Diverse Interpreten [Crossing All Over Vol. 18]

Kreuzüber.
Seit 1993 etabliert sich der "Rock-Fans aller Coleur vereinende" Crossing All Over Sampler zu einer umsatzstarken Instanz und feiert dieses Jahr bereits seine achtzehnte Ausgabe.



"musikalische impulse schießen direkt von den tonspuren in die venen des zeitgeistes
und bringen euer blut zum kochen!
"
(pr text)


"Der Essayist Geoffrey O'Brien", so die allwissende Wikipedia, "bezeichnete das persönliche Mixtape als die am häufigsten ausgeübte amerikanische Kunstform". Glücklicherweise hat sich in den achtziger Jahren dieses popkulturelle Phänomen auch den Weg über den Atlantik zu uns gebahnt und ist, auch in Tagen des CD und Mp3 Konsums, kaum wegzudenken. "Durch die sorgfältige Auswahl und Festlegung der Reihenfolge der Stücke innerhalb einer Zusammenstellung, kann eine künstlerische Aussage geschaffen werden, welche durchaus aussagekräftiger ist als die bloße Summe der einzelnen Lieder." Ein Sampler hingegen sei, befragt man das umtriebige Orakel erneut, ebenfalls eine Zusammenstellung von Musiktiteln zu einem bestimmten Thema, jedoch von der Musikindustrie veranlasst. Blickt man auf diese beiden Definitionsversuche scheint der kommerzielle Aspekt der wesentliche Unterschied zu sein. Der Weg vom ehemals auf die namensgebende Audiokassette beschränkten Mixtape zu einem Sampler, bzw. einer Kompilation ist intentional jedoch ein äußerst weiter. Leidenschaft, Individualität und Hingabe seien nur drei von unzähligen Stichworten. (Den Spagat zwischen beidem wagten wir selbst mit Sketchbooks, aber das bedarf keiner weiteren Ausführung an dieser Stelle).

In der, seit den späten Sechzigern durch die Industrie erschlossenen Nische der Popkultur, wurden bislang gefühlte zehn hoch einundzwanzig verschiedene Sampler zu den unsäglichsten Themen zusammengestellt und über die Ladentheke des Woolworth an der Ecke gereicht. Vom Feuerwerk der Stars aus den Siebzigern über TopFetenKultKuschelSmashHits bis zur generationsübergreifenden Bravo Hits Kompilation bekannt durch Rundfunk und Fernsehen, bietet die Zusammenstellung von Hits in der post-Beatles-Ära ein veritables Geschäft, denn die Zielgruppe ist Dank Dauerberieselung der freien (und leider auch öffentlich rechtlichen) Radiostationen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner konditioniert; ein "Mai A Hee" Schriftzug zur Richtigen Zeit kann so auch den schlechtesten Sampler an den desorientierten Hörer bringen. Zuviel Polemik? Na gut. Widmen wir uns dem vorliegenden Produkt.

