Etta Streicher & Toby Hoffmann [Moralverkehr]

Von wegen Moral
Ein Dialog über den Dialog zwischen den Slampoeten Toby Hoffmann und Etta Streicher.


"betroffenheitsprosa kommt hier ja gut an."
(ich lese, also bin ich)


frannie says:
Bist Du gut nach Hause gekommen letzte Nacht?

I cee dead people says:
Nicht wirklich. Ich habe bei Sascha übernachtet, weil keiner von uns mehr imstande war, zu fahren.

frannie says:
Hört, hört! Very promising ;) Der Abend hatte es ja aber auch wirklich in sich.

I cee dead people says:
Allerdings. Ich war echt überrascht. Du weißt ja, dass ich mit diesen Spoken-Word-Geschichten im Grunde nicht allzu viel anfangen kann.

frannie says:
Naja, man darf das halt auch nicht mit Stefans Pseudo-Poetryslams im Café vergleichen; Toby und Etta machen das echt nach allen Regeln der Kunst. Wobei ich ja fand, dass 74 Minuten dann auch wirklich an der oberen Grenze liegen.

I cee dead people says:
Quatsch, ich hätte denen noch viel länger zuhören mögen. Was mich so unglaublich gepackt hat, war die Harmonie, die zwischen ihnen herrscht. Sind die eigentlich zusammen?

frannie says:
Nicht, dass ich wüsste. Aber es stimmt schon; man merkt, dass sie perfekt aufeinander abgestimmt sind. Und trotzdem haben mir die Stücke, die sie einzeln vorgetragen haben, viel besser gefallen. Kannst Du Dich noch an gsprch erinnern?

I cee dead people says:
Ne, hilf mir mal auf die Sprünge.

frannie says:
Als Etta sowohl Vokale, als auch Umlaute eines Monologs weggelassen hat? Ds Gnze ht sch dnn ngfhr s nghrt.

I cee dead people says:
Also, ich weiss nicht – Kunstgriff hin oder her – für mich war das dann halt auch fast wieder zu anstrengend, irgendwie. Einerseits finde ich es ja sehr originell und spitzfindig, wie die Beiden in bestimmten Tracks die Schwierigkeiten der Kommunikation von Kopf zu Kopf und vor allem die Tragweite der Bedeutung der Dinge, die dabei so verloren gehen, spielerisch aufzeigen, andererseits gab’s halt für mich auch mal Stellen, wo ich dann abgeschaltet habe, weil’s einfach nicht mehr ging. Teilweise war es ja auch wirklich unerhört, wie viel Information da auf einen einstürzte; ziemlich rasant, das Ganze.

frannie says:
Klar, aber gerade das macht es ja so charmant. Wie hat es eigentlich Sascha gefallen?

I cee dead people says:
Ich glaube, er hat es nicht ganz verstanden. Als wir bei ihm waren, habe ich ihn gefragt, wie er es fand und er meinte halt bloss: Von wegen Moral. Ach so ;)

frannie says:
Natürlich, war ja klar. Soviel zu seinem Sinn fürs Subtile. Nichts, was wir nicht schon gewusst hätten, also ;)

I cee dead people says:
Du sagst es.

frannie says:
Während die unsägliche problematik des daseins – übrigens auch eine Einzel-Performance von Etta – habe ich dauernd zu ihm rübergeschielt, weil ich wissen wollte, wie er reagiert, denn im Grunde ist das ja Eure momentane Situation, einfach in Worte gefasst.

I cee dead people says:
Ich bin erbärmlich, ich weiss, aber ich kann die Titel irgendwie nicht mehr so zuordnen; sagst Du mir nochmals kurz, worum’s da ging?

frannie says:
Sie meinte doch zuvor noch, die zweite Stimme des Dialogs sei unsichtbar. Weißt Du noch?

I cee dead people says:
Ach, okay, jetzt ist alles klar. Ja, das war toll! Ich meine, wer kommt auf solche Ideen?

frannie says:
Grosses Kino, definitiv. Für mich war das der Höhepunkt des Programms, ich glaube, so ehrlich hat Ettas Stimme während des ganzen Abends nicht mehr geklungen.

I cee dead people says:
Was hältst Du von Toby?

frannie says:
Er besitzt eine markante Stimme, aber eine sehr unaufdringliche Genialität. Das macht ziemlich viel aus, schätze ich; ich könnte nicht vielen Menschen so lange zuhören. Ich meine, er verpasst Dir und dem Rest der Welt sozusagen eine gesellschaftliche Ohrfeige nach der anderen – mehr als Etta, finde ich – aber er tut es so charmant, dass man einfach an seinen Lippen hängen bleibt.

I cee dead people says:
Wie meinst Du das?

frannie says:
In im immer mehr beispielsweise gab es diese hochtrabende Passage über "die enzyklopädische Ordnung des individuellen Universums in einer globalisierten, überbevölkerten High Tech Welt“, wo man sich ja erstmal überlegt hat, wie sehr dieser ganze intellektuelle Wortseiltanz nervt, aber nur 20 Sekunden später relativiert Toby das dann halt wieder gekonnt, indem er es zynischerweise selbst kommentiert.

I cee dead people says:
Tut mir Leid, aber ich muss los.

frannie says:
Ist etwas passiert oder so?

I cee dead people says:
Nein, Sascha ist bloß gerade aufgewacht.
foto: sprechstation



etta streicher & toby hoffmann
"moralverkehr"
Sprechstation Verlag 2006 cd
etta streicher
toby hoffmann

weiterlesen...

Sonntag Nachmittag [Dezember 2006]













fotos: manuel kaufmann

weiterlesen...

Polaroid Liquide [Polaroid Liquide]

Kabale und Liebe
Gefühl ist mehr als Denken; das sagten sich wohl die neuen Stürmer und Dränger aus Berlin.



"discover my heart"
(she)


Natürliche Prosasprache anstelle von fünffüßigen Jamben, Gefühl statt Ratio und liebenswertes Chaos anstatt klassischer Dramentheorie. Den jungen Dichtern ist es offensichtlich ein Anliegen, sich aus dem Gestrüpp der vorherrschenden Regeln und Bindungen zu lösen, um ihre Individualität entfalten zu können. Im Einklang dazu steht ihre deutliche Sprache, welche, ohne sich den gängigen Klischees zu bedienen, die Anliegen vierer Herzen vertont, die im Grunde bloß eines möchten: Musik machen. Am liebsten ohne künstliche Konserven und übliche Kunstgriffe, dafür mit Gefühl und von Herzen.

Wie die von Goethe einst beschriebene Tatkraft, die sich aus Mangel an Einflussmöglichkeiten im politischen Leben im reißenden Strom der Literatur ergießt, schaffen sich Polaroid Liquide eine eigene Welt der neuen Empfindsamkeit auf der Bühne und in den ätherischen Gefilden der Kunst, auf die sich ihre ganze Leidenschaft und Tätigkeit beziehen. Aristoteles würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, denn die vier Künstler missachten dabei jede einzelne seiner dramentheoretischen Vorschriften und erzählen Geschichten voller Nebenhandlungen, Zeitsprünge und Ortsveränderungen.

Sie stellen uns Ti Jean und gleich darauf Eddy vor, wagen eine zerstreutere Sequenz in Dreaming Me und schweben, der Einheit der Zeit zum Trotz, von Berlin nach New York City und wieder zurück. Free Pop nennen sie das, und haben damit ganz Recht.

Die Achillesferse vieler Alben - die Exposition - meistern Polaroid Liquide im Rahmen von Quiet For The Start vortrefflich, denn: Nomen est Omen und somit wird der Hörer behutsam, und für einmal so gar nicht in typischer Sturm und Drang-Manier, in die Welt geführt, aus der er später nicht mehr hinausfinden soll.

Die Audienz, die sich schon mit der Aussicht auf eine homogene und insgesamt eher beschauliche Folge von Augenblicken zufrieden gegeben hat, erlebt bereits bei den ersten Klängen von The Mall das so genannte erregende Moment; die Konfliktauslösende Handlung und somit den Haken, an dem man bis zum Punkt der subversiven Peripetie – Relieve – hängen bleibt.

Auch das darauf folgende Dreaming Me macht seinem Namen alle Ehre und ist folglich in diesem zeitgenössischen Berliner Drama das, was der Literat als retardierendes Moment bezeichnen würde. Ungeduld und Klimax reichen sich an dieser Stelle die Hand und harren so bis zur entwirrenden Lysis, NYC Revisited, aus. Bereits der Anfang dieses Stücks weist auf das Finale hin. Etwas leise, etwas drohend und immer mit dem Sinn für Empfindung werden lose Enden zusammengeknüpft und unfertige Geschichten zu Ende erzählt. Am Schluss angelangt und noch immer ein wenig benommen von den Impressionen, kann man sich nicht recht zwischen Lachen und Weinen, Komödie und Tragödie entscheiden.

Eines kann man aber mit großer Sicherheit behaupten: Das war ganz großes Kino. Verteidigungslinien bröckeln, Grenzen werden abgetastet und schließlich überschritten; Polaroid Liquide singen Lieder über das Kabale, das Leben und die Liebe im 21. Jahrhundert, wo die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos und ein wenig Sturm vielleicht genau das Richtige ist.
foto: polaroid liquide



polaroid liquide
"polaroid liquide"
tumbleweed records 2006 cd
polaroid liquide

weiterlesen...

Sonntag Nachmittag [November 2006]







fotos: manuel kaufmann

weiterlesen...

Andreas Michalke [Bigbeatland]

Der Berliner Reprodukt Verlag hat eine Sammlung der Comicstrips von Andreas Michalke heraus gebracht, die unter dem Titel „Bigbeatland“ bislang in der Wochenzeitung Jungle World veröffentlicht wurden.



