Laura Imbruglia [Laura Imbruglia]

Was bedeutet es eigentlich für einen Künstler im "Schatten von jemanden zu stehen"? Im Falle der australischen Folk-Perle Laura Imbruglia, die in diesen Tagen ihr Debutalbum veröffentlicht, bedeutet dieser Schatten die immer gleichen Fragen nach der eigenen Herkunft. Aber reicht dies, um auch international Erfolg zu haben?


"i'm all out of faith / this is how i feel
i'm cold and i am shamed / lying naked on the floor
"
(natalie imbruglia, torn)


Laura Imbruglia macht Musik. Tolle Musik sogar. So toll, dass sie in ihrer Heimat Australien bereits wahre Begeisterungsströme und hektische Hamsterkäufe ihres selbstbetitelten Debüts auslöst. Man schätze eben ihre verschrobene Art und kenne ihre große Schwester; der Name Imbruglia ist schließlich bekannt, sogar weit außerhalb Australiens. Doch anders als ihre glatte, popverzogene, große Schwester Natalie, die dem Kitsch und der großen Geste der Musikindustrie zum Opfer fällt, wandelt die 24-jährige Laura auf eigenen Pfaden. Und wie könnte es auch anders sein, liegen diese musikalischen Pfade weit ab vom konventionellen Liedgut ihrer Schwester Natalie. Man könnte fast von einer kindlichen Rebellion ausgehen – bloß nicht so werden, wie die eigene Schwester. Aber Laura Imbruglia wäre nicht Laura Imbruglia, wenn sie das alles nicht schon wissen würde. Sie spielt die Rolle der kleinen nörgelnden Schwester ziemlich gut. Außerdem macht sie nicht den Fehler und versucht ihrer Schwester Natalie nachzueifern, sondern geht ihre eigenen Wege.

Laura singt und schwitzt neben ihrer Backing-Band – im Trio. Auf ihrem selbstbetitelten Erstlingswerks huldigt sie nicht nur der klassischen Schrammelgitarren-Fraktion, sondern entwirft ihre eigene Formel aus Folk, Punk und einer Brise Selbstironie. Besonders letzteres wird zum Faszinosum der Platte und ergießt sich in Kaskaden über den Hörer. Laura hält sich den Spiegel vor das Gesicht und erzählt surreale Geschichten aus ihrem Leben, von verrückten Wissenschaftlern und den spätestens seit "Donnie Darko" in der Popkultur angekommenen Kaninchen-Mythos.

I had a trolley full of carrotts
and started looking for a rabbit.
I passed a guy whose eye was cabbaged,
and searched his unattended baggage."

Nicht nur Looking For A Rabbit ist ein Beweis für Lauras unübertreffliche Fantasie, die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Sie macht keinen Unterschied zwischen Kopfsalat und Anarchisten (Lettuce And Anarchists). Alles hat seinen Platz und wird Teil ihrer Fantasiewelt.

Doch reicht der Hang zur Selbstironie leider nicht aus, um auf der ganzen Linie zu überzeugen. My Opus beispielsweise ist der augenzwinkernde Versuch in psychedelische Nostalgie abzudriften und verliert sich in cheesigen Melodien und belanglosen Themen. So hart wie es klingt, aber „It’s getting worse". Leider hält der Song, was er verspricht und spätestens mit „Hurt my feelings" zuckt der Finger und sucht die Skip-Taste.

An insignificant other? Tell me and I’ll put on a mask."

Und während Laura im Wunderland immer noch auf der Suche nach dem entschwundenen Kaninchen ist, drängt sich spätestens beim zweiten Hördurchgang ein kleiner Schimmer von Banalität in die noch entzückten Gehirnwindungen. Es war doch alles so sympathisch? Die schroffe Art, die lustigen Texte, der Hang zum Dilettantismus – alles Dinge, die man heutzutage zu schätzen weiß. Es sind vor allen Zeilen wie: „I sense impending doom is being signified. I don’t need doom, I need apple pie" (My Opus), über die man stolpert und einfach nicht darüber hinweg kommt. Sicherlich ist der Reiz von surrealistischen Texten und sinnentleerten Textphrasen nicht auszuschließen, aber es kommt immer auf die Umsetzung an und die wird in diesem Fall wie ein D-Zug gegen die Wand gefahren. Was übrig bleibt ist das Kondensat von drei Songs für die auch allemal eine EP ausgereicht hätte.

Liebe Laura,
es war schön mit dir, nur leider kann ich nicht mehr bei dir bleiben. Ich mag deine Stimme und deine Art sie einzusetzen, nur willst du mir manchmal einfach zu viel und realisierst dafür zu wenig. Nimm dir beim nächsten Mal etwas mehr Zeit und fange endlich an Songs zu schreiben. Mein Gott, du sollst ja nicht die Welt verändern. Kopf hoch, ich weiß, dass du das schaffst. Zur Not kannst du dir ja jemanden engagieren, zum Beispiel den netten Herrn, der die Songs für deine Schwester schreibt.
Die besten Grüße,
Holger.
foto: motor fm



laura imbruglia
"laura imbruglia"
silversonic 2007 cd
laura imbruglia

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Sonntag Nachmittag [Dezember 2007]













fotos: manuel kaufmann

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Werle & Stankowski [Köln, 27.11.2007]

Es gibt keine Rollen mehr zu spielen, keine zweite Haut, keine retuschierte Fassade und aufgesetzte Laune. Werle & Stankowski kommen heim und heute Nacht ist ihr Publikum ihr wohltuendes Spiegelbild, dass sie reflektiert wie sie empfinden müssen: Uneingeschränkt fröhlich und entspannt, in knisternder Vorfreude auf die kommenden anderthalb Stunden.



"from today on i stop counting all my faults."
(my mask)

Beste Voraussetzungen für einen Auftritt wie aus dem Livekonzert-Bilderbuch also, in dem Künstler und Dargebotenes frenetisch gefeiert und beklatscht werden und die Ausübenden beinahe altruistisch Lieder und Anekdoten spendieren ohne gleichwertige Gegenleistungen einzufordern.

Letzter Akt, letzte Szene; Von Beginn an dieses zerstreuenden Abends schwirrt das Bewusstsein der Unwiederholbarkeit, des endgültigen Charakters dieses Tourabschlusskonzertes im Raum, auf beiden Seiten sind die Erwartungen hoch, an sich selbst und an den Gegenüber. Es ist eine seltsame und aufreibende Stimmung, die um sich greift, sobald die beiden Aufwärm- Acts die Bühne verlassen haben, diese Mischung aus Spannung und gleichzeitiger Gewissheit um das Gelingen dieses finalen Auftritts der "Two Rebel without a Crew"-Tour kratzt an Nerven. So lugen Simon Werle und Johannes Stankowski fast scheu um die Ecke, betreten ein wenig zurückhaltend die kleine Bühne, als zögerten sie noch, als seien sie sich ihrer Beliebtheit noch nicht ganz sicher, oder aber einfach aus einem Anflug von Nervosität vor dem Publikum. Für die meisten Menschen heute abend ist allein das Wiedersehen mit dem Duo Anlass und Antrieb für minutenlanges klatschen, kreischen und feiern, wie verlorengegangene Helden werden Werle & Stankowski begrüßt, noch bevor ein einziger Ton gefallen ist.

Und Werle & Stankowski grüßen gerne zurück, sie machen sich ans Werk, mit dem Ansporn vor dem Heimatpublikum zu glänzen und mit dem sicheren Gefühl hier und heute nichts falsch machen zu können.

Johannes Stankowski zieht seine Schuhe aus, Simon Werle macht die Knie locker, und alles nimmt seinen Lauf, es werden alte Schätzchen zu Tage gezaubert, neue Beats schwingen sich empor, es wird getanzt und schönerweise kenne alle den Text, und sei der Song noch so anspruchsvoll.

Es stellt sich heraus, dass das Zweigestin nicht bloß Musiker-, sondern auch vortreffliche Unterhalterqualitäten besitzt, beinahe jeder Song wird mit trivialen Geschichtchen angesagt, erklärt, es fallen eine Menge Namen und Liebesbekundungen an diesen und jenen, und ganz nebenbei liefern W&S ein musikalisch wie atmosphärisch wahrlich erstklassiges Konzert ab. Jeder Song eine Sahneschnitte, Johannes Stankowski spielt Gitarre singt mit herrlich angerauter Stimme, eigenwillig und unverwechselbar, mit einem unfassbaren Gefühl für Glaubhaftigkeit und Melodieführung. Nebenan zieht Simon Werle alle Register seines elektronischen Könnens, immer mit einem wachsamen Auge und Ohr auf den Songwriter, und mit größtmöglicher Aufmerksamkeit und absoluter Perfektion in Sachen Timing.

Es macht großen Spaß zuzusehen wie beide jungen Männer Gefallen an dem finden, was sie tun, beinahe verliebt werfen sie sich Blicke und Komplimente zu, ein gewisser Chris F. ist für Getränkeversorgung und Kommentierung vom Bühnenrand zuständig, Künstler und Publikum sind abwechselnd überwältigt vom Stimmungsgehalt des Konzertes, das mehr und mehr einer Party im 400-man starken Freundeskreis gleicht. Zu guter letzt steht sogar ein Herr mit einem Heiratsantrag auf der Bühne, das Underground bebt auch noch nach sage und schreibe drei Zugabenblöcken und Werle & Stankowski heben zu ihrem letzten Kracher der 2007-Tour an: Johnnys Spelunke, einen 30er-Jahre Schlager über alkoholische Annehmlichkeiten und Freundschaften im kühlen Sibirien: Herrlich!