Auch die "Crossing All Over" Reihe, ihres Zeichens als "ultimativer Rocksampler" betitelt, bringt es immerhin auf achtzehn zusammengestellte Ausgaben. Der aktuelle ist selbstverständlich stets der beste, was den Kauf der vorherigen auf gewisse Weise diskreditiert, aber das konnte man ja beim Kauf des jeweils Vorhergehenden nicht wissen. Das bewerte Konzept, größtenteils dauerrotierende Hits aus dem gitarrendominierten Musikbereich auf einer Doppel CD für die Nachwelt festzuhalten, bietet auch dieses Mal allen Grund zuzuschlagen, wenn man anfällig dafür ist, "diesen genialen Mix einfach nur abfeiern" zu wollen. Man geizt jedoch auch nicht mit Kontroversen und packt in diesem Zug Stücke wie das gleichwohl von der katholischen Kirche, der Bildzeitung (obwohl die wendehalsesque ihr Fähnchen gern mal nach dem Wind drehten), der Freizeit Revue und dem gelangweilten Feuilletonisten beachtete Hard Rock Hallelujah der finnischen GrandPrix Darlings (ich weiß, das heißt jetzt anders, Anm. d. Verf.) Lordi, oder auch das gleichwohl von der katholischen Kirche, der Bildzeitung (obwohl die wendehalsesque ihr Fähnchen gern mal nach dem Wind drehten), der Freizeit Revue und dem gelangweilten Feuilletonisten beachtete Gott Ist Ein Popstar der vom Echo ausgeschlossenen Wolfsburger Oomph! auf die Tracklist. Neben in solchen Kreisen üblichen Verdächtigen wie Rammstein (Mann Gegen Mann), My Chemical Romance (You Know What They Do To Guys Like Us In Prison) oder Nickelback (Far Away) finden sich bei Crossing All Over Vol. 18 auch Beiträge, die im Kontext schon fast deplaziert erscheinen: die poppigen Wir Sind Helden (Von Hier An Blind) wirken zwischen Die Happy (Blood Cell Traffic Jam) und Hard-Fi (Cash Machine) fast störend ruhig im Abfeiervollzug. Kontextuell waghalsig fallen auch Depeche Mode (Precious) zwischen In Extremo (Liam) und Apoptygma Berzerk (Shine On) auf. Die zweite CD erscheint in kompilierender Hinsicht zwar schlüssiger – Tomte (Ich Sang Die Ganze Zeit Von Dir), Kettcar (Deiche), Oasis (Lyla) und Maximo Park (The Coast is Always Changing) in einer Reihe – endet jedoch mit einem lebensfremden Totalausfall in Form der Toten Hosen und einer unplugged Version ihres an Clockwork Orange orientierten Welthits Hier Kommt Alex.

Der Name der totenkopfgespickten Reihe ist eben Konzept und der Erfolg gibt ihr ohnehin Recht. Zur siebzehnten Ausgabe wusste man schließlich schon frappant zu bemerken: "Während andere Compilations sich an die strikte Trennung von Metal, Rock, Electro, Gothic und Alternative halten, schlägt Crossing All Over seinem Titel gemäß massiv Brücken zwischen den Genres - und scheint damit voll den Zeitgeist zu treffen." Aufstand im Gemischtwarenladen.

Die Zusammenstellung von bereits etablierten Bands und Newcomern ist selbstredend eine gute – wenn auch nicht neue – Idee, die es erlaubt letzteren ein breiteres Publikum zu eröffnen. Schließlich ist die Platte "Radio & TV advertised". (Der gute alte Rundfunk und Fernsehen Scherz greift also immer noch!) Letztlich ist es mit diesem Alternative Rock Reißbrett exemplarisch wie mit jedem anderen Hit-Sampler im Allgemeinen: der klassische Musiknerd greift nicht auf solch belanglose und wenig aktuelle Veröffentlichungen zurück, die wirklich Interessierten begnügen sich nicht mit einzelnen Stücken und bemängeln zurecht den Wühltisch-Flair und die große Masse all jener, die nie wirklich einer szenecodierten Welt angehört haben, freuen sich bei der nächsten Hausparty Zeige- und Kleinenfinger gespreizt ein Loch in den Bauch, ob der gut gewählten Zusammenstellung. Sprich, auch diese Ausgabe wird sich verkaufen wie offenfrische Brötchen.

Als besonderes Schmankerl für all die Unentschlossenen wurde im übrigen kurzzeitig ein Medley zum Download angeboten, welches den "einzig wahren Rocksampler" bis ins Mark durchdrang und erklärt damit "den Rocksommer für eröffnet". Dem ist nichts hinzuzufügen.
foto: koks music


diverse interpreten
[crossing all over vol. 18]
gun records 2006 2cd
crossing all over

weiterlesen...

