielen, die solche Musik machen. Dort haben wir mit der Zeit Freunde gefunden, eine Art Zuhause."
MC: "Das hast Du schön gesagt! Außerdem hast du mir vor Jahren mal ein Mixtape gemacht, das meiner musikalischen Sozialisation nochmal einen ganz neuen Impuls gegeben hat. Gebe ich ungern zu, war aber so."
Das Herzstück jeder Labelarbeit ist die Auswahl der „richtigen“ Künstler, welche im Idealfall dafür sorgen, dass durch die Veröffentlichung der Alben über die Kostendeckung hinaus ein Ertrag erwirtschaftet wird, um weitere Releases realisieren zu können. Wie geht ihr im Bereich A&R vor und nach welchen Kriterien entscheidet ihr, was gesignt wird und was nicht?
MC: "Nachdem wir mit den Kumpels and Friends ja auch viele Herzens-Bands beim Booking betreuen, fragen wir da auch manchmal gleich unverschämt nach, ob die nicht auch noch Lust auf ne Platte mit uns haben. Bei Garda oder The Poem is You war das zum Beispiel so. Ansonsten ist uns große musikalische Eigenständigkeit wichtig. Wir mögen keine Bands, bei denen uns beim ersten Hören bereits dreiundzwanzigeinhalb Referenzgruppen einfallen."
Zum Abschluss möchte ich mit euch noch einen kurzen Ausblick auf das Jahr 2009 wagen. Laut Pressetext werden im kommenden Jahr die (Debüt?-)Alben von „The Green Apple Sea“ und „Rumen Welco“ erscheinen. Sind weitere Veröffentlichungen in 2009 geplant? Wird darüber hinaus „The Sound of Bronkow – Vol. 2“ erscheinen, oder wie sind eure Compilation-Ambitionen?
LH: "2009 beginnt mit einem Album der Band bergen, auch von hier aus Dresden. Dann wird es ganz sicher ein zweites Album von The Poem is You geben, denn die sind unglaublich produktiv und da muss man auch einfach zügig hintereinander weg veröffentlichen.
Ganz besonders freuen wir uns darüber, dass The Green Apple Sea ihr nächstes Album bei uns rausbringen wollen. Das ist eine Band, die das, was wir hier machen wollen, in Deutschland so ziemlich als erste gemacht haben. Zusammen mit Missouri haben sie uns ganz maßgeblich beeinflusst in unserer musikalischen Entwicklung, dem Wunsch auf Tour zu gehen, egal wie klein der Laden ist und wie wenig Gäste an dem Abend da sind und eben darin, dass Songwriter-, Americana-, Folk was auch immer nicht zwangläufig aus Amerika kommen muss, um gut zu sein. Das Split-Album von Missouri & Green Apple Sea 'By The Time I Get To Phoenix' ist schon ewig eine meiner Lieblingsplatten."
MC: "Auf Rumen Welco freuen wir uns auch sehr. Schon seit vielen Jahren meine Lieblingsband hier in Dresden. Das ist dann deren Debüt auf einem Label und die Platte wird ganz sicher großartig. Leider brauchen die eine gefühlte Ewigkeit, um das Album fertig aufzunehmen, was uns aber irgendwie auch hilft, mit dem Budget zu haushalten."
LH: "Zu Sound of Bronkow: Wir werden über das Jahr Beiträge sammeln, sind da auch immer sehr offen für randständige, völlig unbekannt Künstler und wenn genug beisammen ist, dann veröffentlichen wir auch Volume II. Das wird wahrscheinlich jedoch eher erst Anfang 2010."
foto: frank grätz
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