Hier hat man es zu keinem Zeitpunkt nötig affektiert zu reden oder zu tanzen, es geht Werle und Stankowski nicht darum sich dem Publikum überlegen, sondern ebenbürtig zu zeigen. Und diese Suggestion kommt an, hier stehen zwei völlig unterschiedliche, aber normale, und wunderbar wenig stilisierte Männer.

Einer klein, ein wenig ruhig und vergnügt, der andere riesig, redselig und beschwipst. Und zusammen lösen sie das aus, was man sich von allen Konzerten verspricht, aber viel zu selten mit nach Hause nimmt: zwei Stunden Glückseligkeit.
foto: judith wiemers

werle & stankowski

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Sonntag Nachmittag [November 2007]







fotos: manuel kaufmann

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Cherry Sunkist [OK Universe] / Phon°noir [The Objects Don't Need Us]

Zwei bemerkenswerte Künstler veröffentlichen zwei bemerkenswerte Alben. Eine kurze Selbstverortung in Sachen Rezensionen und Subjektivität. Kein Grund, um gleich die eigenen Höhrgewohnheit in Frage zu stellen.



"she wanna hold him, she wanna kiss him, she wanne meet him, she wanna miss him."
(cherry sunkist, cake)


Zugegebenermaßen umweht diese Rezension ein leichter Hauch von Nepotismus. Auffallen dürfte das wohl nur denjenigen, die bereits seit geraumer Zeit die Aktivitäten des *lichter mitverfolgen und den hauseigenen Sampler "Sketchbooks" im CD-Regal stehen haben. Die darauf vertretenen fonoda bekamen für ihr letztes Album eine sehr wohlwollende Rezension, Julius veröffentlichte sein Debüt gar auf dem Schwesterlabel *urbanprovince, einhergehend mit ein wenig Selbstbeweihräucherung auf *lichter. Und nun gleich eine Doppelrezension von zwei Künstlern, die ebenfalls auf Sketchbooks vertreten waren. Vetternwirtschaft? Ein verzweifelter nachträglicher Versuch, die Zusammenstellung der Acts zu legitimieren? Klägliche Selbstversicherung des eigenen vermeintlich guten Geschmacks?

So könnte man es sehen. Es ginge aber auch anders: Subjektivität! Unbedingter Wille zur Verlautbarung der persönlichen Meinung! Abfeiern der eigenen Höhrgewohnheiten! Schließlich ist das *lichter ein Online-Fanzine, da ist man als schreibende Kraft nichts und niemandem außer dem eigenen Geschmack verpflichtet. Da liegen Cherry Sunkist und Phon°noir zumindest bei mir genau richtig. Nun veröffentlichen die beiden Elektronikkünstler ihre aktuellen Alben zeitgleich, ein sehr gelungener Zufall.

Cherry Sunkist ist eine Frau aus Oberösterreich, genauer gesagt Karin Fisslthaler aus Linz. Schon ihr Geschlecht ist ein deutliches Alleinstellungsmerkmal in einer Popkultur, die noch immer von relativ starren genderspezifischen Rollenbildern geprägt ist. Im ideologischen Anschluss an die Riot Grrrl-Bewegung tat sich auch im Electronica-Bereich einiges. Spätestens zur Jahrtausendwende waren Acts mit musikalisch und inhaltlich progressivem Output, wie Peaches oder Chicks On Speed, in aller Munde. Dies sind auch die inhaltsästhetischen Vorbilder von Cherry Sunkist, deren Einfluss mit jedem gesungenem Wort hörbar wird. Auf ihrem Debütalbum "Ok Universe" baut sie sich einen eigenen kleinen Kosmos zusammen, der musikalisch irgendwo zwischen Ambient-Sound, pointierten Beats, elektronischem Lärm und repetitiven Gesangsphrasen pendelt. Der Opener What I Want – Why Do I Even Ask? besteht zunächst nur aus einem wabernden Synth-Teppich, der um kleine Soundschnipsel, Samples und modulierte Stimme erweitert wird. Es ist eine Einführung in das Universum von Cherry Sunkist, das im Wesentlichen zwei Ebenen besitzt. What I Want gehört zur ruhigen Seite, die im zurückgelehnten Ambient-Gewand daherkommt. Cake, der zweite Track, steht exemplarisch für die andere Seite. Der Beat strukturiert den Song, die Höhen klirren aufdringlich und schnell, die Stimme ist fest und von bestimmendem Charakter. Cherry Sunkist erzählt von einem weiblichen Wesen, das sich für die Liebe verändern und gar zu Tode hungern würde, Liebe und Kuchen lassen sie in ihrer Gier erbrechen.

"You have to look forward and you have to keep smiling and you have to keep your feelings always under control!"

Simpel aber effektiv kritisiert sie den Vollzug des normierten Lebens, indem sie dessen Funktionsmechanismen einfach ausspricht. In der Formulierung dieser Mechanismen ist implizit ein kategorischer Imperativ beigefügt, der eingespielte kulturelle Verhaltensweisen negativ konnotiert oder gar durchgängig ablehnt. Dementsprechend fordernd und dynamisch wirkt der Gesang in den schnelleren Passagen. Doch Cherry Sunkist scheint der eigenen Stimme nicht recht über den Weg zu trauen: Sie verfremdet den Gesang häufig durch Vocoder und andere Effekte, insbesondere in den ruhigeren Momenten. Bei der wabernden Soundwand von One, Two, Three, Four verschwimmen gar die Grenzen zwischen Stimme und Synthesizer. Minimalistisch sind all ihre Stücke angelegt, doch Age Delay (Nuit) besteht praktisch ausschließlich aus hoch- und tieftönenden Beats. Das wundervolle Video zu dem Stück, zu begutachten ausschließlich auf ihrer Website, gewährt einen Einblick in ihren weiteren künstlerischen Output. Vielleicht liegt es auch an diesem, dass ihr musikalisches Universum nur eine knappe halbe Stunde umfasst. Doch in der Kürze liegt auch etwas Erfrischendes, denn OK Universe kennt keine unangenehmen Längen.

Von einem erstaunlich großen Output kann man in jedem Fall bei Matthias Grübel a.k.a. phon°noir sprechen. Nach zwei CD-R-Veröffentlichungen legte er im April sein Debütalbum "Putting Holes Into October Skies" vor. Kollaborierte für diverse Hörspielprojekte, nahm für ein Label aus Hongkong eine Instrumental-EP auf. Und so ganz nebenbei hat er nun auch schon sein zweites Album in die Startlöcher geschoben, "The Objects Don’t Need Us". Die Produktivität von Matthias Grübel ist enorm und das auch noch auf konstant hohem Niveau.

Bereits Ende Juli gab es mit einem animierten Video zu My Paperhouse On Fire einen Vorgeschmack auf diesen Herbst. In Stop-Motion flimmern Plattenspieler, Pferdeköpfe und Buntstifte über den Bildschirm, die Darstellungen quellen vor Detail- und Ideenreichtum fast über. Der Clip ist Sinnbild für die Musik von phon°noir und die Assoziationen, die sie weckt.

Man könnte Matthias Grübel einen Architekten nennen. Er entwirft Soundlandschaften und scheint Bilder und Ideen zu vertonen, wie ein Landschaftsarchitekt einen Naturraum gestaltet. Während Cherry Sunkist sich ihr persönliches Universum formt, klingen seine Arrangements wie öffentlich zugängliche Räume, die aber durch ihre Vertonung erst sichtbar gemacht werden. Im Grunde bestehen die einzelnen Songs aus verschiedenen Gitarrenbruchstücken, die von einer riesigen Anzahl an elektronischen und mechanischen Klängen verbunden und zusammengeklebt werden. Darüber haucht Matthias Grübel mit fragiler Stimme Wort- und Satzfetzen, welche die Songs emotional weiter verdichten.

"And the space between two thoughts, it’s getting less concrete…"

"The Objects Don’t Need Us" ist allerdings kein einfaches Album, obwohl es sehr Downtempo ist. Die durchgehend präsenten Clicks & Cuts, die ständig wechselnden Samples und Soundfetzen strengen an, man muss bewusst zuhören. Die Songs sind von Brüchen durchzogen, die den Zuhörer immer wieder fordern. Doch darin liegt vielleicht auch gerade eine Stärke der Musik von phon°noir. Sie ist so vollgepackt mit Ideen und verschiedenartigen Klängen, dass sie der Gefahr klanglicher Beliebigkeit und gepflegter Langeweile geschickt durch Inspiration entgeht. Man muss sich auf dieses ungewöhnliche Hörerlebnis bewusst einlassen, sonst bleibt der Zugang zu den Soundentwürfen verborgen und es ist nur ein Brei von anstrengenden Geräuschen hörbar. Öffnet man sich dieser Klangwelt, dann gibt es auf einmal große Soundlandschaften zu entdecken, die von einer berauschenden Wirkung sind.
foto: bernd oppl / gaelle maas

cherry sunkist
"ok universe"
22jahrhundertfuchs 2007 cd
cherry sunkist

phon°noir
"the objects don't need us"
subrosa 2007 cd
phon°noir

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Morisse / Rehberger (Hrsg.) [Driving Home For Christmas]

Weihnachten sollte es friedlich zugehen! Im Suhrkampverlag ist momentan allerdings genau das Gegenteil der Fall, und auch die Geschichten der dort erschienenen Anthologie „Driving Home“ beschreiben oftmals ein turbulenteres Fest.