(Pop Up Messe [Leipzig, 18.-21.06.06]

Bestandsaufnahme der deutschen Independent-Szene? Ein Familientreffen, bei dem der jüngste Zuwachs präsentiert wird? Ein Ort der inhaltlichen Auseinandersetzung oder doch nur ein Wochenende lang mit Freunden feiern, die man lange nicht gesehen hat? Die 5. Pop Up Messe in Leipzig.


"es geht um inhalte."
(messe slogan 2006)

Es gibt zwei Arten von Messen. Die Einen sind eine reine Warenschau, die jeweilige Branche präsentiert sich nach außen, man erhält einen Überblick über die Marktsituation, es werden Verträge abgeschlossen, der Charakter ist ein ökonomischer. Und dann gibt es noch die Anderen: Messen für Sammler, Liebhaber und Nerds, bei denen sich – meistens von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen – eine wie auch immer geartete „Szene“ trifft. Hier steht die Liebe zur Sache im Vordergrund, man trifft sich mit Gleichgesinnten, um sich auszutauschen, Raritäten zu ergattern oder Neues kennenzulernen, der positive ökonomische Effekt ist höchstens eine Randerscheinung. Die Pop Up Messe in Leipzig eindeutig gehört zu den Letzteren. Zwar wird man Hauptbahnhof mit einem „Willkommen in der Messestadt Leipzig“ begrüßt, doch von der Pop Up weiß kaum jemand. Die Poster für diese doch recht spezielle Veranstaltung gehen an den zahlreichen legalen und wilden Plakatierungsstellen in der Masse der angekündigten Veranstaltungen eher unter. Die meisten Leipziger Besucher antworten auf die Frage, woher sie von der Veranstaltung wüssten: „Ich weiß es eben.

Laut eigener Definition will die Pop Up „eine Plattform für die Macher und Fans von Popkultur und –musik sein […] und – nicht zuletzt - allen eine Menge Spaß machen, denen Popmusik in all ihren Spielarten eine Herzensangelegenheit ist“. Ein jährlicher Treffpunkt also für den Teil der Musikszene, welcher sich nur allzu gerne das Wort Independent in großen Lettern auf die Fahne schreibt. Genau dieses Ziel verfolgte die unsägliche Popkomm ebenfalls mit dem sogenannten Labelcamp, eine Versuch, der von Vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Doch bei der Pop Up, die heuer ihren fünften Geburtstag feierte, verhält es sich zum Glück anders. Im Wesentlichen gestützt von der vielfältigen Leipziger Musikszene hat sich ein für die Independent-Szene bemerkenswertes Forum entwickelt, das von Major-Unternehmen ignoriert wird und welche vermutlich auch keinen Stand bekommen würden.

Mehrere Tage lang traten verschiedenste elektronische wie gitarrenlastige Acts in den zahlreichen Clubs von Leipzig auf, doch die wichtigste Veranstaltung war selbstverständlich die eintägige Messe im Werk II. Schon beim Betreten der Halle wurde klar, weshalb sich die Welt in Bezug auf diese Veranstaltung in Wissende und Nichtwissende einteilen lässt. Die Besucher sind Konsumenten und Fachbesucher in einem, für Außenstehende hat die Atmosphäre einen starken Nerd-Charakter. Eigentlich ließ sich auch kaum zwischen Besuchern und Ausstellern unterscheiden, man unterhielt sich auf einer gemeinsamen Ebene. Hier versuchte weder eine Messehostess, dem ahnungslosen Kunden das scheinbar hochwertige Produkt näher zu bringen, noch wurden irgendwo Verträge oder wichtige weil ökonomisch vorteilhafte Zusammenarbeiten beschlossen. Stattdessen trafen sich ausschließlich Musikfans, die sich eher zufällig vor oder hinter den Standtischen befanden, welche schlicht aus Biertischgarnituren bestanden. Und so schien in der Halle ein riesiges Netz gespannt zu sein, überall fanden sich Verbindungen, man traf alte Bekannte und lernte neue Menschen kennen. Ob Wohnzimmer-Label, Independent-Vertrieb, Fanzine oder Besucher: Irgendwie waren alle miteinander verknüpft. Man traf Freunde und Kollegen, die man lange nicht mehr oder noch nie gesehen hatte, neue Kontakte wurden geknüpft, phasenweise schien das Werk II eher einem Familientreffen als einer Messehalle zu ähneln.

