Polaroid Liquide [Polaroid Liquide]

Kabale und Liebe
Gefühl ist mehr als Denken; das sagten sich wohl die neuen Stürmer und Dränger aus Berlin.



"discover my heart"
(she)


Natürliche Prosasprache anstelle von fünffüßigen Jamben, Gefühl statt Ratio und liebenswertes Chaos anstatt klassischer Dramentheorie. Den jungen Dichtern ist es offensichtlich ein Anliegen, sich aus dem Gestrüpp der vorherrschenden Regeln und Bindungen zu lösen, um ihre Individualität entfalten zu können. Im Einklang dazu steht ihre deutliche Sprache, welche, ohne sich den gängigen Klischees zu bedienen, die Anliegen vierer Herzen vertont, die im Grunde bloß eines möchten: Musik machen. Am liebsten ohne künstliche Konserven und übliche Kunstgriffe, dafür mit Gefühl und von Herzen.

Wie die von Goethe einst beschriebene Tatkraft, die sich aus Mangel an Einflussmöglichkeiten im politischen Leben im reißenden Strom der Literatur ergießt, schaffen sich Polaroid Liquide eine eigene Welt der neuen Empfindsamkeit auf der Bühne und in den ätherischen Gefilden der Kunst, auf die sich ihre ganze Leidenschaft und Tätigkeit beziehen. Aristoteles würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, denn die vier Künstler missachten dabei jede einzelne seiner dramentheoretischen Vorschriften und erzählen Geschichten voller Nebenhandlungen, Zeitsprünge und Ortsveränderungen.

Sie stellen uns Ti Jean und gleich darauf Eddy vor, wagen eine zerstreutere Sequenz in Dreaming Me und schweben, der Einheit der Zeit zum Trotz, von Berlin nach New York City und wieder zurück. Free Pop nennen sie das, und haben damit ganz Recht.

Die Achillesferse vieler Alben - die Exposition - meistern Polaroid Liquide im Rahmen von Quiet For The Start vortrefflich, denn: Nomen est Omen und somit wird der Hörer behutsam, und für einmal so gar nicht in typischer Sturm und Drang-Manier, in die Welt geführt, aus der er später nicht mehr hinausfinden soll.

Die Audienz, die sich schon mit der Aussicht auf eine homogene und insgesamt eher beschauliche Folge von Augenblicken zufrieden gegeben hat, erlebt bereits bei den ersten Klängen von The Mall das so genannte erregende Moment; die Konfliktauslösende Handlung und somit den Haken, an dem man bis zum Punkt der subversiven Peripetie – Relieve – hängen bleibt.

Auch das darauf folgende Dreaming Me macht seinem Namen alle Ehre und ist folglich in diesem zeitgenössischen Berliner Drama das, was der Literat als retardierendes Moment bezeichnen würde. Ungeduld und Klimax reichen sich an dieser Stelle die Hand und harren so bis zur entwirrenden Lysis, NYC Revisited, aus. Bereits der Anfang dieses Stücks weist auf das Finale hin. Etwas leise, etwas drohend und immer mit dem Sinn für Empfindung werden lose Enden zusammengeknüpft und unfertige Geschichten zu Ende erzählt. Am Schluss angelangt und noch immer ein wenig benommen von den Impressionen, kann man sich nicht recht zwischen Lachen und Weinen, Komödie und Tragödie entscheiden.

Eines kann man aber mit großer Sicherheit behaupten: Das war ganz großes Kino. Verteidigungslinien bröckeln, Grenzen werden abgetastet und schließlich überschritten; Polaroid Liquide singen Lieder über das Kabale, das Leben und die Liebe im 21. Jahrhundert, wo die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos und ein wenig Sturm vielleicht genau das Richtige ist.
foto: polaroid liquide



polaroid liquide
"polaroid liquide"
tumbleweed records 2006 cd
polaroid liquide

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Sonntag Nachmittag [November 2006]







fotos: manuel kaufmann

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Andreas Michalke [Bigbeatland]

Der Berliner Reprodukt Verlag hat eine Sammlung der Comicstrips von Andreas Michalke heraus gebracht, die unter dem Titel „Bigbeatland“ bislang in der Wochenzeitung Jungle World veröffentlicht wurden.