"du kannst doch nicht für den teufel medienindustrie arbeiten
und gleichzeitig für das freie radio!
"
(subkommandante markus)


Pop-Linke sind Linke, die Entertainment als Mittel von Politik verstehen. Meist ist es herablassend gemeint, so wie Popper“, erklärt eine jener Figuren, die in ihrem Aussehen ein wenig an Fix und Foxi und maorische Tiki Figuren erinnern. Anthropomorphe Hunde und Katzen, Füchse und vielleicht auch ein Schlumpf. Andreas Michalke, seines Zeichens 1999 mit dem Independent Preis des ICOM ausgezeichnet, bedient die alte und in Deutschland eigentlich nur rar gesäte Kunstform des Comicstrips. Seit 2002 veröffentlicht die, dieser Tage mit Existenzangst hadernde Wochenzeitung Jungle World, farbige Strips des 1966 in Hamburg geborenen Künstlers. In "Bigbeatland" betrachtet Michalke auf gelungene Weise maßgeblich musikbezogene, linksorientierte Subkulturen in einer beliebig besetzbaren Großstadt Deutschlands; die „Rock-Linken“ Johnny und Sandro mit ihrer Sendung im freien Radio, um deren Sendezeit immer wieder aufs neue gekämpft werden muss, der totenköpfige, linksradikale Markus Meier, der nicht nur von seinen Genossen Hans, Otto und Hermann „Subkommandante“ genannt wird, oder Sandra Al Djardo, Deutsch-Irakerin und VJane beim Musiksender "BlaBla". Da sich das Geschehen in Bigbeatland nicht klassisch um eine zentrale Figur, sondern eine Vielzahl bewusst oder unbewusst miteinander vernetzter Charaktere dreht, wird oft die Lindenstrasse als Verweis angeführt, auch wenn sie in diesen Fällen für Bigbeatland liebevoll mit „links“ attributiert wird. Tatsächlich ergeben sich, wie in der Fernsehserie, auch hier aus den episodischen Handlungssträngen der verschiedenen Protagonisten immer wieder neue Dramaturgien, greifen die unterschiedlichen kleinen Erzählungen in einander.

Was seine Serie jedoch wirklich beachtenswert macht, sind zwei Fähigkeiten von Michalke: Zum einen weiß er nicht nur wovon er erzählt, sondern stattet seine Zeichnungen mit einer Liebe zum Detail aus, die auf den ersten Blick in dem recht einfachen und karikaturistisch anmutenden Zeichenstil kaum auffallen. Von der schwarzen Hornbrille, den Lippenpiercing über das Eso-Ying-Yang Shirt, den Seitenscheitel und die Haarspange bis zum Habitus und markanten Redeweisen, verleiht er den jeweiligen Charakteren stilechte Ausdrucksmerkmale, weiß mit den zeitgenössischen kulturellen Codes innerhalb der jeweiligen Szene zu spielen. Er nimmt sich sogar die Zeit – im grafischen Sinne eines Panels -, um immerwieder lange Auszüge (mit Quellenangabe) der gespielten Stücke in Johnny und Sandros Radiosendung abzubilden. Michalke gelingt es damit die linke Perspektive kritisch und humorvoll zu betrachten, ohne sie preiszugeben. (Auch wenn die ein oder andere Pointe eher platt daherkommt.) Zum anderen lesen sich die in der Sammlung zusammengestellten Strips wie ein alternativer Jahresrückblick von Sommer 2002 bis Herbst 2006. Bleibt der Ort der Handlungen auch beliebig, so sind es die politischen und kulturellen Ereignisse nicht; von den Bundestagswahlen 2002 („Stoiber will einen Gottesstaat auf deutschen Boden errichten. Er nennt seine Frau Muschi!“), über den ausbrechenden Irakkrieg, den Tod Jassir Arafats, die Atompolitik Nord Koreas bis zur Fussballweltmeisterschaft im letzten Sommer, konfrontiert Michalke seine Charaktere liebevoll mit nationalen und globalen Ereignissen, in dem Bewusstsein, – so Dietrich Diedrichsen in seinem Vorwort – „dass ein solcher Zusammenhang heute nur als Karikatur zu haben ist“. Gerade durch diese Herangehensweise „generiert sein Humor und die Lässigkeit der Bezugnahmen genau die Attraktivität von Lebensformen, die die Leute in der ewigen Provinz von Aufbrüchen träumen lässt – und über diese Träume lachen“.

"Bigbeatland" ist so zu einer Ausnahmeerscheinung im deutschen Comicstrip Umfeld geworden, welche eine reflektierte Zielgruppe junger Leser anzusprechen und intelligent zu bedienen weiß. Durch die vorliegende Sammlung als vorläufiges Gesamtwerk aus dem Hause Reprodukt, ist der zeitgenössische Blick auf die „Unzufriedenen und Radikalen, die sich in der linken Szene und den musikalischen Subkulturen tummeln“ (Klappentext) in seinem ganzen, wunderbar skurrilen Umfang zu bewundern.
foto: comicsalon.de / zeichnung: bigbeatland



andreas michalke
"bigbeatland"
reprodukt verlag 2006
andreas michalke
jungle world

weiterlesen...

Bilderdisko [Glósóli]

En er svo ekki neitt.

















"Nú vaknar þú
Allt virðist vera breytt
Eg gægist út
En er svo ekki neitt"


"Glósóli"

Sigur Rós
aus: "Takk..."
Capitol, 2005
Umgesetzt von
Martina Drignat / Taubenstrasse
Hamburg


weiterlesen...

Julius & Mindmoon [Marburg / Warburg, 12./14.10.2006]

Sänger Schrägstrich Songschreiber ist auf dem Plakat zu lesen, das mit Klebeband an der Innenwand des kleinen Clubs befestigt ist. Beziehen will sich die Aussage auf Mindmoon und Julius und auf beide Herren trifft dies wohl irgendwie zu.



"das nächste, ist mein vorletztes lied."
(sowohl julius als auch mindmoon)


Hünenhaft trifft es vielleicht ein wenig, wenn man die Statur des hochgewachsenen Oliver Lehne beschreiben möchte. Aber Äußerlichkeiten sind wenig relevant. Weder für seine Person noch für seine Musik. Viel mehr etwas von einem kleinen Jungen hat es, wenn er lächelnd, etwas schüchtern wirkend das Publikum begrüßt, nachdem er sich auf den Hocker gesetzt, das Mikrofon auf sich ausgerichtet und die Gitarre umgehängt hat. Teilweise begleitet von Phillip Warneke am Cello, erzählt er von T-Shirt-, und Augenfarben, dem Gefühl als dritte Dimension, dem alltäglichen Bemühungen sich gegen Gewohnheiten zur Wehr zu setzen oder von dem Unterschied der oft ungeachtet synonym verwendeten Adjektive "schön" und "hübsch". All das klingt viel sanfter, als es hier zu lesen ist. Nüchternheit gehört nicht zu den bittersüßen Betrachtungsweisen von Mindmoon, die sich dem eigenen und fremden Leben widmen. Eine seltsam schöne, poetische Diskrepanz zwischen dem filigranen Dasein in den Augen des Betrachters und der lakonischen Wirklichkeit erschließt sich, wenn man auf das zaghafte Spiel mit den Worten acht gibt. "Und die Schönste geht nicht aus; sie sitzt ganz allein zu Haus; ihre Augen schönt der Regen." (Die Schönste) "Das Cello", so gesteht er, "verleiht den Songs so viel Tiefe, dass man sie gar nicht mehr ohne spielen möchte". Kaum mag man ihm widersprechen und stattdessen erstaunt bemerken, dass Oliver und Phillip erst seit fünf Wochen eine handvoll Proben gemeinsam begangen. Die Bekanntschaft mit Julius hingegen besteht schon etwas länger.
Abwechselnd eröffnet man für einander bei den Auftritten und fühlt sich ein wenig wie eine Band auf Tour, erscheint das Leben als Sänger/Songschreiber doch sonst eher introvertiert und einsam.

Julius Kowarz hat diese äußerst seltene Begabung, einen Song bis ins Mark zu durchdringen und die darin manches Mal leider verborgene Schönheit zu Tage zu fördern. Wenn er etwa Time After Time von Cyndi Lauper singt, ein Stück der begabten und von ihm geschätzten amerikanischen Sängerin Deb Talan oder gar Driving Nowhere von Helmet, mit der Akustikgitarre auf seine Weise interpretiert. Und jedes Mal widmet er sich den Stücken mit ehrfürchtigem Respekt, spart jeden noch so leichten Griff zum entstellend Ironischen, zur Lächerlichkeit aus. "Das ist ja alles im Kopf", bemerkt er knapp, angesprochen auf das homogene einbetten einiger Zeilen des Stücks Your Ex-Lover Is Dead der kanadischen Stars in seinem Florida. So faszinierend plausibel und durchdacht wird dort mit Zitaten gespielt, als würde es kein Original geben. Wirklich Bemerkenswert sind aber diese feinen Details, diese höchst fragilen Momente, wenn Julius nüchterne Alltagsbeobachtungen so sensibel und bedacht anstellt und erlaubt, sie frei von Euphemismen durch seine Augen zu betrachten. Das sind die wirklich großen Momente. Wenn er erzählt. Wenn man ihm zuhören darf. Wenn er zusätzlich die Gedanken mit seinen Zwischenansagen erdet. "Imagine these three minutes would become a lifetime and you are the only one who knows that." (Press Repeat)