Doch wo sich die Familie trifft, dürfen nicht nur Kaffee und Kuchen gereicht werden, es muss auch Inhaltliches geschehen. Dazu sollten die Foren dienen, in denen auf einem Podium Beteiligte des Kulturbetriebes unterschiedliche Themenfelder beackerten. Ausgerechnet beim inhaltlichen Input lief nicht alles rund. Das Forum "Blog Party", welches das Verhältnis von Blogs und Musikjournalismus behandelte, bewegte sich auf einem zwei Jahre alten Diskussionsstand, ein Fortschritt war nicht zu erkennen. Bei "Landunter im Themenpark" brachten verschiedene Musikjournalisten zwar spannende und erheiternde Anekdoten zum Besten, eine ausreichende Erklärung für das Phänomen des "heißen Acts des Moments" konnte jedoch nicht gefunden werden. Doch ausgerechnet das vielversprechendste Forum, "I Bet You Look Good On Our Coverstory", enttäuschte am Stärksten. Nur wenig Substantielles und Neues gab es zum politischen Gestus der Independent-Szene zu sagen.

Erfreulicher hingegen war so mancher Auftritt bei den abendlichen Konzerten. Das Messepublikum konnte insbesondere freitags und samstags zahlreiche Acts in rund einem dutzend Clubs begutachten. Nur wenige größere Namen wie Blackmail oder Sophia waren dabei, doch die wirklich spannenden Momente spielten sich sowieso in den kleineren Lokalitäten ab, so zum Beispiel der Louisville-Loob-Labelabend in der Halle 5. Leider spielte Florian Horwath die Halle buchstäblich leer, bevor Oliver Welter nur mit Akustikgitarre Naked Lunch-Songs zum Besten gab. Vor allem aber feuerten Klez.e ein energiegeladenes Set ab, welches viel Lust auf das kommende Album machte. Andernorts waren Bands wie Ostinato, Brockdorff Klanglabor oder auch Sometree zu bestaunen, auch wenn letztere mit erheblichen technischen Problemen zu kämpfen hatten. Dreh- und Angelpunkt der abendlichen Musikunterhaltung war jedoch zweifelsohne Ilses Erika. In diesem engen und verwinkelten Kellerclub wurden vier Nächte zum Tag gemacht. Deren Höhepunkt wiederum waren die (Mini) Monsters Of Spex: Zwar wussten die Dänen von Epo-555 durchaus zu begeistern, doch verblasste deren Auftritt im Schatten der vermutlich heißtesten Band des gesamten Pop Up: Amusement Parks On Fire machten klar, weshalb es sich nur für diese eine Band gelohnt hätte, nach Leipzig zu fahren. Riesige Gitarrenwände und neblige Gesangslinien durchfuhren den eigentlich viel zu kleinen Raum, der Auftritt ließ jeden Körper Adrenalin und Glückshormone in rauen Mengen ausschütten. Und ist es nicht letztendlich das, worum es bei so einer Veranstaltung gehen muss?
foto: simon traut

(pop up

weiterlesen...

Justine Electra [Soft Rock]

„It’s a dog eat dog world“, weiß die junge Wahlberlinerin über die Musikindustrie zu sagen, ist mit City Slang aber vermutlich in guten Händen. Zumindest dann, wenn man bedenkt, dass ihr Bier, Kaffee, Essen, Freunde, Sex, und was einen sonst noch stimulieren mag genügte, um die ersten Winter in Deutschland zu überstehen. Bescheidenheit.