"i'm driving home for christmas, oh, i can't wait to see those faces."
(chris rea)


"Ich siedelte irgendwann in den Trendbezirk Mitte über, wo es generell wenig Weihnachten gibt, weil dort hauptsächlich Zugezogene leben, die über die Feiertage irgendwohin fahren, wo für sie zu Hause ist", heißt es in Ulrike Sterblichs Text. Genau solche Menschen erzählen ihre Geschichten in "Driving Home". Es geht um Großstädter, Erwachsene, Selbstständige, die zu Weihnachten nach Hause fahren, um wieder zu Kindern zu werden. Dabei bekommt man sowohl den vielleicht altbekannten Einblick in die traditionell-deutsche Familie, als auch in eine ausländische, jüdische, völlig kaputte...

Die Herausgeber Jörn Morisse, Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur, und Stefan Rehberger, ein Soap-Drehbuchautor, versammelten 16 Autoren in diesem schmucken Band, darunter Christian Y. Schmidt, der mal bei der Titanic war, und Kathrin Passig, die dieses Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Dazwischen viele „junge“ Autoren, aber auch Journalisten und mit Thees Uhlmann sogar ein hauptberuflicher Musiker. Der Tomte-Frontmann steuert einen der lustigeren Texte bei: "The Wall" handelt davon, wie er als 14jähriger allen familiären Vorschriften zum Trotz ins Kino ging, um sich die einzige Vorführung des gleichnamigen Pink Floyd-Films anzuschauen – am ersten Weihnachtsfeiertag.

Skurriles kommt von Natalie Balkow. Ihr Text reiht sich direkt hinter den von Stefan Rehberger, welcher mit „Ein Drittel Weihnachten“ einen eher unspektakulären Anfang macht, und erzählt von ihrem Vater, der sich zu Weihnachten eine Hand wünscht. Eine richtige, mit allem drum und dran. Die Autorin malt das erste Bild einer Väter-, einer Elterngalerie, die im Laufe dieses Buches entsteht. So viele Charakterisierungen sammeln sich mit den Geschichten an, mal zurückhaltend und verdeckt, dann wieder eindeutig. Und fast immer sind es die Eltern, um die sich die Episoden drehen. Ein besonders scharfes Bild gelingt Sonja Müller mit „Weihnachten in Wanne-Eickel“. Die Protagonistin beschreibt die eigenen Weihnachtsfluchtversuche, die misslingen, und daraufhin die Feier mit ihrer Mutter in einer Stadt, in der sie nie Zuhause war. Trotzdem geht für sie alles irgendwie gut aus. So zeichnet "Driving Home" das Bild einer deutschen Generation, denn neben ein paar Ausfällen sind zahlreiche Gemeinsamkeiten zu entdecken. Die Heimkehrenden beschreiben ganz ähnliche Gefühle, Brauchtümer und Verhaltensweisen innerhalb der Familie.

Eindruck hinterlassen vor allem tragische Geschichten wie das „Gespräch im November“ von Guy Helminger. Es geht um Schilz, der nach dem Verlust seiner magersüchtigen Schwester zu Weihnachten nicht mehr nach Hause fahren kann. Nebenbei wird hier auch das Problem von Ausländern in Deutschland aufgegriffen, für die – je nach Religion - der Heiligabend manchmal ein Abend wie jeder andere ist. Ganz anders bei Kathrin Passig, die in ihren weihnachtlichen Ablaufplan, der dreißig Jahre und wahrscheinlich länger gilt, immer wieder christliche Aspekte einwebt. Irgendwie darf natürlich auch eine Drittes Reich-Geschichte nicht fehlen. Ulrike Sterblich liefert eine sehr gute über ihren Großvater, der einst Görings Christbaum schmückte.

Für Abwechslung sowohl in inhaltlichen als auch in stilistischen Fragen ist in "Driving Home“ auf jeden Fall gesorgt. Deshalb eignet sich das Buch sowohl für solche, die aufgrund der eigenen Weihnachtsroutine nach „fremden Festen“ suchen, als auch für jene, die sich zumindest hineinträumen wollen in ein besinnliches und friedliches Fest. So oder so lernt man vielleicht schätzen, was man hat. Eine tolle Eigenschaft des Buches mag sein, dass es nicht nur lesenswert ist für all die zwanzig- und dreißigjährigen Erwachsenen, Selbstständigen, Großstädter da draußen, sondern ganz bestimmt auch für deren Eltern. Beide Seiten werden aus diesen Geschichten ihre Schlüsse ziehen können. Wer also noch kein Weihnachtsgeschenk hat, kann für preiswerte sieben Euro schnell eines erstehen und sich dann zum Beispiel auf Kevin Vennemann freuen. Der Berliner Autor hat mit „Dass Sturmwart Kupel“ eine tolle Idee zu Papier gebracht, und obwohl er sich mitunter in langen Sätzen verheddert wie unsereins im Lametta, wird hier auf schöne Weise ein kleiner, persönlicher Aspekt von Weihnachten erzählt.

Und Christian Y. Schmidt schafft es nicht bloß, das Weihnachten mit seiner Großfamilie zu beschreiben, sondern am Ende auch wirklich klarzustellen, dass das alles trotzdem schön ist. „Ich will zurück auf meine Weihnachtsinsel, wo es keine Zeit gibt und ich mit meiner Familie herrlich und in Freuden vor mich hin leben kann bis in alle Ewigkeit“, stellt er fest, wenn er die Heimat schließlich verlässt. "Aber es muss ja weitergehen."
foto: photocase user ninino



jörn morisse / stefan rehberger (hrsg.)
"driving home for christmas"
suhrkamp 2006

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Sonntag Nachmittag [Oktober 2007]










fotos: manuel kaufmann

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Documenta 12 [Kassel, 16.06.-23.09.2007]

"Das Publikum bildet sich, indem es Dinge ästhetisch erfährt. Wie man der jeweils singulären Erscheinung dieser Dinge gerecht wird, ohne sie in Schubladen zu stecken, ist eine der großen Herausforderungen, denen sich eine Ausstellung wie die documenta zu stellen hat."
(Roger M. Buergel)


"ist die moderne unsere antike?
was ist das bloße leben?
was tun?
"
(leitfragen der documenta 12)



Wie aus einem Dornröschenschlaf scheint der seit 1899 als Großstadt geltende Ort Kassel im fünfjährigen Turnus zu erwachen; Immer dann, wenn sich die Augen der Kunstinteressierten der Welt auf ihn richten. Als weltweit bedeutendste Ausstellung für Gegenwartskunst ändert die documenta das Antlitz der ansonsten doch eher verschlafenen Stadt im provinziellen Nirgendwo Nordhessens. Seit 1955, damals als Parallelveranstaltung zur Bundesgartenschau - dieser Bezug wird wiederum heute durch den architektonisch an ein Gewächshaus erinnernde Aue-Pavilion aufgegriffen -, eröffnet das "Museum der 100 Tage" regelmäßig seine Pforten für die Welt und hat, nach anfänglicher Skepsis und Ablehnung der heimischen Bevölkerung, unverkennbar seine Spuren hinterlassen. Von den über die ganze Stadt verteilten 7000 Eichen des Beuys-Projektes "Stadt-verwaldung statt Stadt-verwaltung" (d 7, 1982 ) über die am Kulturbahnhof stehende Skulptur "Man Walking To The Sky" von Jonothan Borofsky (d 9, 1992) - der als "Himmelsstürmer" sogar als Ikon der Kasseler Industrie und Handelskammer fungiert - bis zum 1999 stolz eingeführten Beinamen "documanta Stadt". Mit ständig ansteigenden Besucherzahlen stellt die Ausstellung mittlerweile nicht nur einen "Seismografen der zeitgenössischen Kunst" (documenta Homepage) dar, sondern spielt auch eine wesentliche und ganz pragmatische Rolle für Handel und Tourismus der Stadt.

Die singulären Auftritte mit stets wechselnden künstlerischen Leitern der documenta standen von Beginn an im Spannungsfeld zwischen das-kann-ich-auch-Ignoranz desinteressierter Skeptiker und mit Exzentrizität kokettierender Intellektueller samt deren autoritärer Deutungshoheit. Die documenta 12 scheint hier keine Ausnahme zu bilden. Während sich die Besucher zunehmend an der gefühlten Unaufdringlichkeit erfreuen, wird von Seiten der Kritiker immer wieder das Ausbleiben großer Namen als Fauxpas bescheinigt. Selbstherrliche Abgrenzung, Elitenbildung und Exklusivität von Bildung und kulturellem Kapital mögen einem in diesem Zusammenhang durch den Kopf gehen, doch wollen wir uns dieser Problematik hier nicht stellen.