"du kannst doch nicht für den teufel medienindustrie arbeiten
und gleichzeitig für das freie radio!
"
(subkommandante markus)


Pop-Linke sind Linke, die Entertainment als Mittel von Politik verstehen. Meist ist es herablassend gemeint, so wie Popper“, erklärt eine jener Figuren, die in ihrem Aussehen ein wenig an Fix und Foxi und maorische Tiki Figuren erinnern. Anthropomorphe Hunde und Katzen, Füchse und vielleicht auch ein Schlumpf. Andreas Michalke, seines Zeichens 1999 mit dem Independent Preis des ICOM ausgezeichnet, bedient die alte und in Deutschland eigentlich nur rar gesäte Kunstform des Comicstrips. Seit 2002 veröffentlicht die, dieser Tage mit Existenzangst hadernde Wochenzeitung Jungle World, farbige Strips des 1966 in Hamburg geborenen Künstlers. In "Bigbeatland" betrachtet Michalke auf gelungene Weise maßgeblich musikbezogene, linksorientierte Subkulturen in einer beliebig besetzbaren Großstadt Deutschlands; die „Rock-Linken“ Johnny und Sandro mit ihrer Sendung im freien Radio, um deren Sendezeit immer wieder aufs neue gekämpft werden muss, der totenköpfige, linksradikale Markus Meier, der nicht nur von seinen Genossen Hans, Otto und Hermann „Subkommandante“ genannt wird, oder Sandra Al Djardo, Deutsch-Irakerin und VJane beim Musiksender "BlaBla". Da sich das Geschehen in Bigbeatland nicht klassisch um eine zentrale Figur, sondern eine Vielzahl bewusst oder unbewusst miteinander vernetzter Charaktere dreht, wird oft die Lindenstrasse als Verweis angeführt, auch wenn sie in diesen Fällen für Bigbeatland liebevoll mit „links“ attributiert wird. Tatsächlich ergeben sich, wie in der Fernsehserie, auch hier aus den episodischen Handlungssträngen der verschiedenen Protagonisten immer wieder neue Dramaturgien, greifen die unterschiedlichen kleinen Erzählungen in einander.

Was seine Serie jedoch wirklich beachtenswert macht, sind zwei Fähigkeiten von Michalke: Zum einen weiß er nicht nur wovon er erzählt, sondern stattet seine Zeichnungen mit einer Liebe zum Detail aus, die auf den ersten Blick in dem recht einfachen und karikaturistisch anmutenden Zeichenstil kaum auffallen. Von der schwarzen Hornbrille, den Lippenpiercing über das Eso-Ying-Yang Shirt, den Seitenscheitel und die Haarspange bis zum Habitus und markanten Redeweisen, verleiht er den jeweiligen Charakteren stilechte Ausdrucksmerkmale, weiß mit den zeitgenössischen kulturellen Codes innerhalb der jeweiligen Szene zu spielen. Er nimmt sich sogar die Zeit – im grafischen Sinne eines Panels -, um immerwieder lange Auszüge (mit Quellenangabe) der gespielten Stücke in Johnny und Sandros Radiosendung abzubilden. Michalke gelingt es damit die linke Perspektive kritisch und humorvoll zu betrachten, ohne sie preiszugeben. (Auch wenn die ein oder andere Pointe eher platt daherkommt.) Zum anderen lesen sich die in der Sammlung zusammengestellten Strips wie ein alternativer Jahresrückblick von Sommer 2002 bis Herbst 2006. Bleibt der Ort der Handlungen auch beliebig, so sind es die politischen und kulturellen Ereignisse nicht; von den Bundestagswahlen 2002 („Stoiber will einen Gottesstaat auf deutschen Boden errichten. Er nennt seine Frau Muschi!“), über den ausbrechenden Irakkrieg, den Tod Jassir Arafats, die Atompolitik Nord Koreas bis zur Fussballweltmeisterschaft im letzten Sommer, konfrontiert Michalke seine Charaktere liebevoll mit nationalen und globalen Ereignissen, in dem Bewusstsein, – so Dietrich Diedrichsen in seinem Vorwort – „dass ein solcher Zusammenhang heute nur als Karikatur zu haben ist“. Gerade durch diese Herangehensweise „generiert sein Humor und die Lässigkeit der Bezugnahmen genau die Attraktivität von Lebensformen, die die Leute in der ewigen Provinz von Aufbrüchen träumen lässt – und über diese Träume lachen“.

"Bigbeatland" ist so zu einer Ausnahmeerscheinung im deutschen Comicstrip Umfeld geworden, welche eine reflektierte Zielgruppe junger Leser anzusprechen und intelligent zu bedienen weiß. Durch die vorliegende Sammlung als vorläufiges Gesamtwerk aus dem Hause Reprodukt, ist der zeitgenössische Blick auf die „Unzufriedenen und Radikalen, die sich in der linken Szene und den musikalischen Subkulturen tummeln“ (Klappentext) in seinem ganzen, wunderbar skurrilen Umfang zu bewundern.
foto: comicsalon.de / zeichnung: bigbeatland



andreas michalke
"bigbeatland"
reprodukt verlag 2006
andreas michalke
jungle world

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