Eine selbst geplante Tour durch acht Orte, acht immer unterschiedliche Plätze mit fremden Gesichtern und sich ändernden Mentalitäten, führt die drei Herren gleichsam durch entlegene Winkel und vertraute Stätten. Zwischen Berlin und Röbel, Göttingen und Warburg, Antiquariat Poeterey und Schkeuditzer Kreuz, Donnersdance und Lebensmittelgeschäft Drude. Das Navigationsgerät als seltsam anmutendes Hightech Tool wird ein vertrauter Begleiter. Wenn man sich in so rascher Zeit so vielen unterschiedlichen Orten annährt, erschließt man sie unterbewusst mit Vergleichen; Hier ist das Essen besser, die Matratze ist dort aber weicher, gestern wurde man aber freundlicher empfangen. Solche Vergleiche scheinen die drei Herren weniger zu beschäftigen. Mit strahlendem Lächeln, wenn auch manches Mal müden Augen, begegnet man dem neuen Publikum. Aufgeschlossen, mit wacher Neugier, nicht mit gleichgültiger Routine. Dafür ist man zu sehr Musiker und zu wenig Profi. Manchmal ist das Publikum so ruhig, dass man Stecknadeln fallen hört. Ein anderes Mal ausgelassener. Lauter. Mitgerissen. Bewegt. Niemals gleich. Selbst vor einem Publikum, das Subversion für einen Energydrink halten mag, weiß man die Form zu wahren und höflich sein - in beiden Fällen - intimes Set darzubieten. "Ficken", grölt hier, am letzten Abend, jemand entfesselt, als Oliver von schönen Dingen spricht, die man tun kann. Und wenn dann doch die ein oder andere bissige Bemerkung durch die Lautsprecherboxen hallt, wirkt das weniger arrogant, als vielmehr fein und ehrlich bemerkt. "Alte Liebe rostet niemals", singt Julius im gleichnamigen Lied. "Das befürchte ich auch", fährt er fort. "Also hört nicht auf Mia. und die armen Schweine, haltet’s lieber mit Heinrich Heine: Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin in ich um den Schlaf gebracht." Es ist so kurz wie ernüchternd präzise auf den Punkt gebracht, und das rasche Ende wird vom Publikum beinahe überhört. Dass diese Zeilen von den sich teilweise abgewandten Zuhörern nicht verstanden werden, macht sie vielleicht noch kostbarer. Ein schönerer Abschluss für eine gemeinsame Tour wäre ihnen vergönnt gewesen, aber es bleiben ja schöne Menschen in den Erinnerungen.
foto: kugellager röbel

mindmoon
julius

weiterlesen...

Söhnke Wortmann [Deutschland. Ein Sommermärchen]

2006: Deutschland ist wieder wer. Weltmeister der Herzen allemal und wenn "Angie" "Klinsi" küsst und Ballak zum "männlichsten Mann Deutschlands" wird, findet eine ganze Nation wieder zu sich selbst. Nicht nur "du", wir alle sind Deutschland. Die große Mär von Söhnke Wortmann.


"noch nie ist ein event so emotional und global dargestellt worden."
(joseph s. blatter, fifa präsident)


Das tobende Meer an schwarz-rot-goldenen Fahnen wird nur sehr langsam aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Nicht nur hier, sondern auf der ganzen Welt wurden dank der modernen Vernetzung die Bilder der friedlich feiernden Freunde betrachtet. Mit Sönke Wortmanns Film werden jetzt diese „vier unbeschreiblich schönen Wochen“ - so der Pressetext - noch einmal aufgegriffen. Man sagt erneut „Danke“, diesmal nicht nur - wie auf der Berliner Fan Meile am 9. Juli – den „Helden“ (Kino Trailer), sondern auch dem zwölften Mann auf dem Platz, den Fans. Stichwort "Teamgeist 82 Mio". Um die Bedeutung des Films und nicht zuletzt der Weltmeisterschaft selbst näher zu beleuchten, haben wir uns mit Tobias Funske, dem Pressesprecher der Initiative "I Can´t Relax In Deutschland" unterhalten. Leider war kein von uns eingeladener Mitarbeiter des Magazins für Fußballkultur "11Freunde" dazu bereit, sich an dem Gespräch zu beteiligen.

„Deutschland. Ein Sommermärchen.“ Nach dem Premierenwochenende zeichneten sich bereits Rekordergebnisse an den Kinokassen ab. Ist das der Kassenschlager, den die klagende Filmindustrie in Deutschland benötigte? Vielleicht ein Anstoß zum gemeinsamen Aufbruch, den sich die gesamte Wirtschaft wünscht? Oder ist der als märchenhaft attributierte „Summer of Heimatliebe“ (Christian Jostmann) nicht eher verklärend und wenig überraschend?
"Roger Behrens (Philosoph, Sozialwissenschaftler und Mitherausgeber der Testcard, Anm. d. Redaktion) zitiert in seinem Text Gottfried Mergner, der 1998 folgendes schrieb: 'Wir beobachten daher heute eine Renaissance von Chauvinismus und Nationalismus, und zwar überall dort, wo sich moderne Staatlichkeit und Industrialisierung in Krisen durchsetzt oder sich in Krisen zu behaupten versucht.' Behrens erklärt im Folgenden trefflich, dass der neue Nationalstolz politisch und zivilgesellschaftlich auf den Konsens der neuen Mitte trifft. Wohl nicht zufällig steht die heute gepriesene 'Wirtschaftswunderhemdsärmeligkeit' dabei im auffälligen Kontrast zum Abbau des Rechts- und Sozialstaates, von der Asylrechtspraxis bis zu Hartz IV."

Sich auf die These beziehend, dass es dem Film gänzlich an kritischer Distanz und Analyse fehle, wirft Klaus Walter in seinem Rolling Stone Artikel (11/06) die Frage auf, ob Sönke Wortmann wirklich mehr als die "Fortsetzung der synergetisch gepushten Deutschland Party" wollte.
"Wir sehen hier keine Fortsetzung, sondern ein nicht unterbrochenes Kontinuum einer deutschen Ideologie, welche sich bis in das frühe neunzehnte Jahrhundert zurückverfolgen lässt und dort seinen ideologischen Ursprung findet. Fraglich ist ferner die These, hier hätte man etwas 'gepusht'. Das klingt nach einem eingeschworenen Kreis, der die 'blinde' Masse verführt. Ich bin jedoch vielmehr der Ansicht, es wird einem gesellschaftlich existenten Gefühl Ausdruck verliehen. Das erklärt auch die verschiedenen Ausdrucksformen die sich der Nationalismus bahnt. Ob in der Popkultur – von Musik über Mode und Fotografie bis hin zu Ausstellungen und Leinwand – oder im Sport. Schließlich sind Kultur als auch Sport keine von der Gesellschaft losgelösten Orte, die sich vom aufkeimenden Nationalismus isoliert betrachten ließen. Gerade Popkultur spiegelt stets Diskurse wieder, wie sie um Volk, Heimat und Nation geführt werden. Deutsche Künstler appellieren an das nationale Kollektiv (Heppner, van Dyke: 'Wir Sind Wir') und widmen Deutschland ihr Liebeslied (Mia: 'Es Ist Was Es Ist'). Erinnert man sich dazu an die Diskussion um die Flick-Kollektion in Berlin oder Wortmanns Filme wie vor allem 'Das Wunder Von Bern', in dem eine 'wir-sind-wieder-wer'-Haltung völlig kontextlos auf der Leinwand zu sehen war, oder 'Der Untergang' und unzählige 'History'-Dokumentationen, in denen deutsches Leid inszeniert wurde, erkennt man, dass es sich nicht bloß um eine kulturell-künstlerische Bewegung handelt, sondern einem gesellschaftlich lange da gewesenen Gefühl Ausdruck verliehen wird. Daher sind wir auch in unserem Buch zu dem Ergebnis gekommen, dass all diese Phänomene nur Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung sind. Die Verknüpfung zwischen Kultur und Nation hat Roger Behrens in seinem Buchbeitrag treffend dargestellt und kommt zum Schluss, dass Kultur und Nation zum selben Komplex bürgerlicher Ideologie gehören. Das gilt also auch für Popkultur und die modernen Formen des Nationalismus."