"Die meisten Arbeiten werden sich ihnen erst durch ihre persönliche Rezeption und Erfahrung erschliessen", heißt es in einem der Audioführer, die sich mit den drei Leitfragen der 12. Ausstellung befassen. Und genau an dieser Stelle wollen wir mit unserer kleinen Betrachtung ansetzen. Wird den diesjährigen Leitern aus den Feuilletons unter anderem Fahrlässigkeit im Bezug auf die Beliebigkeit der Zusammenstellung, auf unzusammenhängende Arrangements und Reduktion der einzelnen Werke als bloße Staffage vorgeworfen, werden wir gerade diesen Aspekt allem Ärger zum trotz stärker strapazieren. Wenn die ästhetische Bildung, so der im Vorfeld als verwegen bezeichnete Anspruch der künstlerischen Leitung - Roger M. Buergel und Ruth Noack - weniger mit dem Aneignen von faktischem Wissen als vielmehr mit dem Einbringen der eigenen emotionalen und intellektuellen Ressourcen beginnt, wollen wir unseren Blick darauf beschränken, zu sehen, wie das jeweilige Kunstwerk in seiner Unmittelbarkeit mit dem Betrachter kommuniziert. Unbefangene Offenheit vs. dozierende Wissenshoheit: Eins zu Null. Mit gebührendem Respekt und ungezwungenem Dilettantismus nähern wir uns an dieser Stelle zwei einzelnen, aus dem jeweiligen Kontext herausgegriffenen Kunstwerken dieser zwölften Ausstellung und halten unsere Eindrücke fest.

Trisha Brown [Accumulation / Floor Of The Forest]


"Bitte benutzen sie in diesem Raum kein Blitzlicht und unterlassen sie das Filmen. No flash and no filming in this room, please." In der nächsten knappen Dreiviertelstunde wird die am Rand stehende Aufsicht den Satz noch mehrmals wiederholen. Zu erkennen ist der junge Mann an seiner schülerlotzenhaften Weste, auf welche in krakeliger Nachlässigkeit das Wort Guard zu lesen ist. Es ist die gleiche Typographie aus dem pariser Hause Vier5, die auch für alle anderen Leitsysteme der d 12 Verwendung findet. Wie zu jeder vollen Stunde weist er in freundlich monotonem Klang die neuen Besucher im altehrwürdigen Fridericianum ein. In der Mitte des Raumes steht ein auf schwarzen Metallpfosten aufgespanntes Netz aus stabilen Tauen, an welchen Kleidungsstücke aufgehängt sind. Ungleich einer Wäscheleine reichen die Taue jedoch durch die Öffnungen der Textilien hindurch, fixieren diese; durch bunte Hosenbeine, Hemdsärmel und T-Shirts. In gut eineinhalb Meter Höhe ergibt sich so eine gewellte, horizontale Ebene, ähnlich einem in strengem Raster aufgeteilten Trampolin. Doch zunächst gruppieren sich die den Raum betretenden Tänzer um das Gebilde herum. Junge, schlanke Männer und Frauen mit beneidenswert guter Körperhaltung. Zu den plötzlich einsetzenden Klängen des Grateful Dead Stückes Uncle John’s Band beginnen sie gleichgeschaltet ihre Arme anzuwinkeln, Daumen abzuspreizen und ihre Hände im Takt hin und her zu drehen. Die Zuschauer stehen an die Wände gedrängt, manche sehr dicht an dem ein oder anderen Akteur, manche schüchtern in den Eingangsbereichen des Raumes. Die Bewegung der Tänzer weitet sich über den ganzen Körper aus; wie ein Fluss wird bald der Kopf, die Arme, die Beine in einen immer komplexeren Bewegungsablauf eingearbeitet, um immer wieder aufs Neue von vorn zu beginnen. Akkumulation. Ein Besucher weicht überrascht zurück, als ein ausladender Ausfallschritt in den fließenden Bewegungsablauf integriert wird. Nach knapp fünf Minuten halten die Tänzer inne, das Lied ist zu Ende, Ruhe kehrt ein. Alle drehen sich um 90° nach rechts und auf ein unvermittelt aus dem Off zu kommen scheinendes "Ready? And", beginnt der Bewegungsablauf erneut. Diesmal ohne die musikalische Untermalung. Inkonsequent und wenig auf den Punkt gebracht erscheinen die ab und an ausgerufenen Kommandos, als wäre die, ihre Tänzerinnen und Tänzer zurechtweisende Choreographin Trisha Brown selbst anwesend. Wie zu erwarten wenden sich die Tänzer noch zwei weitere Male um 90°, so dass sie einmal in jede Richtung blicken. Lächeln breitet sich auf den Gesichtern der Besucher aus, ob der anmutigen Bewegungen; mancher schleicht zaghaft zwischen den Tänzern hindurch, um den Raum zu verlassen.

Während die anderen verschwinden, begeben sich drei der Tänzer zu dem gespannten Netz und befördern sich mit einem Aufschwung auf die Taue. Ruhig, aber zielstrebig streifen sie sich Kleidungsstücke über, wobei die Akteure aufgrund der fixen Positionierung der Textilien in grotesk gezwängte Haltungen geraten. Wie in Zangsjacken schlüpfend, unterwerfen sie sich den vorgegebenen Ordnungen und Mustern der Textilstücke. Einem akrobatischen Balanceakt gleich verharren sie minutenlang in der so eingenommenen Haltung. Kopfüber. In Seitenlage. Mit gespreizten Beinen. Wie im freien Fall erscheinen sie. Oder, um die Metapher des Trampolins nocheinmal heranzuziehen, wie Springer, die jedoch nicht nach oben, sondern nach unten zu springen scheinen. Die Besucher bücken sich, drehen die Köpfe, recken sich um ihre Blicke auf ein hier und da aus dem Netz herausragendes Bein oder einen Arm richten zu können. Durch die horizontale Ebene ist der Choreografie eine dritte Dimension verliehen worden. Ein Perspektivenwechsel. Mehr noch als beim scheuen Ausweichen der vorangehenden Tanzperformance, ist der Zuschauer hier genötigt sich selbst zu bewegen, eine immer neu Position im Raum einzunehmen, um der Darbietung folgen zu können. Eine unaufgeforderte Interaktion beginnt, in welcher die Rolle von Agens und Patiens nicht mehr klar unterschieden wird. Alle bewegen sich, um dann wieder zu verharren. Wie ein Tanz, bei dem die Schrittfolge niemals vorhergesagt werden kann, erscheint das Bild. Zwischenzeitlich gehen einige Besucher, verlassen ihre Positionen und neue treten an ihre Stelle; die anderen werden dieselben und dieselben verschwinden, während nur die farbige Pracht der bunten Kleider wellenförmig eine Konstante bildet. „No flash and no filming in this room, please", wirft der junge Guard für die Neuankömmlinge ein. Er wird es noch oft sagen.

Harun Farocki [Deep Play]


Zwölf Monitore zeigen Bilder von ein und dem selben Ort. Berlin, Charlottenburg-Wilmersdorf. Überwachungsbilder zeichnen Bewegungen einzelner Perosnen auf, stellen unterschiedliche Perspektiven dar, messen exakte Bewegungsgeschwindigkeiten. Was nach einem Überwachungsalbtraum schäublischen Ausmaßes klingt, ist die Medieninstallation des 1944 in der heutigen Tschechischen Republik geborenen Filmemachers und Autors Harun Farocki. Die Zwölf Flachbildschirme, die in die Wände eines im Halbkreis verlaufenden Gangs im Fridericianum eingelassen sind, liefern ununterbrochen Bilder des Endspiels der Fussbalweltmeisterschaft aus dem Jahr 2006. Frankreich wird in dieser Zeitschleife am Ende immer wieder nach Elfmeterschießen 4:6 der italienischen Mannschaft unterliegen. Doch an dieser Stelle geht es weniger um Inhalt, als um die Flut der unkommentierten und ungefilterten Live Bilder. Je ein Monitor richtet sich unablässig auf einen einzelnen Spieler beider Mannschaften; Zinédine Zidane und Francesco Totti, die jeweilige Nummer 10. Ein weiterer Monitor zeigt das aktuelle Fernsehbilder im Verhältnis zum gesamten Spielfeld, ein anderer widmet sich der grafischen Darstellung der Ballbewegungen. Den ständigen Aufenthaltspunkt jedes einzelnen Spielers als roten bzw. blauen Punkt auf dem Spielfeld zeigt wieder ein anderer Bildschrim und die italienische und französische Trainerbank wird von je einer separaten Einstellung festgehalten. Hinzu kommen Außenaufnahmen einer von Sicherheitsbeauftragten überwachten Kreuzung in unmittelbarer stadionnähe, der Tribünen mit den Scharen unzähliger Fans und des sich langsam vollziehenden Sonnenuntergangs über dem Olympiastadion. An anderer Stelle fasst ein Computer gar eigenständig die einzelnen Spielzüge in fortlaufenden Kommentaren zusammen. Die Darstellungen sezieren das Endspiel und entfremden jenes komponierte, exakt gleiche Bild, welches gut 1,5 Milliarden Zuschauer an ihren Bildschirmen verfolgten.