„for women with balls and men, who wish they had them.“
(justine electra über ihr debüt)


"Der durchgedrehten Souveränität ihrer Bühnenpräsenz, dem irrlichterndem Charme ihrer Lieder, deren Atmosphären voller Wärme & Gefahr, und den Melodien, die wie aus Träumen vertraut scheinen und doch so unberechenbar wie eben jene sind- all dem ähnelt nichts, was ich kenne." So maßlos übertreibt nur Jens Friebe, der dies ausgiebig in der taz tat. Die junge Dame, an welche diese ultimative Lobhudelei gerichtet wurde, bietet letztlich genügend Angriffsfläche, um solchen Luxusbeschreibungen zu trotzen. "Soft Rock" heißt das Debüt, was ja eigentlich fast gar nicht geht und überhaupt: allein der Name schon! Justine Electra. Aber mal ernsthaft. Was den Namen anbelangt, so kann man mit Sicherheit sagen, dass das wenig originell scheint, doch man muss einsehen, dass die Kritik hier nicht an die junge Dame selbst, sondern tatsächlich an ihre Eltern gerichtet werden müsste, die sie Justine Carla Electra Beatty tauften. Und auch der Plattentitel erscheint in der Betrachtung der in Berlin lebenden Exil-Australierin nur richtig. "Vom Geist her sind das schon alles Rocksongs", erklärt sie, doch sei sie längst zu tief in ihren Stücken verankert gewesen, als sie sich überlegte, eigentlich doch vielleicht ein Rockalbum zu machen.

Mit "Soft Rock" liegt jetzt ein passables Singer/Songwriter Album vor, welches zwischen klassischen Momenten und elektrifiziertem experimentieren mit Sounds, Samples und vor allem immer wieder mit ihrer ausdrucksstarken Stimme spielt. Darunter finden sich herrlich verschrobene Momente – das Stück Sandman zum Beispiel habe sie in Anlehnung an den italienischen Komponisten Niccolo Vaccai geschrieben, der sich als Musikpädagoge immer wieder Stücken zur Gesangsübung widmete - , eine äußerst originellen Interpretation des Jazzstandards Autumn Leaves bis hin zu der dysfunktionalen Familienhommage Mom & Dad & Me & Mom. Das skurrile Moment dieses Titels ist jedoch nicht aus der Luft gegriffen, sondern wurde bereits im zarten Alter von acht Jahren von Justine geschrieben, wuchs sie doch tatsächlich mit ihren Eltern und einer Pflegemutter in der australischen Einöde auf. Im urbanen Berlin fehle ihr auch am meisten diese Naturverbundenheit. Damals sei sie gelegentlich barfuss in die Schule gegangen, bzw. per Anhalter dort hin gelangt, und wenn sie nachts von einer Party nach Hause kam, liefen ihr Füchse über den Weg. Mit ihrem zurückgelehnten Song Motorhome möchte sie eben diese Diskrepanz aufgreifen. "Come and sit by me / Smell the leaves and feel the trees / Let's burn the television" heißt es dort. "Go back, what’s stopping you?", fragt sie berechtigt, und bemerkt ironisch, dass in unserer Kultur Vogelgezwitscher doch nur noch als Klingelton wahrgenommen würde.

Berlin mag sie inzwischen dennoch. Ursprünglich verließ sie ihre Heimat, um zu ihrer Großmutter nach Italien zu ziehen, "aber die Männer gingen mir auf die nerven", erklärt sie. "Sie wollten immer, dass ich diese engen Sachen anziehe, show my tits and stuff. Nach einer Zeit habe ich jedoch gemerkt, dass diese Männer meinen Intellekt niemals ernst nehmen würden." Also machte sie sich auf nach Deutschland – was man als Kompliment werten darf. Von einem Appartement in Treptow über besetzte Häuser bis hin zu dem Augenblick, als sie schließlich Christof Ellinghaus von City Slang traf, war ein weiter Weg, bei dem – und diesen Satz muss man einfach zusammenhangslos aus der Pressemitteilung übernehmen – "jedes Klischee natürlich stimmt".