Mit dem von dir erwähnten "Wunder Von Bern" näherte sich Wortmann bereits 2003 sowohl dem Thema Fußball, als auch dem Thema Deutschland und Identität an. Hat sich der geschichtliche und gesellschaftliche Kontext zwischen diesen beiden Ereignissen verändert? Und inwiefern erscheint es, als habe Wortmann mit beiden Filmen – auch rekurrierend auf Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ – einen bewusst vereinenden Blick auf Deutschland provoziert?
"Ich sehe keine gesellschaftlichen oder geschichtlichen Unterschiede zwischen 1954 und 2006. Der Grund ist banal. Man kann die gesellschaftliche und geschichtliche Entwicklung Deutschlands nicht losgelöst voneinander betrachten. Das ist ja gerade auch das Problem des neuen Nationalismus. Um sich positiv auf Deutschland beziehen zu können, wird sich der negativen Vergangenheit entsorgt. Schließlich passt die piefig-zipfelmützige Altlast nicht ins gewollt-flippige und oberflächlich-hippe Deutschland-Weltbild. Nur der Bruch mit der Vergangenheit und der Verzicht auf einen kritischen Umgang mit ihr machen einen positiven Heimatbezug möglich. Sinistra Frankfurt führt in ihrem Beitrag aus, was über eine allgemeine Kritik der Nationalstaatlichkeit hinaus als deutsche Spezifik ins Blickfeld gehört. Wofür steht der Begriff 'deutsch' überhaupt und was unterscheidet den hier auftretenden Nationalismus von anderen Ländern?
Ob jemand bewusst provoziert oder unreflektiert sein fetischistisches Verhältnis zur Nation ausdrückt, kann ich schlecht beantworten. Wortmann als ausgewiesener Deutschland-Fan lag sicher weniger an Provokation von etwas, von was er verbissen träumt. Die Kampagne „Du Bist Deutschland“ trat ebenso wenig provokant denn vielmehr verklärend romantisch auf. Durch dieses Stilmittel gewinnen Zustände wie etwa Rausch oder Traum an Bedeutung. Und neu waren die Form und Intention von 'Du Bist Deutschland' Ende 2005 längst nicht mehr. Die Kampagne konkretisierte lediglich, was andere schon mehrere Jahre einforderten.
Kennzeichen des neuen Nationalismus sind nicht vorrangig Rassismus und Straßengewalt. Im Gegenteil, diese dienen hegemonial sogar als Negativschablone. Repräsentativ verwendet die Werbung Afrodeutsche, die mit Deutschland-Fahne und Chips auf der Couch jubeln; Erinnert sei auch noch einmal an Gerald Asamoahs Auftreten im Rahmen der 'Du bist Deutschland'-Kampagne. Der gegenwärtige Patriotismus ist kein Nationalismus. Patriot, so eine gängige Behauptung, sei jemand der sein Land liebe, Nationalist dagegen jemand, der andere Länder herabwürdige. Nun wird einem jeder, der sich selbst Nationalist nennt, gerne bestätigen, dass dies mitnichten der Fall sei und, froh dass er auch mal was gefragt wird, seine ethnopluralistische Leier herunterspulen. Macht man den Unterschied daran fest, dass Patriotismus ein Gefühl der Verbundenheit zum eigenen Land bezeichnet, Nationalismus hingegen eine politische Ideologie, bei der das Volk oder die Nation als Zweck allen Handelns betrachtet wird, so schließt das eine das andere nicht aus und es wird klar, womit man es bei den schwarz-rot-goldenen Scharen zu tun hat. Infantile Pop-Patriot/innen, die auf der Jagd nach wohligen Gemeinschaftserlebnissen die hedonistische Seite der Staatsbürgerschaft entdecken, mit Politik in ihrer Eigenschaft als Fans aber bitte nichts zu tun haben wollen."

Die politische Rezeption des Großereignisses wurde aus Sicht vieler trotzdem als übertrieben, ja gar hysterisch abgetan. Die Frage stellt sich jedoch ganz im Gegenteil, ob eine Betrachtung der WM und all ihrer Sequels überhaupt auf einer unpolitischen Ebene möglich ist, nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass die Premiere des Films in Berlin am Tag der deutschen Einheit gefeiert wurde.
"Der Nationalismus, auch in seiner Pop- oder Sportvariante, dient der Identifikation mit dem Kollektiv. Paradox laut Roger Behrens ist dabei, dass die Identifikation aber misslingt, da das 'identifikatorische Zwangskollektiv' die Identifikation des freien Individuums mit sich selbst und seiner Selbstbestimmung gerade verhindert.
Das nationalistische Kontexte nicht ohne eine notwendige politische - weil ideologisch beladene - Ebene auskommen, erklärt sich schon daraus, dass das Wort 'Deutsch' nicht einfach nur eine leere Begriffshülse ist. Überhaupt kommt weder die Nation allgemein noch die deutsche im Besonderen als blütenweißes Papier daher, das sich beliebig beschreiben ließe."

Die aus dem Sommer resultierende "konsensfähige Nationalidylle" (Christian Jostmann) führte auch dazu, dass das zuvor noch erzürnte Volk in eine euphemistische Hysterie zu verfallen schien. Man freute sich mit Kaiser und Kanzlerin, schrie kryptische Zahlen gemeinsam mit den „Sporties“, hielt dankbar und besonnen mit Xavier Naidoos Hymne inne und lies die verkrampfte Haltung hinter sich. Endlich lernte man zu feiern, zu leben, komme was wolle. Was hat dieses emotionale Wir-Gefühl tatsächlich bewirkt?
"Das moderne, weltoffene Deutschland hat seine Scham abgeworfen und in der so genannten 'Verantwortung' das passende Heilmittel für den historischen Schlussstrich und neues Selbstbewusstsein gefunden. Anstatt wie bisher Auschwitz eher zu verharmlosen oder zu leugnen, wurden die deutschen Verbrechen nun instrumentell benutzt, um eigene Machtinteressen durchzusetzen; Erinnert seien an die Begründung des Kosovokrieges. Das rot-grüne Deutschland sah sich nun als Land, das sich für Menschenrechte einsetzt. Der Staat und seine Nationalisten stehen nicht mehr für den Zivilisationsbruch Auschwitz, sondern legen als Aufarbeitungsweltmeister die gesellschaftliche Befugnis zu patriotischen Regungen vor. Wir kritisieren dieses entspannte 'zu-sich-kommen'. Damit wurde für die Meisten zum feuchten Traum, was Heinrich Heine noch in seinem 'Deutschland. Ein Wintermärchen' um den Schlaf brachte."

Nachtrag:
Am 5. Dezember 2006 wird Sönke Wortmann für seinen Film der Leibniz-Ring des Presse Club Hannover verliehen. Der Preis wird jährlich an eine Persönlichkeit oder Institution übergeben, die durch eine herausragende Leistung auf sich aufmerksam macht. Mit seiner Betrachtung habe Wortmann "ein Ereignis dokumentiert, das Deutschland - auch aus dem Blickwinkel des Auslands - positiv verändert hat", so begründete das Kuratorium unter Vorsitz von Sabine Christiansen die einstimmige Entscheidung.
foto: kinowelt

söhnke wortmann
"deutschland. ein sommermärchen"
2006
i can't relax in deutschland
unterm durchschnitt
testcard
sinistra! frankfurt
presse club hannover


weiterlesen...

Sonntag Nachmittag [Oktober 2006]







fotos: manuel kaufmann

weiterlesen...

Lo-Fi-Fnk [Helsinki, 30.09.2006]

Black Jack?
Erdige Rockmusik?
Lo-Fi-Fnk?
Wie soll das denn bitte funktionieren?


"boy, it's great to be back home, the city that's where we belong."
(leo drougge)

Elektro-Pop ist der letzte Schrei, er ist neben der britischen Retro Rock 'n' Roll Welle offensichtlich das Gebot der Stunde. Ein Act spriesst neben dem anderen aus dem Boden, wie der Samen, der lange im Boden lag, auf einmal die Bodenkrume durchbricht und sich vor aller Augen zu einer Pflanze entwickelt. Der Vergleich hinkt zugegebenermaßen, denn Scheinwerferlicht ist kein Qualitätssiegel und im Untergrund gedeiht viel Wunderbares, das niemals größere Aufmerksamkeit erregt. Das schwedische Duo Lo-Fi-Fnk könnte aber diesen Weg gehen, den akut eine längere Europa- und US-Tour von September bis November abzeichnet. Von dieser Tour blieb auch Helsinki nicht verschont. Seltener als andere europäischen Metropolen kommt die finnische Hauptstadt in den Genuss internationaler Bands und Kuenstler, so zeichnet sie sich aus subkultureller Perspektive zwar durch einen hohen Hipness-Faktor aus, doch geographisch gesehen befindet sich die Stadt eindeutig in einer Randlage.

Rahmen der Veranstaltung war der Kuningasklubi, eine monatliche Einrichtung in Helsinkis dienstältestem Rockschuppen Tavastia. Zumeist kleinere Acts aus Europa oder Übersee spielen gemeinsam mit einer lokalen Band, das Konzept erscheint auf den ersten Blick nicht gerade neu. Aber es ist wirksam, um auch unbekannte Bands finanzieren zu können, deren Reisekosten für einen einzigen Auftritt in Finnland nicht gerade gering sind. Und so kommen an diesem Abend über 400 Menschen, nicht zuletzt auch wegen dem finnischen Support Risto. Deren Brei aus erdiger Rockmusik in ihrer unangenehmsten Form und leicht jazzig angehauchtem Muckertum wirkt eintönig und uninspiriert. Die meisten Anwesenden sind vom Auftritt allerdings sichtlich begeistert. Der Hinweis, dass die (finnischen) Texte sehr wichtig für das Verständnis der Band sind, ist ein guter Anlass um sich doch lieber an der Bar im Vorraum zu flüchten, wohin das Geschehen auf der Bühne unnötigerweise mit Hilfe von Flachbildschirmen übertragen wird. Noch absurder erscheint allerdings der Black-Jack-Tisch, hinter dem tatsächlich ein Croupier im Smoking sitzt. Doch in einem Land, wo selbst in Supermärkten Glücksspielautomaten stehen, passen sich eben auch mittelgroße Clubs und Discos den realen Verhältnissen an.

An Kuriositäten mangelt es dem Abend wirklich nicht: Risto begeistern die Zuhörer so sehr, dass sie geschlagene 90 Minuten auf der Bühne stehen und spielen, als könnten sie damit eine imaginäre Sperrstunde noch ein wenig hinauszögern. Irgendwann beenden sie ihren Auftritt dann doch und das Publikum in den ersten fünf Reihen wird innerhalb kürzester Zeit komplett ausgewechselt. So verschieden die auftretenden Bands, so unterschiedlich ist auch das Erscheinungsbild der Zuhörer. Doch niemand stört sich an der musikalischen Mischung, sie wirkt geradezu selbstverständlich und scheint für die meisten zu funktionieren. Ein paar Anwesende können den Auftritt von Lo-Fi-Fnk kaum erwarten, bereits in der Umbaupause beginnen sie zu tanzen, während der DJ den Lautstärkeregler ziemlich weit nach oben schiebt. Als dann die Schweden dann die Bühne treten, bricht sofort ein kleiner Jubelsturm aus, vom vielbeschworenen kühlen skandinavischen Gemüt keine Spur.