Zwei Aspekte fallen dabei ins Auge. Zum einen, dass keine Kommentare von Reportern zu hören sind. Die untrennbar mit Spielszenen verankerten, sich manches Mal überschlagenden, sich ein anderes Mal in bizarren Formulierungen verlierenden Bemerkungen der Rundfunkkommentatoren weichen hier einer befremdlichen, unspektakulären Stille. Vielleicht ein Grund dafür, weshalb der ein oder andere selbst ernannte Experte ersatzweise zum Wort greift und einzelne Momente genauer unter die Lupe nimmt. Bemerkenswert hier auch der generationsübergreifende Moment; vom kleinen Paninisticker Sammler, der selbstbewusst im Bayern München Trikot auf dem Fußboden sitzt, über die Gruppe junger 11 Freunde Leser in lockerer Haltung auf einer der vielen Bänke bis hin zum alteingesessenen Kicker Abonnenten mit analoger Kompaktkamera in den hinterm Rücken gefalteten Händen. Die Genderfrage scheint hier keine zu sein. Die männliche Erklärungshoheit bestätigt die gängigen Klischees. Fußballfans erhaschen träumerische Einblicke in die Möglichkeiten der zukünftigen, mulitperspektivischen Berichterstattungen.

Doch es gibt auch diesen anderen Aspekt, der sich all jenen aufzudrängen scheint, denen der Volkssport Nummer Eins nicht unmittelbar Identifikationspotential liefert; Die beachtliche, ins Groteske hinüber gleitende Akribie, mit welcher dieser Sport seine Statistiken zum Erklärungsansatz, zur Sinnsuche erhebt. Mit hermeneutischem Wahn scheint hier der genaue Winkel einer Flanke, die Bewegungsgeschwindigkeit individueller Spieler, die dreidimensionale Darstellung von Bewegungsabläufen oder animierte Abwehrketten als Vektorenbündel Sinn zu liefern. All das, was Deep Play hier aufzeigt, übersteigt bei weitem jene gegenwärtigen Ausmaße statistischer Alltäglichkeiten wie prozentualer Ballbesitz und Eckballverteilung. Der technische Aufwand, der einem ansonsten nur bei militärischen Großeinsätzen in den Sinn kommt, wird auch für die zeitgemäße Rezeption eines Fußballspiels aufgeboten. Eine mathematische Analyse, welche das Spiel selbst zweitrangig macht und den Sport ad absurdum zu führen scheint. Kopfschüttelnd lacht eine ältere Dame und dreht sich zu ihrem Begleiter um, welcher einem Balkendiagramm seine aufmerksame Betrachtung widmet, das die Geschwindigkeit der Akteure auf dem Rasen wiedergibt. Aus all dem destilliert die große Fernsehindustrie das Bild, welches sich am Ende den Weg in die Wohnzimmer und Public Viewing Areas dieser Welt bahnte. Eine Interpretation von Vielen.

Farockis emotionslose, dokumentarische Zergliederungen jenes globalen Ereignisses bieten Raum für eine seltene Beobachtung der Bilder durch Fussballfans und Nichtfans gleichermaßen. Eine Präzisierung des Blicks, die ins erklärerische Nichts führt. Oder ins Etwas. Je nach dem.
foto: martin boehnert

trisha brown
[accumulation / floor of the forst]
*1936 in aberdeen (usa)
lebt in new york


harun farocki
[deep play]
*1944 in nový jicin (cz)
lebt in berlin

documenta

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Alex Kapranos [Sound Bites]

Ein Buch über Essen von Franz Ferdinand Sänger Alex Kapranos.
Nur ein weiteres, ertragreiches aber sinnentleertes Spin-off aus der großen Hype Gewinnmaschine der schottischen Band?


"ich heiße superfantastisch, ich trinke schampus mit lachsfisch."
(franz ferdinand, darts of pleasure)


"Essen ist ein Abenteuer.“ Das lernte Alex Kapranos schon mit nicht einmal drei Jahren und es war wohl der Auslöser für den Beruf – oder sollte man besser sagen: die Berufe – die er später ergriff. Nach der Schule arbeitete der Schotte als Küchenjunge, Kellner, Koch, ehe er 2004 mit seiner Band Franz Ferdinand den Durchbruch als Musiker schaffte. Die Truppe bespielte zwei Jahre lang den gesamten Globus, und Kapranos verband das Touren gleich mit seiner zweiten großen Leidenschaft, indem er darüber schrieb. Dabei kamen ein ganzer Haufen Kolumnen für den britischen Guardian heraus, die jetzt als Buch auch in Deutschland erschienen sind. „Sound Bites – Essen auf Tour mit Franz Ferdinand“ ist ein leichtfüßiges, abwechslungsreiches Buch mit kurzweiligen Texten und herrlichen Bildern. Aber dazu später.

Zuerst ein Wort an den künftigen Leser: Man kann von diesem Buch einiges erwarten - es wird die unerwartesten Erwartungen erfüllen. Es deckt keine Geheimnisse über die Band Franz Ferdinand und deren Mitglieder auf. Man wird nicht Begleiter einer Welttournee und nimmt auch nicht an großen Gefühlen teil. (Im Grunde betreffen alle Gefühle, die dieses Buch beschreibt, irgendeine Speise.) Über die Franz Ferdinand-Musiker erfährt man lediglich, dass für Bassist Bob „beim Essen auch Dreiecke irgendeine Rolle spielen“, und dass Gitarrist Nick Kellner einfach nie wahrnimmt – unabsichtlich.

Stattdessen beschreibt der Autor die verschiedensten Esserlebnisse – und man kann ohne Zweifel jedes davon so nennen. Kapranos aß Hoden und Hummer, Hähnchen und Hamburger, in New York und Hong Kong, Köln und Rio... Oftmals beschreibt er die ungewöhnlichsten Speisen so ausführlich, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Nicht selten wird das Essen jedoch zur Nebensache, und er widmet sich stattdessen dem Umfeld, in dem er es zu sich nimmt. So landet er zum Beispiel in einem persischen Restaurant in Toronto, das erst wenige Stunden zuvor eröffnet hat. Oder er besucht das legendäre Formosa Café in Los Angeles, wo einst Elvis einer Kellnerin einen Cadillac als Trinkgeld geschenkt haben soll. („Das würde heutzutage kein Star mehr tun, grummelt unsere Bedienung.“)

Hin und wieder verlässt Kapranos auch die jüngsten Zeiten mit seiner Band und springt zurück, in die Jahre seiner Ausbildung zum Koch oder seine Kindheit. Gut so, denn die Geschichte seines fünften Geburtstages, an dem er die tolle Torte völlig verwüstete, gäbe es sonst hier nicht zu lesen. Garniert ist das alles mit zahlreichen liebevollen Zeichnungen, die bestechen durch ihre Schlichtheit. Sie stammen von Andy Knowles, der Franz Ferdinand auf Tour als Schlagzeuger und Keyboarder begleitet. Er absolvierte die Glasgow School of Art, genau wie alle anderen Bandmitglieder – außer Alex Kapranos. Der lernte stattdessen in der Küche, „dass eine gute Gruppendynamik mehr wert ist als alle Einzelverdienste, dass Langusten sich wehren, wenn man sie tötet, und dass man aus gekochten Markknochen die Jus gewinnt, die ein gutes Menü zusammenhält“.

Und was lernen wir aus "Sound Bites"? Na, dass Essen immer auch ein Abenteuer ist. Natürlich.
foto: daniel boud; boudist.com



alex kapranos
"sound bites"
kiwi 2007
franz ferdinand

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Julius [Leise, Zusammen]

"Meine Lieder sind lustige Geschichten zu traurigen Akkorden; manchmal finde ich es schade, dass ich mit meiner Musik nicht gut auf Feiern spielen kann, aber öfter gewinnt dann doch die Freude Oberhand, dass ich ruhige Momente selten zerstöre."
Julius über Julius.


"what the mind can believe, it surely can achieve."
(writing a name)


Die von Harvey Keitel verkörperte Figur des Tabakladenbesitzers Auggie Wren in dem Film "Smoke" offenbart im Laufe der Handlung sein außergewöhnliches Hobby; Seit Jahren fotografiert er ein und die selbe Straßenkreuzung. Jeden Tag zur gleichen Tageszeit ein Bild. "Die sind alle gleich, aber jedes ist anders als alle anderen", bringt er später hervor. Dieses skurril doppelbödige des Alltags, diese Liebe zur Authentizität des Augenblicks, die in dem Film von Wayne Wang und Paul Auster an den Tag tritt, scheint mir auch in den musikalischen Stücken von Julius zu leben.