Ihre musikalische Sozialisation sei eng mit ihrer Familie verwoben, gibt die im Interview immer wieder lachende Dame zu verstehen. Während sich der Vater unter anderem für die Oper interessierte und eine unerschöpfliche Kassettensammlung besaß, war ihre Mutter eine begeisterte Tänzerin. Addiert man das musikalische Interesse der Eltern und die Tatsache, dass diese ein Liebespaar waren, ergab das bereits für die kleine Justine in der Summe, dass Musik etwas mit Leidenschaft zu tun haben müsse. Diese Leidenschaft lässt sich auch in den 13, im Alleingang aufgenommenen, detailverliebten Stücken des Debüts wieder erkennen.

Den einen mag die Platte vielleicht zu verspielt sein, wenn Telefonklingeln, Straßenbahnen oder das Megaphon zum Einsatz kommen, den anderen wiederum eher zu zurückhaltend. Soft Rock funktioniert schließlich als Ganzes, zieht den Hörer für 44 Minuten in die bunte Spielwelt der Justine Electra, in der alle Stücke berechtigt scheinen. Und mit solch wunderbaren Songs wie Defiant & Proud, der mit Akustikgitarre und Glockenspiel vorgetragenen Abrechnung mit einer ignoranten Gesellschaft, oder dem Anti R’n’B Song Killalady – mit dem zweideutigen Titel, kokettiert er doch mit der Bedeutung einer Killer Lady und der "to kill a lady" Anspielung an den Roman "To Kill A Mockingbird“ von Nelle Harper Lee – hat sie gute Chancen dazu angenehmer Konsens zu werden. Wer statt bunter Popwelt eher Film Noir bevorzugt, greift zur ähnlich talentierten Sophie Michalitsianos, aka Sol Seppy. Für beide Damen gilt jedoch die Bemerkung Electras, die hier als Schlusswort fungieren soll: "There are some people you touched and there will always be people who touch you."
foto: city slang

justine electra
"soft rock"
city slang 2006 cd / lp
justine electra


weiterlesen...

Jörn Hintzer, Jakob Hüfner [Weltverbesserungsmaßnahmen]

"Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen", sagte einst Helmut Schmidt. Dass diese aber mehr denn je in der heutigen wirtschaftlichen und soziokulturellen Situation des Landes benötigt werden, betrachtet auf ganz eigene Weise dieser kleine Episodenfilm.


mehr mobilität für den einzelnen bedeutet mehr mobilität für alle!
(ampel e.v.)


"Wenn die Schweizer anfangen, sich über etwas Sorgen zu machen, sollte man aufhorchen", eröffnet Leo Hickman eine seiner Kolumnen. Der 31 jährige schreibt für den Londoner Guardian und veröffentlichte unlängst im englischsprachigen Raum sein erstes Buch "A Life Stripped Bare", in welchem er über ein Jahr hinweg versuchte ein ethisch bewusstes Leben jenseits von Öko Klischees zu führen. In letzter Zeit scheint sich diese Mentalität, das Leben in den unterschiedlichsten Bereichen bewusster zu gestalten, einer neuen Beliebtheit zu erfreuen. Nachdem das deutsche Greenpeace Magazin zu Jahresbeginn eine Ausgabe unter dem Titel "Tu Was!" erstellte und darin zahlreiche Tipps zu einer „besseren Welt“ vorschlug, griff kurze Zeit später auch der Stern diese Thematik auf und wusste ebenfalls – meist überschneidende – Ratschläge einer breiteren Öffentlichkeit zu erteilen. Selbst nebensächliche Nischen Zeitschriften wie das IQ Style erkannten das Prinzip des Do-It-Yourself-Wunders und sammelten Vorschläge. "How to be good". Zwischen 50 und 60, Mal mehr, Mal weniger gut gelungene Tipps sammelten sich so in der Presse, die die Welt um einen herum im kleinen Stil verbessern sollen. Vom Lächelnauftragen bis zum Verzicht auf das Auto, vom Bio-Milch-Kauf über Fair-Trade Produkte bis zur politisch motivierten Zivilcourage, sprangen dem Leser bunte Improvisationen und tiefsinnige Anregungen für den Alltag an. (Fraglich blieb dabei erwähnte IQ Style, die zum einen aufgrund der Klimabelastung gegen die Nutzung von Kurzflügen wetterte, nur fünf Seiten weiter jedoch in einem Artikel über Billig Airlines inkonsequent alle Kritik über Bord warf).