Die beiden Jungspunde sind kaum über 20 Jahre alt, zu manchen Clubs in Helsinki hätten sie aufgrund der restriktiven Alterbegrenzung wohl noch nicht einmal Zutritt. Doch auf der Bühne sind sie genau richtig. Völlig unverkrampft und mit einer riesigen Portion guter Laune bedienen sie elektronische Drums, Synthesizer und Laptops, unterstützt von einer kaum älteren Bassistin.

"You got me feeling high, you got me from the low!"

Ein bis auf Gesang und einzelne Bassläufe vollständig digitales Liveset wird initiiert, Lo-Fi-Fnk sind quasi die Antipode zu Risto. Nicht Rock'n'Roll sondern der Funk bestimmt den Groove, dem altbackenen und zuweilen traditionalistisch anmutenden Rock wird eine gehörige Portion urbaner Freshness entgegengesetzt. Die musikalischen Wurzeln heißen Pet Shop Boys und Soft Cell, doch angekommen sind sie im 21. Jahrhundert. Als ersten Song feuern Lo-Fi-Fnk mit City direkt ihre bekannteste Songgranate ab, anstatt wie andere Bands damit bis zum Schluss zu warten. Dieses Auftreten hat Stil. Ausgelassen feiern sie mit dem Publikum eine große Party, wirken dabei aber weder routiniert noch abgehoben. Die Musik geht direkt in die Beine, die Stimmung wird immer ausgelassener, auf und vor der Bühne wird ordentlich getanzt. Elektronische Soundästhetik wird mit klassischem Songwriting gekreuzt, ein Hybrid mit extremem Genussfaktor. Ob Adore, Boylife oder End, der Spaßfaktor wird mit jedem Song konstant hochgehalten. Vor allem ist es aber auch der ungezwungene Auftritt der Schweden, welcher die Grenze zwischen Band und Publikum zumindest in den Köpfen verwischen lässt. Nach einer knappen Stunde ist die Show zu Ende, Lo-Fi-Fnk verlassen die Bühne, um nur kurze Zeit später auf der Tanzfläche weiterzufeiern. Vielleicht ist es auch gerade diese Tatsache, die ihrer Live-Performance so einen wunderbaren Charakter verleiht: Ihre Auftritte finden aus reinem Lustempfinden statt und dem Willen, Spaß auf einer guten Party zu haben. Umso besser, wenn sie dafür auch noch der Katalysator sind.
foto: lo-fi-fnk

lo-fi-fnk
risto
tavastia

weiterlesen...

Records&Me

Im Sommer 2004 hatte die dänische Band Cartridge eine Autopanne, die sie auf der Reise in den Süden bereits in Hamburg aufhalten sollte. Solche Ereignisse sind oft wenig rühmlich, noch weniger erfreulich und schon gar nicht erinnerungswürdig. Schließlich geschieht dies doch jedem irgendwann einmal.


"champagne to all our elder female guests."
(like a stuntman, hairy diamond breats)


Mit dieser besonderen Autopanne in jenem Sommer hängt jedoch unweigerlich die Gründung des jungen Hamburger Labels Records&Me zusammen. Hannes Langner – Label Chef, wenn man so will – traf so auf besagte Band, verliebte sich in deren Musik und entschloss sich damals gemeinsam mit einem Freund dazu, den Kampf gegen die Windmühlen der Musikindustrie aufnehmen zu wollen.

Heute, gut zwei Jahre später, kann das Label bereits auf einige bemerkenswerte Platten zurückblicken. Aktuell sind da zum Beispiel das Debüt Album besagter Band Cartridge – "Enfant Terrible" -, dass durch Abwechslung, ausgereiftes Songwriting und vor allem dem charismatischen Gesang von Mathias Wullum Nielsen überzeugen kann. Die Marburger Band Tent hingegen, von der Presse mit Vorschusslorbeeren für ihre Debüt EP "Do Something" bedacht, verliert sich leider eher im allgegenwärtigen Schrei nach schlichtem Uptempo Indierock. Der Schritt zu Figurines, Maximo Park, The Killers etc. ist nicht weit, was dem Label zwar einige verdiente Aufmerksamkeit bescheren dürfte, jedoch ist die Veröffentlichung an sich eher belanglos; Der Griff zu den „Originalen“ – wenn man so will – liegt näher. Dennoch muss man gestehen, dass ein so dichtes Debüt selten sein dürfte.

Was das Frankfurter Quartett Like A Stuntman wiederum anbelangt, so darf man deren aktuelle EP "Stan Places" getrost jedem ans Herz legen! Die Sozialisation in den von Pavement dominierten Neunzigern des letzten Jahrtausends hört man hier und da durch, aber trotzdem bleibt die Band eigenständig genug, um sich klar abzusetzen. Wunderbar vereint man in den Songs den lakonischen Gesang von Sven Fritz mit akustischer und elektronischer Spielweise, schwebt anmutig zwischen LoFi Pop und sich dekonstruierenden Soundspielereien die an Tunng oder die Books erinnern, denen aber dennoch ein klar strukturiertes Songwriting obliegt. Dabei bleiben sie intelligent genug über jede Referenzhölle erhaben zu sein und sich so wenig um gängige Klischees zu bemühen, wie man es sich nur wünschen kann. Und obwohl sich Like A Stuntman kaum über die 3 Minuten Grenze hinwegbewegen, verzichten sie nicht auf einen langsamen, verschachtelten und detailverliebten Aufbau eines jeden ihrer Stücke. Awesome!

Was dennoch bei allen drei angesprochenen Bands deutlich wird, ist, dass in jedem Fall mit Liebe zur Musik gearbeitet wird. Hingabe. Intimität. All das. Records & Me eben. So klingt der Labelname selbst nach eben jener sehr persönlichen Beziehung zwischen dem Musiknerd und seiner Plattensammlung. Der gleiche Eindruck wird auch vermittelt, wenn man sich auf die Homepage des Labels begibt und dort von dezenten, aber aussagekräftigen Fotos empfangen wird.

Woher stammt der Name, bzw. was bedeutet er für dich, Hannes?
"Im Grunde hast du die Antwort ja schon gegeben. Es geht nicht nur um die Musik, sondern auch um den Tonträger als solchen. Zwar mag das in diesen Zeiten etwas merkwürdig, vielleicht sogar naiv wirken, aber für mich spielen Tonträger nach wie vor eine große Rolle. Natürlich geht es immer in erster Linie um die Musik, ganz klar. Der Tonträger hat aber seit der Einführung der CD, insbesondere aber natürlich in den letzten Jahren, deutlich an Bedeutung verloren. Ein schönes Artwork sagt eine Menge über eine Band aus und kann daher auch dazu beitragen die Musik vielleicht besser zu verstehen. Leider legen da in den letzten Jahren viel weniger Künstler wert drauf, deshalb verliert die CD weiter an Bedeutung. Dazu trägt natürlich auch das Format CD bei. Da ist ganz einfach weniger Platz als beispielsweise noch auf einem Schallplatten-Cover. Dennoch hat man auch bei der CD die Möglichkeit den Tonträger liebevoller zu gestalten als die meisten Künstler es tun. Das soll gar keine Kritik sein, wenn ein Künstler oder eine Band da keinen Wert drauf legt, dann ist das eben so. Ich finde es aber schade. Meine CD Veröffentlichungen sind bisher allesamt recht aufwendig gestaltete Digipacs. Und Meine Bands finden das großartig, geben sich mit dem Artwork immer viel Mühe und nutzen auch dieses Medium um ihren Stil zu präsentieren."

Als ich mich letztens mit Ilias von SeaYou Records unterhielt, erklärte mir dieser, dass er eigentlich gar kein Label betreiben wollte. Betrachtet man deine Geschichte, sieht das ja auch alles andere als nach von langer Hand geplant aus. Wie kommt es, dass dann am Ende doch ein Label dabei heraus kommt?
"Auch bei mir war das Zufall. Zu dem Zeitpunk, als ich Cartridge kennenlernte war ich zwar bereits Praktikant bei einer großen Plattenfirma, aber auch das nur, weil mir dieser Platz von einem Freund vermittelt wurde und ich nicht wusste was ich sonst machen sollte. Als ich Cartridge dann traf wusste ich sofort, dass ich diese junge Band unterstützen wollte. Da lag es einfach auf der Hand mit einem Freund die Ersparnisse zusammenzukratzen und eine Platte zu veröffentlichen. Allerdings sollte es ursprünglich bei dieser Platte, oder zumindest dieser Band bleiben. Irgendwie lief es dann immer weiter, das Feedback war von allen Seiten so positiv, dass wir ziemlich schnell vor der Frage standen, ob wir das Label nicht ein wenig „ernsthafter“ betreiben wollten. Lennart, mit dem ich bei den ersten beiden Veröffentlichungen zusammen gearbeitet hatte, wollte sich vernünftigerweise lieber seinem Studium widmen und so habe ich dann, vielleicht auch mangels Alternativen, gesagt: gut, dann versuch ich das jetzt einfach mal allein. Mit PIAS als Vertrieb hatte ich dann natürlich auch die Möglichkeiten dazu. Heute ist Records&Me ein Vollzeit-Job, auch wenn ich noch nicht davon leben kann."

Dein initiales Zusammentreffen mit Cartridge ist eine dieser Geschichten, die einem Label einen äußerst angenehmen Charme verleihen können. Wie kamen die Kollaborationen mit Tent und Like A Stuntman zustande?
"Christian von Like A Stuntman arbeitet zusammen mit einigen meiner Freunde bei Station 17, einer Band mit behinderten Menschen. So hab ich sie kennengelernt. Als ich Like A Stuntman dann das erste Mal live sah war sofort klar, dass ich diese Band bei Records&Me haben wollte. Zum Einen passte es menschlich sofort, zum Anderen haut einen diese Band live einfach um! Bei Station 17 arbeiten übrigens auch zwei Bandmitglieder von The Sea, die im Frühjahr ihre erste Single bei mir veröffentlichen werden. Tent hat mir ein Freund empfohlen. Auch da bin ich auf’s Konzert gegangen, hab mir die Band angehört; Es wurde Bier getrunken, am nächsten Tag Kaffee... Auch da war schnell klar, dass wir sehr ähnliche Vorstellungen haben und vor allem, dass wir uns verstehen. So spektakuläre Geschichten wie bei Cartridge kann ich da leider nicht bieten."