Kaum einem jungen Singer/Songwriter gelingt es so präzise und wortgewandt Bedeutung im vermeintlich Unbedeutetem zu finden. Den Moment der Belanglosigkeit, der völligen Beliebigkeit des Alltags entrissen als Konkretes zu erfassen und zur Metapher hervorzuheben, ist ein Wagnis, welches Julius Mal ums Mal auf eindringliche Weise gelingt. Wenn er etwa zwischenmenschliche Beziehungen mit der profanen Funktionalität einer Mikrowelle vergleicht (I Don’t Even Know Your Name), die Erfahrungen mit seiner zuständigen Sachbearbeiterin der Agentur für Arbeit reflektiert (Writing A Name), oder seine Gedanken manches Mal gar zu einem Slogan verdichtet: "Mach aus deinem Namen ein Kreuz" (Wie Du). Julius weiß mit Metaphern zu jonglieren ohne zwanghaft hermeneutisch Sinn vermitteln zu müssen. Dabei bleibt er stets sensibel genug, um keines der Details der Lächerlichkeit Preis zu geben. Seine wortgewandten Miniaturen - denn als solche erscheinen sie mir in ihrem selten über Drei-minütigem-Gewand - streben dabei geradezu gegen die derzeitige Dürftigkeit der Pop-Sprache, gegen die ermüdende Reproduktion des stetig Selben, ohne dabei zu kopflastig oder gar gekünstelt zu wirken. Bis auf die bloße Betrachtung entkleidet Julius den Moment, lässt jeden falschen Pathos außen vor, ohne dabei auf große Worte verzichten zu müssen. Wo andere Erlebtes unhaltbar hochstilisieren, weiß er mit überraschender Wendung des Blickwinkels zu dekonstruieren. Hier verdreht kein biergeschwängerter Euphemismus die befindlichkeitsfixierte Perspektive, denn wir alle wissen, "es ist nicht die Sonne die untergeht, sondern die Welt" (Wie Du).

Musikalisch scheint der Wahl-Bremer irgendwo von Ani DiFranco, Seven Mary Three und Tom Liwa inspiriert, ohne dass diese als klare Koordinaten auszumachen wären. Das Minimum an Instrumenten seiner einnehmenden Live Auftritte - Akustikgitarre und Mundharmonika - ist auf dem Album um kurzweilige Percussion Untermalungen und Glockenspiel erweitert und an der ein oder anderen Stelle unterstreicht Lisa Rank (Me vs. Me) den Gesang. Die sanfte Räumlichkeit des Albums ist nicht zuletzt Mirco Dalos zu verdanken, der als Produzent mit viel Liebe zum Detail für all jene Kleinigkeiten sorgte, die mir als Hörer zwar unmittelbar im Unterbewußten, jedoch erst beim dritten oder vierten Durchlauf tatsächlich bewusst wurden. Das Album bleibt seinem Titel in jeder Hinsicht treu; "Leise, Zusammen" versucht niemals mehr zu sein als es ist. Aber auch nicht weniger. Dass sich der Schotte Denis Blackham, der schon für das Mastering alter Helden wie Crosby, Stills, Nash & Young, Pete Townshend und Jimi Hendrix (oder auch Antony and the Johnsons) verantwortlich war, auch für "Leise, Zusammen" bemühte, erscheint angesichts der vertrauten Unaufdringlichkeit des Albums mehr als ein Epiphänomen, denn Namedropping; Und die Tatsache, dass dieser mit seiner Frau am Frühstückstisch die Melodie von Wie Du summte, nur als bereichernde Anekdote zu einem in der Zurückhaltung überzeugenden Kleinod.

Anmerkung:
Julius war der erste Künstler auf welchen wir uns uneingeschränkt einigen konnten, als wir uns mit der Kompilation "Sketchbooks" auseinandergesetzt haben. Es ist also wenig Heuchelei im Spiel, wenn ich ihn hier für all das lobe, was ich an ihm schätze. Dennoch halte ich es für unpassend, eine Rezension über sein Debüt zu schreiben, wenn wir uns hier als Magazin Unabhängigkeit auf die Fahne schreiben und dann gleichzeit die eigenen Produkte aus dem Hause urbanprovince anpreisen. Andererseits wäre es jedoch verfehlt, wenn Julius Album hier keine Erwähnung fände. Daher haben wir uns dazu entschlossen hier unseren original Pressetext für "Leise, Zusammen" zu veröffentlichen, um nicht ganz in die subjektive Beweihräucherung abzuschweifen. Das bitte ich beim lesen der obigen Besprechung zu berücksichtigen. Wie ihr das aufnehmt, könnt ihr für euch selbst entscheiden. Ihr könnt euch natürlich auch den Spass machen und vergleichen, welche Textstellen aus dem obigen Text in regulären Besprechungen an anderen Orten kennzeichnungsfrei zitiert werden. Wie auch immer, wir wünschen viel Vergnügen!
foto: julius kowarz



julius
"leise, zusammen"
urbanprovince records / datafile music 2007 cd
julius

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Sonntag Nachmittag [September 2007]











fotos: manuel kaufmann

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Fred Van Lente, Ryan Dunlavey [Action Philosophers!]

Können Philosophen witzig sein? Nun ja, „history's A-list brain trust“ bietet schon einige Anekdoten, denen man schmunzelnd gegenübertreten kann. Fred van Lente und Ryan Dunlavey haben daraus eine bemerkenswerte Comic Reihe kreiert.


"a-choo! !@#$! swedish winters!"
(rené descartes)


Humorvolle Anekdoten gibt es durchaus: Begonnen bei dem Griechen Diogenes (ca. 400–323 v.Chr.), der Alexander dem Großen „Geh mir aus der Sonne!“ entgegnete, als dieser ihn Fragte, ob er einen Wunsch habe, über Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der bei der Nachricht über Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) Tod sarkastisch mit Frankfurter-Slang „Nu ist der Weltgeischt dot“ konstatiert haben soll, bis hin zum legendären Angriff auf Karl Popper (1902-1994), bei dem Ludwig Wittgenstein (1889-1951) einen Schürhaken schwang. Dass man philosophische Theorien durchaus allgemeinverständlich und humorvoll auf angenehmem Niveau verarbeiten kann, bewiesen etwa Filme wie "I Heart Huckabees" oder "Waking Life". In ähnlicher Weise geht auch die Comic Reihe "Action Philosophers!" vor, auch wenn offen bleibt, ob ein Comic witzig sein muss. Die überaus originelle Reihe von Autor Fred van Lente und Zeichner Ryan Dunlavey zielt ohne Zweifel darauf ab, ohne dabei nicht auch andere Qualitäten vorzuweisen. Was nach einer postmodernen Kulmination von überzogenem Actionhero Comicheft und hochtrabendem Philosophieexkurs klingt, ist genau dies!

Dass die vorliegende Reihe, wenn auch preisgekrönt, nur in englischer Sprache vorliegt, ist selbstverständlich einerseits der bei uns vorherrschenden Stellung des Comic im Allgemeinen und andererseits natürlich der zunächst sehr exklusiv anmutenden Zielgruppe verschuldet. Selbst wenn sich die Reihe keinesfalls ausschließlich an Philosophen und solche die es werden wollen richtet. „AP!“ hat das Potential diejenigen mit Hintergrundwissen zu fesseln und mit Insider Humor zu begeistern und dabei gleichzeitig ohne Pedanterie die Masse anzusprechen. Ryan Dunlavey sagt selbst, dass er zu Beginn keinerlei Erfahrung mit Philosophie hatte und er zufällig in das Alles hinein gerutscht sei. „But I'm a philosophy fan now, hell yeah.“ Wenn es mittlerweile auch eine (noch) überschaubare Auswahl an Graphic Novels mit nicht-fiktionalem Hintergrund gibt – allen voran etwa Scott McClouds theoretischer Betrachtung des Mediums als Kunstform in "Understanding Comics" oder "The Cartoon History of The Universe" von Larry Gonick – gelingt es der vorliegenden Reihe, deren Titel auf den ersten Blick wie ein satirisches Oxymoron anmutet, tatsächlich trotz(?) intellektuellem Humors im Comic Laden direkt neben den X-Men oder Spiderman eingeordnet zu werden.

Wenn sich etwa Hegel und Schopenhauer in Ausgabe Nummer 8 auf der Titelseite über einem am Boden liegenden Kant in die Haare kriegen, dann ist das eben jene Action geladene Adaption des Streits dieser beiden Anhänger Kants über dessen geistiges Erbe; Absoluter Idealismus vs. der Primat des Willens. Kant selbst tritt in einem Gerichtsverfahren auf – wie er es in seinen Kritiken metaphorisch heraufbeschwört – und sieht sich der Aufgabe gegenüber die Existenz seines Mandanten zu beweisen; Keinem geringeren als dem Architekten und Schöpfer aller Dinge, Mr. God. Mit jeder Episode nähert man sich (mindestens) einem Philosophen, seiner Biographie und seinen Kernthesen an, was ohne Frage eine beachtliche Leistung ist. Wo sonst lässt sich das gedankliche Konstrukt Friedrich Nietzsches, von dem Hinterfragen von Religion und Demokratie, sein Gedanke der Ungleichheit, über seine frühe Bewunderung und späte Ablehnung von Richard Wagner bis hin zur posthumen Adaption seiner Lehre vom Übermenschen durch das Nazi Regime Adolf Hitlers auf nur sechs Seiten, bzw. 36 Panels komprimiert bewundern? Auch wenn die manchesmal bizarren Einblicke nicht für eine intensive Auseinandersetzung mit dem ein oder anderen philosophischen Thema genügen, bringen sie manches Argument doch brilliant auf den Punkt. (Im Anhang verweisen van Lente und Dunlavey ohnehin auf die Hauptwerke der besprochenen Denker.)