Das Wort "Indie" erscheint heute ja mehr und mehr zu einem leeren Begriff zu werden. Dennoch hat es im Grunde sehr viel mit Idealismus und DIY Attitüde zu tun. Werte, die man im "Musikgeschäft" allemal mit stolz hochhalten darf. Wie gehst du heute mit dem Begriff Indie um und was bedeutet er für dich und dein Label?
"Natürlich ist 'Indie' mittlerweile in erster Linie eine Schublade. Für mich bedeutet es aber, im Bezug auf Records&Me, dass wir machen können worauf wir Lust haben. Es gibt jede Menge Regeln die man bei einer Veröffentlichung beachten sollte. Der Begriff „Indie“ erlaubt mir aber auch mich über vieles hinwegzusetzen und eben unabhängig von diesen Regeln mein Ding durchzuziehen. Ich bin alles andere als Experte in der Musikbranche und habe auch kaum Erfahrungen. Bei Recrods&Me wird einfach gemacht was alle für sinnvoll halten. Bisher klappt das ganz gut."

Wie ist das Verhältnis von Label und individueller Band? Und wie ist vielleicht auch das Verhältnis von dir persönlich zu den Bands, falls das nicht zu indiskret ist?
"Da wir ja erst seit kurzem wieder zu zweit bei Records&Me sind, ist mein persönliches Verhältnis eigentlich gleichzusetzen mit dem von Records&Me zu den Bands. Ganz einfach auch, weil mir ein persönlich gutes Verhältnis zu den Bands wichtig ist. Mit Cartridge verbindet ich in erster Linie Freundschaft und erst dann eine Art „Geschäftsbeziehung“. Wobei Geschäftsbeziehung hier ohnehin kein gutes Wort ist. Ich würde eher Partnerschaft sagen, da keiner Entscheidungen ohne Einwilligung des anderen trifft. Genau so ist es auch bei Like A Stuntman und Tent. In erster Linie sind wir Freunde. Das ist mir auch sehr wichtig, denn sonst würde mir dieser Job keinen Spaß machen. Zwar bringt das natürlich gelegentlich auch Probleme mit sich, letztendlich haben wir aber alle die gleichen Vorstellungen von dem was wir gemeinsam erreichen wollen und können. Konflikte über beispielsweise Vorgehensweisen lassen sich da schnell klären. Vertrauen und gegenseitiger Respekt sind dafür aber sehr wichtig."
foto: lisa notzke



records&me
cartridge
tent
like a stuntman



weiterlesen...

Reeperbahnfestival [Hamburg, 21.-23.09.2006]

Das erste Reeperbahnfestival zu Hamburg.
Eindrücke des vom texanischen South By Southwest inspirierten Festivals, von Donnerstag Abend bis Freitag Nacht in Bildern festgehalten.



"das wird kein deutsches sxsw!"
(kritischer besucher)



"3 Tage, 20 Bühnen, 200 Acts", heißt es locker vom Veranstalter. Und der Hinweis, dass es lohnt sich durch die Clubs treiben zu lassen. Fazit nach 1 1/2 Tagen: nette Idee, aber viel zuviel für zu kurze Zeit. Der Abend hat sein Ende nach 0h erreicht und auch mobil mit Fahrrad ist keine Zeit für entspannte Konzerte. Zumindest nicht, wenn man mehr als eines erleben will und dazu den Veranstaltungsort wechseln muss. Zu eng gestrickte und nicht eingehaltene Zeitpläne und zu viele Überschneidungen der bekannten und gern gesehenen Bands am späteren Abend kommen noch hinzu.

Was bleibt ist eine gute Idee mit verbesserungswürdiger Umsetzung und dennoch angenehmer Atmosphäre.
text und fotos: Uta Bohls

reeperbahnfestival

weiterlesen...

The Album Leaf [Into The Blue Again]

„Into the Blue Again“, das neue Werk von The Album Leaf, ist keineswegs eine einfache Platte. Es ist schon schwierig, die passende Gelegenheit, den Moment zu finden, zu dem diese Musik ganz eindeutig passt – so wie Jack Johnson nur bei Sonne und Fröhlichkeit gehört werden kann und Coldplay fast gezwungenermaßen melancholisch macht. Für „Into the Blue Again“ muss man sich auf Reisen begeben. Und dann aufdrehen.



"in the air i flew / through the clouds i fall."
(always for you)


Hinter dem kryptischen, einem Chopin Stück entnommenen Bandnamen The Album Leaf, verbirgt sich der Multiinstrumentalist Jimmy LaValle. Er veröffentlichte seit 1999 unter dieser Kennung bereits drei Alben, von denen die beiden ersten allerdings bei weitem zu wenig Aufmerksamkeit bekamen. Immerhin hörten aber Sigur Rós von dem bärtigen Kalifornier und luden ihn ein, Support ihrer US-Tour zu sein. Anschließend holten sie den Künstler nach Island, um dort mit ihm sein drittes Album "In A Safe Place" aufzunehmen, das sowohl von Kritikern als auch Fans gefeiert wurde. Letztere vermehrten sich stark, als die Platte dann noch in nicht weniger als sechs Folgen der amerikanischen Erfolgsserie O.C. California zu Gehör kam. Das brachte allerdings auch Probleme mit sich: "Viele langjährige Fans sprachen von Ausverkauf oder so. Dabei ging es mir nie darum, viel Geld zu verdienen, sondern die Musik machen zu können, die ich mag", sagt LaValle.

Ohne viel Zeit verstreichen zu lassen, kehrte er dann ins Sigur Rós-eigene Studio, einem ehemaligen Swimmingpool, zurück – into the blue again quasi - um dort ein neues, wunderbares Werk zu schaffen. Und beide Fanlager, sowohl die Fernsehzuschauer als auch das alteingesessene Elektro-Publikum, dürften damit mehr als nur zufrieden sein: Konsequent wird hier fortgesetzt, was auf "In A Safe Place" begann, ohne dabei auf Massenkompatibilität abzuzielen.

Man muss sich schon Zeit nehmen für diese Musik, allein, um eine passende Umgebung für sie zu finden. LaValle, der fast alle Instrumente selbst einspielte, scheint sich Klangfelder zu schaffen auf Basis von langen Synthieakkorden und schlichten Beats, die eigentlich nicht besonders weit gefasst sind. Auf diesen Feldern tobt er sicht aus, vornehmlich mit elektronischen Tasten, gern aber auch durch Streicher und sanfte Gitarren, und scheint so doch wieder unendliche Weiten zu eröffnen. Dazu kommt immer wieder dieser dumpfe, schwummrige Unterwassereffekt – vielleicht hat das Swimmingpoolstudio tatsächlich seinen Teil beigetragen.

"Into The Blue Again" ist aber keineswegs verschwimmende Musik, sondern eine klar definierte. Sie ist treibend, immer in Bewegung, in eine bestimmte Richtung und mit einem klaren Ziel, das sie aber doch nie zu erreichen scheint. Dabei kommt sie nie aus der Ruhe und hat oftmals einen wehmütigen Hauch, als steckte sie voller Erinnerungen. Das Stück Red-Eye beispielsweise scheint eine Frage zu stellen, ohne Antworten zu erhalten, und am Ende, nach sechs Minuten, doch irgendwie weitergekommen zu sein. So sind alle zehn Tracks der Platte. Niemals gleich! Aber alle tragen LaValles eindeutige Handschrift. Grazile Elektronik ist das, zu der man sich trotzdem auch eine schwebende Ballerina vorstellen kann.

Beim Hören sollte man sich bewegen wie die Musik selbst, man sollte bewegt werden, in einem Zug oder Auto oder Flugzeug. Denn schon vor dem geistigen Auge ziehen Landschaften und Lichter vorbei, wenn der Opener The Light erklingt, er ist wie eine Reise in der Dunkelheit, sei es ganz früh morgens oder spät in der Nacht. Im Verlauf der Platte scheint manchmal geradezu die Sonne aufzugehen, irgendwo weit weg am Horizont. Jimmy LaValle muss mit sich im Reinen gewesen sein, als er das schuf, und gleichzeitig gewusst haben, dass alles weitergeht, gut weitergeht, ohne jedoch zu wissen, wo er am Schluss landet. Eine Reise nun mal, ins Glück vielleicht und auf alle Fälle durch viele kleine Glücksmomente. Er muss sehr zufrieden gewesen sein.

Das können alles völlig falsche Gedanken sein. Vielleicht war es ganz anders. Aber das ist eine der vielen Qualitäten von "Into The Blue Again": Es stupst die Fantasie an und entführt in Kopfwelten, nimmt mit auf eine Reise und lässt ausführlich träumen. Selbst bei den wenigen Tracks, in denen LaValle die (eigene!) Stimme erhebt, lassen die Texte noch mächtig Interpretationsspielraum.

Also, den Kopf freimachen und Platz schaffen für zehn große Lieder. Und dann auf Reisen gehen, vielleicht nach Island, wo es diesen alten Swimmingpool gibt.
foto: bill zelman



the album leaf
"into the blue again"
city slang 2006 cd
the album leaf

weiterlesen...

Sonntag Nachmittag [September 2006]







fotos: manuel kaufmann

weiterlesen...

Seayou Records

Wien. Die Spex attributierte die österreichische Hauptstadt mal als "Hochburg des gepflegten Abhängens in Helmut Lang Anzügen" und "Hauptstadt der selbstzufriedenen Langsamkeit“. Die Zeiten ändern sich selbstverständlich und der elitäre Habitus und die Vorherrschaft downbeatesker Klänge scheinen zu Gunsten neuer Ideen und Einflüssen abgestuft worden zu sein.


"i've got a mothfull of promises, i've got a handfu of lousy kisses."
(paper bird, mouthful)


In der Tat tut sich viel in der eineinhalb Millionen Einwohner zählenden Stadt. Für Aufruhr sorgt vielleicht auch ein sehr kleines und noch viel jüngeres Label, dass auf den Namen SeaYou Records hört. Seit Februar diesen Jahres wird es von Ilias Dahimene betrieben und teilt seinen Namen unter anderem mit einer Yacht Firma aus Korfu und einem japanischen Kurzfilm. In einer so kurzen Zeit liegt es auf der Hand, dass der Katalog an Veröffentlichungen noch recht schmal ist. Genau genommen handelt es sich dabei lediglich um eine 7 Inch und um ein CD Album. Trotzdem relevant für eine nähere Betrachtung? Allerdings!

Erwähntes Vinyl beherbergt vier Songs der Wiener Band Go Die Big City! (bei der Ilias selbst Floor Tom und Snare Drum spielt, "was mich in die glückliche Position bringt am lautesten zu sein"), die man neben dem wunderbaren Namen auch noch für ihre innovative Musik beglückwünschen darf. Um sich selbst zu helfen, darf man bei der Beschreibung wohl am ehesten auf das amerikanische Go! Team und die australischen Architecture In Helsinki zurückgreifen, verquickt mit einer Spur Anti Folk. Ohne dabei auszulassen, dass man sich von ersteren die kreative Respektlosigkeit gegenüber den Altmeistern der Popmusik, von den Architekten die ungenierte Integration unterschiedlichster Instrumente entliehen hat. Wenn da zwei Blockflöten aufeinander treffen, wie andernorts E-Gitarren, klingt das nach Dilettantismus im ursprünglichsten Sinne und eben nach Anti Folk Schule; man macht Musik um ihrer selbst willen. Ungestörte Selbstexpression. "We don’t need any reason" (Supernatural Kids Rule), singt man dann auch folgerichtig. Yeah!

Die zweite Veröffentlichung bezieht sich auf Anna Kohlweis, die - neben einer äußert kreativen künstlerischen Tätigkeit - unter dem Pseudonym Paper Bird im Singer/Songwriter Universum verankert ist. Die ebenfalls zu den Wildfängen von Go Die Big City! gehörende Anna, zeigt auf ihrem Debüt Album eine ganz andere Seite ihrer musikalischen Ideen. Maßgeblich von der Akustikgitarre getragen, akzentuiert mit Flöte, Glockenspiel oder Fieldrecordings, beeindruckt sie vor allem durch ihren charismatischen Gesang, bei welchem sie sich als auffallendes Stilmittel immer wieder selbst mehrstimmig begleitet. Die Leidenschaft und Liebe zum Detail wird auch deutlich, wenn man das Cover zu "Peninsula" – vgl. die Luxushotelkette aus Hongkong (sic!) – betrachtet; Ein selbst gebastelter Schriftzug hängt zwischen zwei Bäumen, buntes Laub fliegt durch die Lüfte – alles ist artifiziell und doch bezaubernd homogen und natürlich. Großes Kompliment!

Überhaupt behält man bei Seayou alle Produktionsmaßnahmen in den eigenen Händen, was sich in liebevoll gestalteten Details ausdrückt. Dennoch kommt der Einstand als Label mit einer 7" einem finanziellen Selbstmord nahe. Ilias erklärt mir aber völlig selbstverständlich, dass er das Geld einfach hatte, da er Ende letzten Jahres viel mit seinem Projekt Vortex Rex unterwegs war und wenig stehende Kosten anfielen. "Ich habe ehrlich gesagt nicht so viel darüber nachgedacht. Ich fragte Go Die Big City! ob sie ihre Aufnahmen nicht veröffentlichen wollen und sie wollten das unbedingt als 7" machen.“ Und dann steckte er das Geld einfach in die Platte. Zum Glück.

Wenn man so will, prangt zurecht das Wort Independent über Seayou. Kannst du mit dem Begriff heute noch etwas anfangen? Auch im Bezug auf eure DIY Attitüde?
"Independent ist schon OK, auch wenn er mittlerweile einen altmodischen Touch hat. Ich will natürlich, dass möglichst viele Leute Zugang zu der Musik haben, die ich selber mache oder herausbringe. Mir ist aber schon wichtig, dass das in einem rahmen geschieht, in dem ich mich wohl fühle. Es ist cool mit Leuten zusammenarbeiten, die den gleichen sinn für Action und Ästhetik haben und die auf die gleiche Art Party machen."

Seayou und Fettkakao sind eng miteinander verwoben. Ihr verzichtet beide bislang auf Veröffentlichungen, die den vulgären Nerv der Zeit treffen; will sagen kein Retro Rock, keine Imagebands, keine Deutschpopallstars. Inwiefern siehst du die beiden Label als Möglichkeit für musikalische Verweigerer und Flüchtlinge?
"Sowohl ich als auch der Andi von Fettkakao haben glaub ich schon halbwegs genaue Vorstellungen von dem, was wir Veröffentlichen wollen. Das hat nicht wirklich was mit Musikrichtungen oder bestimmten Images zu tun. Man kann es schwer erklären, weil so viele Faktoren dabei wichtig sind. Ich lebe schon für Musik; Ich höre sie ständig und denke ständig daran. Ich will ehrlich gesagt auch nicht zu viel darüber nachdenken was ich grundsätzlich veröffentliche oder nicht. Was passiert, das passiert."

Wie wichtig ist die lokale Verankerung für euch und inwiefern tragt ihr vielleicht zu einem neuen Selbstverständnis, einer bestimmten Interpretation der Wiener Musikszene bei?
"Als ich mit dem ganzen angefangen habe vor ca. einem Jahr, wollte ich so etwas wie eine neue Infrastruktur schaffen; für mich, meine Homies, deren Musik und anderen Outputs. Ich hab schon länger gemeinsam mit freunden Konzerte für tourende Bands veranstaltet, die sonst in Wien niemand gemacht hätte. Von daher war das mit den Konzerten dann gar nicht schwer. Platten herausbringen war schon neu und ursprünglich auch gar nicht so geplant. Wien selber finde ich als Stadt schon sehr super, wenn man von dem zu kalten und langen Winter mal absieht. Vor allem in letzter zeit hat sich dort viel getan. Und ich bin noch immer oft überrascht von neuen, coolen Bands, Orten usw. Was wir machen ist ja in gewisser Weise schon irgendwie familiär. Deswegen weiß ich nicht, ob sich das in irgendeiner weise auf ein Selbstverständnis als Solches auswirkt."

Im Gegensatz zur überwiegend desolaten Radiolandschaft in Deutschland, lies euer öffentlich rechtlicher FM4 Go Die Big City! für eine Studio Session spielen. Wie kam es dazu und wie wichtig ist ein solcher Auftritt für euch als Band und für die Musikszene in Österreich?
"Das mit FM4 hat uns auf jeden Fall eine Menge geholfen und uns auch konzerttechnisch auf eine andere Ebene katapultiert. Es ist irgendwie lustig, wenn man die meiste Zeit seines Lebens in Squats, Jugendzentren und Wohnzimmer spielt und dann auf einmal auf riesigen Bühnen herumsteht. Ich glaube FM4 will durch den Soundpark österreichische Musik fördern, was eigentlich schon super ist. Und ich finde in der Tat, dass sich, wie eben gesagt, schon einiges getan hat im vergleich zu früher. Und FM4 hat durch seine große reichweite sicher einen Anteil daran."

Die beiden ersten Veröffentlichungen sind ja relativ gegensätzlich, wenn man sie rein formal und besetzungstechnisch betrachtet. Dennoch steckt viel Netzwerkarbeit dahinter. Was hat es mit dieser Gemeinschaft auf sich, mit den Bands und Solisten, die sich immer wieder gegenseitig supporten?
"Mir hat das ganze Feature Konzept aus dem Hip Hop sehr gut gefallen. Deshalb wollte ich das auf der Vortex Rex Platte auch so haben. Es macht mehr Spaß und man hat schon eine viel schönere Zeit während der Produktionszeit. Es gibt viele Gründe andere in seine Projekte mit einzubeziehen. Es hat sich eben in dem Zeitraum gut angefühlt und ich bin persönlich sehr froh, dass wir bis jetzt nur Sachen gemacht haben, die sich sehr natürlich angefühlt haben und nicht erzwungen wurden. Ich will mit Seayou kein Label sein, dass sich Stil technisch irgendwie beschränkt. So gesehen will ich dezidiert kein indie, lofi, oder was auch immer bis jetzt für Attribute gefallen sind, Label sein. Das schöne daran ist, dass sich alles entwickelt und dass niemand sagen kann, wie es das tut. Und das ist super spannend gerade. Ich wollte lange kein Label haben aber Go Die Big City! und Paper Bird haben das geändert und jetzt bekommt das alles irgendwie seinen eigenen Platz. Und mittlerweile ist das ja auch extrem viel Arbeit. Aber eben 'natürliche' Arbeit, die Spaß macht."
foto: anna kohlweis


sea your records
go die big city!
gdbc! bei fm4
paper bird
fettkakao records
vortex rex

weiterlesen...

Süddeutsche Zeitung [Diskothek]

Nach den literarischen und cineastischen Betrachtungen, geht die Redaktion des Süddeutsche Zeitung Magazin mit einer neuen, aufwendig produzierten Reihe auf die Geschichte der popkulturellen Entwicklung der letzten fünfzig Jahre ein.