Während Zeichner Dunlavey mit gut getroffenen Skizzen der großen Denker brilliert und diese immer wieder aufs Neue in Szene setzt ist es besonders das Talent von Autor van Lente, der ohne große Vorkenntnisse die wesentlichen Aspekte einer jeweiligen philosophischen Lehre auf den Punkt bringt. Besonders seine sprachliche Herangehensweise ist bemerkenswert, da es ihm gelingt markante Aussagen treffsicher zu pointierten, Actioncomic gerechten Statements zu verkürzen („If it's not empirical, it's crrrap!“, David Hume), im Wechsel dazu aber auch Originalzitate samt ausgewiesener Quelle in den Erzählfluss mit einarbeitet. Hinzu kommt der Reichtum an kreativen Ideen, mit dem es AP! gelingt die Vielschichtigkeit des Mediums Comic selbst auszuloten. So wird Rousseau in Form einer banalen All American Sitcom („Filmed before a live studio audience!“) interpretiert, Francis Bacon als Flussdiagramm wiedergegeben, Jacques Derrida tritt als „Deconstructonator“ in archetypischer Arnie Manier in Erscheinung, Gottfried Leibniz taucht in einem an Don Martin erinnerndem, überbordendem Strassenszenario auf und John Stuart Mill wird als charleybrownesker Comic Strip adaptiert.

Bereits die erste Ausgabe (Platon, Nietzsche und Bodhidharma) wurde in den USA binnen kürzester Zeit ausverkauft. Und auch die Neuauflage war ein halbes Jahr später bereits wieder vergriffen. Die Popularität der Reihe weitete sich aus, und die Enttäuschung der Leserschaft darüber, dass mit der Nummer Neun die letzte Ausgabe erscheinen würde, konnte letztlich nur dadurch gebremst werden, dass diese in einer Abstimmung darüber entscheiden durfte, welcher ihrer Heldinnen und Helden eben diese letzte Ausgabe bestreiten würde. (Lao Tse und Michel Foucault gewannen in der Gunst der Leser.) Vielleicht war es der richtige Augenblick die Serie zu beenden, bevor sich die Faszination und die Möglichkeiten kreativer Ideen an diesem Genremix erschöpfen konnten.

Mit den vorliegenden neun Ausgaben, die auch in drei Sammelbänden und irgendwann in einer umfassenden Anthologie vorliegen werden, erhält man rund 300 Seiten schwergewichtige Ideen- und Theoriegeschichte in einem amüsant daher kommenden, kurzweiligen aber eben sehr gut recherchierten Gesamtwerk. (Für diese noch in Planung befindliche Gesamtausgabe wurde bereits angedeutet, dass man eventuell noch den ein oder anderen Favoriten der Philosophiegeschichte ergänzen würde. Es besteht also noch Hoffnung für diejenigen, die bis zu Letzt einer Abhandlung über Georg Simmel, Theodor W. Adorno oder Jean-François Lyotard entgegen fieberten!)

Zum Abschluss lasse ich es mir an dieser Stelle nicht nehmen, ein solch außergewöhnliches und vermutlich einmaliges Namedropping aufzuführen: "Action-Philosphers!" features Aristoteles, Augustinus, Bacon, Berkley, Bodhidharma, Campbell, Descartes, Derrida, Diogenes, Empedokles, Epiktet, Foucault, Freud, Hegel, Heraklit, Hobbes, Hume, Jefferson, Jung, Kant, Kierkegaard, Konfuzius, Lao Tze, Leibniz, Machiavelli, Marx, Mill, Nietzsche, Platon, Rand, Rousseau, Sarte, Schopenhauer, Spinoza, Thales von Milet, Thomas von Aquin, Wittgenstein, Wollstonecraft!
foto: comicbookresources.com / zeichnung: action philosophers! #4



fred van lente / ryan dunlavey
"action philosophers!"
evil twin 2005-2007
fred van lente
ryan dunlavey

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Matthias Kneip [Polenreise]

Wie macht man Polenreisende glücklich, die es leid sind von Jahreszahlen und Statistiken in die Irre geführt zu werden? Wie erzählt man ein Land ohne die falschen Worte zu verwenden? Matthias Kneip findet in seinem im Werk Polenreise – Orte, die ein Land erzählen die richtigen Worte und Antworten auf viele Fragen, auch auf diese.


"irgendwie habe ich mir das anders vorgestellt."
(tina hohmann)


Eine gute Bekannte von mir war vor ein paar Monaten in Danzig. Mit im Gepäck waren zwei Reiseführer und der sehnliche Wunsch die Hafenstadt an der Mottlau in ihrer ganzen Schönheit zu betrachten. Das große Los der Städtetouristen kann sich aber auch unmissverständlich als eine Niete erweisen, wie sie es mir nach ihrer Rückkehr deutlich klar machen wollte. „Die schönsten Häuser sind hier gar nicht aufgeführt. War das im Touri-plan nicht viel größer? Nee, irgendwie hab ich mir das anders vorgestellt!

So klar wie sich Polen im Regal der Reiseführer irgendwo zwischen den Philippinen und Portugal einordnet, ist diese gedruckte Wirklichkeit der Reiseführer meilenweit davon entfernt das „Besondere“ des Landes einzufangen. Was fehlt sind die vielfältigen Impressionen und Empfindungen die einen Abstecher nach Polen zu dem machen, was er eigentlich sein sollte: Zu einem individuellen Ereignis, dass ein Jeder anders beschreibt. Die polnische Seele lässt sich nicht für 9,90 Euro im Buchladen an der Ecke kaufen. Sie ist viel subjektiver und differenzierter als sie Zahlen und Prozente einfangen können. Das beweist Matthias Kneip mit seinem neuen Werk: "Polenreise – Orte, die ein Land erzählen".

Vielleicht gelingt es den klassischen Reiseführern noch am besten, ein Land zu rastern, es mit Daten und Fakten für den Ratsuchenden festzunageln, um ihm ein einigermaßen objektives Bild zu vermitteln. Doch dieses Rastern gleicht der Skelettierung eines Körpers, seiner Reduktion auf das harte, unumstößlich Fixierbare.

Ganz ohne Hochglanzfotos und farbigen Graphiken entwirft Matthias Kneipp, Mitarbeiter am Deutschen Polen-Institut in Regensburg und Darmstadt, ein Bild Polens, das sich großflächig jenseits der billigen Polaroid-Urlaubsfotos in die Erinnerung einfügt. Dazu stellt er in 35 detaillierten Momentaufnahmen 35 bekannte und weniger bekannte Orte Polens vor, die ihm als Ausgangspunkt dazu dienen, dem Leser den Charakter des Landes näher zu bringen. Er nähert sich als aufmerksamer Beobachter aus mehreren Perspektiven, die alle miteinander verwoben zu sein scheinen. Dabei ist sein Blick stets neugierig vermittelnd und niemals aufdringlich – fernab jeder Reiseführer-Stilistik.

"Polenreise Orte, die ein Land erzählen" ist der Versuch sich nicht nur ohne Scheuklappen, sondern auch historisch aufgeklärt den wichtigsten Stationen der polnischen Geschichte zu nähern. Der Blickwinkel bleibt bei "Polenreise" immer räumlich verhaftet um anschließend auf einer makroskopischen Ebene Fuß zu fassen. So bereist der Autor in seiner ersten Prosaskizze die Hafenstadt Danzig und schildert neben der „nie still stehenden“ Uferpromenade, auch gleichzeitig die Wirren der Solidarność-Bewegung, die einen wichtigen Schritt zur Demokratie in Polen darstellt. „Hier entstand für viele Polen die Keimzelle des heutigen Europa.“ Von Danzig über die Masuren bis nach Warschau ist es nur ein kurzer Umweg. Was sich an dieser Stelle ändert, sind lediglich die Besatzungsmächte, unter denen Polen bis zum Ende des zweiten Weltkriegs oder wahlweise bis zum Fall des eisernen Vorhangs seine Kultur und Einzigartigkeit verbergen musste. In weiteren Episoden nähert sich Matthias Kneip dem Erbe Johannes Paul II. (Stettin), sinniert über Nikolaus Kopernikus (Thorn), liefert Beispiele für Popkultur und Nostalgie (Krakau), versetzt sich zurück in die Zeit Tadeusz Kościuszkos und der polnischen Nationenbildung (Breslau: das Panorama von Racławice) und stellt sich letztendlich auch dem schrecklichen Vermächtnis des zweiten Weltkriegs (Auschwitz-Birkenau, Gleiwitz).

Kneip erweist sich in Polenreise als verständnisvoller Erzähler und aufmerksamer Beobachter und versucht seine Vorstellungen von Kultur, Biografie und Symboliken in verschiedenen Fassetten darzustellen. Bei seinen detailreichen Ortsdarstellungen gibt es immer mehrere Ebenen, die gleichzeitig miteinander verflochten sind. Auffallend sind diese Ebenen besonders in seinen Reflexionen über die Masuren, die im kompletten Gegensatz zueinander stehen. Die Masuren werden nicht nur als Erholungsgebiet geschätzt, sondern dort befindet sich auch eines der traurigen Überbleibsel des zweiten Weltkriegs: der ehemalige Führerbunker „Wolfsschanze“. In dem weit verzweigten Areal tummeln sich heutzutage Reisegruppen und Tourguides, inmitten von Seenlandschaften, Heideflächen und Wanderpfaden. Kneip nähert sich diesem Thema auf beeindruckende Weise, indem er sich nicht als schwafelnder Historiker auf die Suche begibt, sondern er reflektiert den Meinungsaustausch über den Bunker mit Ortsansässigen und Taxifahrern. Ein gelungener Sprung zwischen subjektiven Empfinden und objektiven Fakten und außerdem ein großes Stück Erzählkunst, im kompletten Gegensatz zum grauer Fleck in der Landschaft.