"'stand by your man' drückt natürlich genau das aus,
was konservative männer 1968 hören wollten.
"
(tammy wynette über besagtes stück)


Im Zeitalter der digitalen Datenverwaltung würde es beinahe wie ein überholtes Relikt erscheinen, dass man seine Plattensammlung akribisch ordnet, wenn es nicht die phonophilen Nerds gebe, von welcher Gruppe sich auch der Autor nicht distanzieren kann. Für diese Obsession gibt es die unterschiedlichsten Ordnungsprinzipien, sei es nun nach einem über-sichtlichen alphabetischen System, oder dem Charakter Rob Flemming aus Nick Hornbys Roman High Fidelity entsprechend: "Heute Abend schwebt mir etwas anderes vor, und ich versuche mich zu erinnern, in welcher Reihenfolge ich die Platten gekauft habe"; eine autobiographische Ordnung. Die SZ Magazin Redaktion der Süddeutschen Zeitung hat es sich nun zur Aufgabe gemacht eine, analog ihrer bereits etablierten und von anderen Zeitungen aufgegriffenen Bibliothek sowie der weniger Beachtung geschenkten Cinemathek, eine SZ Diskothek zu erstellen, bei welcher sie die Musik in einer chronologischen Ordnung erfassen. Weiter noch, die Redaktion unternimmt den Versuch, jedes einzelne Jahr, von 1955 bis 2004 einzeln zu betrachten, den pophistorischen Hintergrund aufzuführen und die, wie sie es nennen, "besten 20 Songs" eines jeden Jahres vorzustellen. Großspurig wie ein Noel Gallagher verkündet man so auch gern über sich selbst, dass diese "ultimative Anthologie der Popmusik [….] auf Jahre hin Maßstäbe setzen wird."

Der jeweils rund 80-seitige Band stellt das Jahr in fünf Teilen vor. Zunächst durch ein zusammenfassendes Essay, welches das Jahr selbst betrachtet, eine diesem angeschlossene Fotostrecke, ein, mit "Das Fundstück" bezeichneter Zeitungsartikel oder Interview aus dem jeweiligen Jahr, eine Vorstellung der, wie sie dargestellt werden, "20 besten Songs des Jahres", und zu guter letzt der im Buchrücken befindliche CD mit eben diesen Stücken, welche exklusiv für die SZ Diskothek kompiliert wurde.

Für die essayistische Bestandsaufnahme eines jeden Jahres hat die Süddeutsche Zeitung, neben ihren eigenen Feuilleton Redakteuren, den ein oder anderen bekannten Namen wie Hans Nieswandt oder Ralf Niemczyk gewinnen können. Innerhalb dieser sorgfältig recherchierten Abhandlung erfahren wir Offensichtlichkeiten, aber auch Zusammenhänge, die man so vielleicht noch nicht betrachten konnte. Der Band 1968 sieht die Welt im Aufruhr und setzt die zeitgenössische Popmusik in diesen gesellschaftlichen Kontext. "Rock 'n' Roll ist die Speerspitze unserer Attacke", wird dort John Sinclair, der Manager der Detroiter MC5 zitiert. "Mit unserer Musik ziehen wir nichts ahnenden Spießern das Geld aus der Tasche und machen ihre Kinder zu Revolutionären." Die unterschiedlichen politischen Strömungen des Jahres werden eingefangen, ihre gesellschaftliche Relevanz erfasst und schließlich die popkulturellen Bewegungen als plakative Auswirkungen dieser Hintergründe impliziert. Das "Popjahr" befand sich im Spannungsfeld zwischen zynisch ironischer Gesellschaftsbetrachtungen von Frank Zappa und seinen Mothers Of Invention, den gerade aus Indien zurückkehrenden Beatles, einem politisch desinteressierten Mick Jagger und einer popkulturellen Ohnmacht in Deutschland, die sich besonders durch Heintjes Spitzenbelegungen in der Hitparade abzeichnete; seine Stücke Mama und Heidschi Bumbeidschi dominierten das Jahr 1968 in der jungen Bundesrepublik. Das Jahr 2000 wird vor dem Hintergrund des anbrechenden Millenniums und den damit heraufbeschworenen Superlativen beleuchtet. Das Ausbleiben des Y2K Crashes sowie des Weltunterganges im Allgemeinen haben eine unspektakuläre Dekade der Revivals ausgelöst die bis heute anzuhalten scheint. Musikalisch bewegte man sich in unseren Gefilden zwischen US Mainstream HipHop, alternden Ikonen wie John Bon Jovi oder Santana und vor allem dem Erschließen eines neuen Marktes; Durchschnittsbürger werden aus einem provozierten TV Kult als Pseudostars in die hiesigen Charts geschleust und penetrieren mit Dauerrotation jeden Haushalt. Allen voran die Big Brother Epigonen Zlatko Trpkovski und sein Kumpel Jürgen. Ansonsten weiß Tobias Kniebe über den Untergang der Tauschbörse Napster zu berichten und den damit beginnenden Ansturm immer neuer Pear2Pear Programme, welche den aktuellen Untergang der Musikindustrie als florierende Geldquelle mit einläuteten.

Im Gegensatz zu den angelegten Fotoreihen, die teilweise mit bekannten Fotos aus den jeweiligen Jahren und kurzen Fotostrecken, wie protestierenden Studenten auf dem gesamten Globus daherkommen, weiß das "Fundstück" zu überraschen. Hier versucht man, das jeweilige Jahr in einem zeitgenössischen Blickwinkel zu betrachten. Interviews, wie jenes der deutschen Zeitschrift Konkret vom November 1968 mit Frank Zappa, in welchem dieser zum Ende flapsig mit der Frage "Übrigens, wollen Sie Antichrist sein?" konfrontiert wird, oder einem Artikel über OutKast aus dem britischen Guardian im Jahr 2000, schildern in ihrer Funktion als Zeitzeuge ein aktuelles Verständnis der Popkultur im jeweiligen Jahr, und dokumentieren über die Zeit hinweg, wie sich dieses Verständnis verändern sollte; von der subkulturellen Jugendkultur hin zu einem der ergiebigsten Kapitalströme bis zum aktuell anhaltenden Niedergang eben dieser Branche.

Den Kern der Anthologie dieser fünfzig Jahre Popgeschichte, bilden die 1000 Songs, welche es über die gesamte Serie hinweg zu entdecken gibt. "Nie ist Popmusik bisher ausführlicher und schöner gewürdigt worden", behauptet man von sich selbst. Zu jedem Jahr benennt die SZ Redaktion gemeinsam mit Musik Journalisten die 20 besten Stücke, wobei die Auswahl auf den zugehörigen CDs sich stets zwischen Songs welche für die Repräsentation des Jahres nicht offensichtlicher sein könnten, und einigen Überraschungen bewegt, da man gewillt ist, eine gute Übersicht über unterschiedlichste popkulturelle Strömungen zu liefern.

Was an dem Soundtrack zu oben erwähnter Nick Hornby Verfilmung enttäuschte, nämlich dass der größte Teil der Songs, welche in dem Buch angesprochen werden, dort nicht vertreten sind, fällt auch an der SZ Diskothek auf. Werden im Band 1968 Country Joe & The Fish, die Fugs, Frank Zappas Mothers Of Invention sowie die bereits benannten MC5 als die vier herausragenden Bands mit direktem politischen Ansatz gehuldigt, findet sich leider kein einziges Stück dieser auf der Kompilation wieder. In dieser Hinsicht darf man sich durchaus einen direkteren Bezug zwischen Essay und der Zusammenstellung der 20 Stücke wünschen, denn dieser Aspekt könnte der gesamten Reihe – wahrscheinlich aufgrund der bestehenden Kopierrechte – den veritablen Anspruch vereiteln.

Die Auswahl als solche kann dennoch überzeugen, bietet sie einen repräsentativen Querschnitt von dem, was gehört wurde und andererseits besser hätte gehört werden sollen. In der Ausgabe zum Jahr 2000 sind demnach sowohl Chartserfolge etwa von der verstorbenen Aaliyah, den mittlerweile zerstrittenen All Saints oder OutKast, andererseits jedoch auch Stücke von den fantastischen Calexico, den ewig unterschätzten Grandaddy, der provokanten Wahlberlinerin Peaches oder dem Weilheimer Console zu finden, welcher sich im Millennium Jahr an einen Remix des Tocotronic Stückes Freiburg wagte. Jeder Song wird kurz besprochen und die jeweiligen Umstände liebevoll rekonstruiert, in welchen er entstand. Gerade bei den frühen Jahren ergibt sich so für die jüngeren Generationen ein aufschlussreiches Nachschlagewerk, welches pophistorische Zusammenhänge aufzuschlüsseln weiß, auch wenn der enorme Umfang eines solchen Ansatzes selbstverständlich viele Momente unbeachtet lässt.

Selbst wenn ein so grenzenlos subjektiv belegter Versuch, wie die Zusammenstellung und Präsentation der größten und wichtigsten Stücke der letzten 50 Jahre Musikgeschichte stets zu polarisieren weiß, jeder zu beanstandende Lücken ausmachen kann und man sich gern über die Notwendigkeit und den Gehalt einer chronologischen Sammlung von Popmusik – vielleicht auch gerade vor dem Hintergrund der stagnierenden Umsätze im Zeitungsverkauf im Allgemeinen – streiten mag, scheint der SZ Redaktion eine veritable Großtat zu gelingen, von der man das ein oder andere Exemplar früher oder später in seinem Schrank wieder finden wird.
foto: sz diskothek



süddeutsche zeitung magazin
"diskothek"
50 jahre popmusik, ein jahr und seine songs
1955 bis 2004
süddeutsche zeitung verlag 2005-2006

weiterlesen...