Man sollte weniger auf die Biografie eines Landes acht geben, als auf den Eindruck, den es hinterlässt“, stellt der Autor fest und eröffnet dadurch eine völlig andere Art der kulturellen Narration. Kneip simuliert die polnische Identität nicht nur wie in vermeintlich aufklärenden Reiseführern, er gibt den einzelnen Stationen seiner Reise ein Gesicht. Er lässt sich nieder im Marktgetümmel, durchstreift die Gassen und Verwinkelungen und funktioniert als Sammler, wenn er Kulturschaffende, Marktfrauen und Handwerker einen Teil zum Gesamtbild seines Werkes beitragen lässt. In kurzen Episoden erfährt man so Eigentümliches, Wertvorstellungen und die reflektierende Gegenseite zu seinen Beobachtungen.

Manchmal ist einem der Freund eines Freundes sympathisch. Manchmal nicht. Es bleibt immer eine Frage des Vertrauens. Zwischen Autor und Leser. Zwischen den Menschen zweier Kulturen, die sich nahe stehen und doch fremder sind als nötig.
foto:



matthias kneip
"polenreise"
house of poets 2007
matthias kneip

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The Whitest Boy Alive [Bielefeld, 24.08.2007]

Wenn oben bunte Scheinwerfer angehen und sich unten ein erwartungsfrohes Menschen-Wirrwarr zusammenmischt, schlägt endlich das Stündlein, dass man lange erwartet und ersehnt hat. The Whitest Boy Alive.



"give me an angel that i heven't tried before."
(don't give up)

Schon der ganze Tag lief nach Plan B ab, vom Aufstehen bis zur Klamottenwahl war alles intentional, gerichtet auf diesen letzten Moment, in dem der Puls ein klein wenig höher schlägt und man gebannt und gespannt nach oben schaut. Und nach dem ersten Akkord, dem ersten Melodiefetzen ist man sensibilisiert, aufnahmebereit für ein Konzert, dass in Gedanken und Herz hängen bleiben kann und soll. Jetzt hängt alles von denen dort oben ab, die auf den Brettern stehen die sprichwörtlich und in diesem Augenblick wahrhaftig die Welt bedeuten zu scheinen. Zwischen Kabeln und Boxen geben sich vier Musiker ihr Stell-Dich-Ein, sie heißen Erlend Øye, Marcin Oz, Sebastian Maschat und Daniel Nentwig, besser bekannt als The Whitest Boy Alive, und sollen heute abend zur allgemeinen musikalischen Glückseligkeit verhelfen.

Das gemeinsame Wirken der Wahl- und Ur-Berliner begann im Jahr 2003 mit der Zusammenkunft einiger nicht unbekannten Größen verschiedenster Genres. Da wäre zum einen DJ Highfish (Oz), der an Schaltpult und Plattentisch beheimatet ist (und nun in der Band am Bass groovt) und zum anderen Erlend Øye, der schon seit Jahren auch in der internationalen Musikpresse alles andere als ein unbeschriebenes Blatt ist. Bekannt geworden als zweite Hälfte des norwegischen Duos Kings of Convenience (mit Eirik Glambek Bøe), die den ruhigen, atmosphärischen Stil zweier Gitarren gepaart mit zweistimmigem Gesang pflegen und das New Acoustic Movement und dessen Generation prägte beschritt er außerdem auch Solo-Pfade, experimentierte mit elektronischen Sounds, machte Furore als DJ.

Wie schön und wichtig, dass im Moment des Konzertes diese Fakten, das Wissen im Hinterkopf völlig in den Hintergrund rücken und zugunsten von einem Hier-Und-Jetzt-Empfinden weichen: Herkunft und Vergangenheit der Künstler werden sekundär, spielen keine Rolle mehr, nirgends sonst ist die aktuelle Zeit so präsent, so unmittelbar spürbar, wie in diesen anderthalb Stunden. Urplötzlich wird der ferne Musiker nahbar, seine Melodien noch zugänglicher. Dieses Wesensmerkmal verkörpern The Whitest Boy Alive geradezu perfekt, sie präsentieren sich alles andere als reserviert, sind dermaßen unverfänglich und liefern ihre Songs auf einem Tablett der Herzlichkeit an das von vorneherein begeisterte Publikum im Forum. Was als Electro-Dance Projekt begann ist längst ein durch und durch akustisches Statement, dass allen Beteiligten bestens steht und sich trotz klassischer Bandbesetzung und ohne jegliche Klangexotik (mal abgesehen von einem wirklich beängstigend begnadeten Keyboarder - genial!) von vielen – inzwischen zum Massenmarkt avancierten - Indieproduktionen absetzt, und zwar im allerpositivsten Sinne.

Die eigenwillige Mischung von schwerer Melancholie, schlichten Gitarrenparts und stampfenden, manchmal fast monotonen Schemata in Bass- und Schlagzeuglinien hat eine fesselnde Wirkung fernab von großen und dichten Klangteppichen, die häufig Gefühl mit enormer Opulenz erpressen wollen. The Whitest Boy Alive haben ein anderes, besseres Konzept gefunden. Sie wissen, dass ihre Musik keiner Adaptation bedarf und setzen auf den scheinbaren Widerspruch Minimalismus vs. Gefühl.

Die Songs sind allesamt wunderschön, zeugen von Sensibilität, Vorstellungskraft und Musikalität, die weiß, wie sie gedankliche Vorstellungen in Musik betten kann. Da trifft große atmosphärische Dichte auf bestechenden Rückhalt in Instrumentierung und Arrangement. Das Gerüst ist schlicht, simpel und fein durchstrukturiert, jeder Akkord ist platziert und energiegeladen, nicht eine Sekunde erlauben sich die Musiker zielloses Gumgeklimpere. Erstaunlich und faszinierend ist die Wirkung, die Øye & Co. über die Räume, die ihre Musik offen lässt, transportieren. Da nehmen sich einzelne Instrumente über unerhört weite Strecken völlig zurück (In I'm Done With You wiederholt der Bassist das gesamte Stück ein eintaktiges Motiv), um ganz unvermittelt in anrührende Melodien oder knackige Beats aufzuleben. Gerade die Beständigkeit mancher Motive und Thematika schaffen Intensität und Basis für die Entwicklung der Melodie.

Die Leichtigkeit und Dynamik, die Band und Songwriting dabei ausstrahlt, macht am Ende sogar fast die textliche Schwere in fast allen Songs (Golden Cage, I’m Done With You) vergessen. Jedes Instrument ist Parameter, verläuft synchron zu den anderen und ist doch eigenständig, und das größte und bedeutsamste Instrument ist Øyes Stimme, die von Arrangements und Kompositionen subtil aber entschlossen in der Vordergrund gespielt wird.

Øyes Stimme verfügt über das etwas verwirrende Wesensmerkmal gleichzeitig traurig, nachdenklich und dann wieder himmelhochjauchzend zu stimmen. Sein Timbre ist ebenso außergewöhnlich wie anziehend, ein wenig gedankenverloren zelebriert er jeden Ton, legt seine Seele in die Songs und glänzt mal bescheiden mal frech durch das Konzert.

Live bestätigen The Whitest Boy Alive alles, was sie auf ihrer Platte versprechen, jeder Song ein Treffer, die Studioaufnahmen werden in Sachen Spielfreude und nachhaltiger Wirkung noch um ein vielfaches übertroffen. Hier klammert man sich nicht an Noten, die vier jungen Männer erweitern und komplettieren die Songs bis hin zu 14-minütigen Ergüssen an Kreativität respektive purer Freude .

Sie werden selbst Teil des Genusses, sind nicht nur ausübende Gewalt, sondern selbst Rezipienten. Und was könnte den Besucher glücklicher machen als eine völlig gelöste und fröhliche Band, die den frenetischen Applaus des Forum- Publikums ihrerseits mit einer beinahe ekstatischen Zugabe honorieren. Da werden alte Klassiker aus dem Hut gezaubert, mit Songs von den Supremes, über Portishead bis hin zu Summertime feiert die Band auch noch die letzten Minuten ihres höchst denkwürdigen Konzertes. Die Schranken zwischen Publikum und Band sind längst überwunden, Erlend schmachtet weit vorgebeugt in die Menge, es wird getanzt und laut und schief mitgesungen - kleine Trivialitäten, im Grunde, die sich aber im Kopf festbeißen und ein Konzert erst formen und charakterisieren.

Am Ende liegen sich da oben vier Musiker in den Armen, völlig erschöpft und durchgeschwitzt, aber glücklich. Unten wird selig applaudiert, so manchem läuft ein kribbeliger Schauer den Rücken hinunter und noch auf dem Nachhauseweg hallen die Worte und Melodie nach. Da bleibt nur eins zu sagen, danke für dieses wundervolle Konzert!
foto: judith wiemers


the whitest boy alive

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