Die Rolle des Eulenspiegels übernehmen in dieser Hinsicht die beiden Regisseure Jörn Hintzer und Jakob Hüfner – die sich mit ihrem Projekt Datenstrudel bereits für einige PeterLicht Videos verantwortlich zeigten - mit ihrem "Film für ein neues Deutschland".

"Weltverbesserungsmassnahmen". Jenseits von Agenda 2010 und Hartz 4 wird hier polemisiert, aber auch jenseits der Ernsthaftigkeit der Lage. Die Gedankenspiele bewegen sich auf parodistischem Terrain, lassen den Betrachter über die skurrilen Ideen schmunzeln, bis er bemerkt, dass in der Wirklichkeit manches Mal ebenso hanebüchene Vorschläge den Weg zur Realisation finden. Besonders die vermeintlich logische Argumentation der Bewerbungen erinnert oft erschreckend an tatsächliche Projekte. Wenn in einer Episode festgestellt wird, dass fünf Millionen Menschen in Deutschland ohne Arbeit sind und im gleichen Atemzug fünf Millionen Einzelkinder in unserem Land ins Auge stechen, steht dies selbstverständlich in keinem Verhältnis, kann aber in einer geschickten Formulierung schnell dazu gemacht werden. Die Konsequenz aus diesem Vergleich, so wird uns suggeriert, ist zum einen, dass jedes Einzelkind eine tickende wirtschaftliche und soziokulturelle Zeitbombe darstellt, zum anderen natürlich auch, dass man durch ein konzentriertes Arbeitsmarktprogramm, welches sich der Einzelkinder annimmt, die Arbeitslosigkeit senken kann. Im praktischen, und durchaus sehenswerten Beitrag Leihgeschwister werden erwachsene Menschen ohne Arbeit in speziellen Schulungen und Fortbildungen zum "Geschwisterchen“ ausgebildet, um dann in Familien mit Einzelkindern integriert zu werden und das soziale Gefüge wieder auszubalancieren.

Der Problematik unseres maroden Gesundheitssystems und der jedoch gleichzeitig steigenden Krankenversicherungsbeiträgen widmet sich eine weitere Episode mit dem Titel Aktive Krankenversicherung, bei welcher den Versicherten ein Grundwissen an medizinischer Tätigkeit beigebracht und somit Sofortmaßnahmen – von der Diagnostik bis zur konkreten, invarsiven Therapie – kostengünstig durchgeführt werden können. "Spezialisierung ist etwas für Insekten, der Mensch ist in sich komplex!", hebt der Sachverständige hervor und geht auf die Anfänge der Chirurgie ein, welche aus der Tätigkeit von Barbieren hervorgegangen ist. "Jeder kann das. Es ist eine wunderbare Sache nicht von einem anonymen Arzt behandelt zu werden, sondern von jemandem den man kennt. Vom Nachbarn."

Die Konjunktur hingegen versucht in einem weiteren Beitrag der sorbische Euro anzukurbeln, indem jedem Schein ein immanentes Verfallsdatum in Form eines sich ausbreitenden Säureflecks zugefügt wird. Dies führt unweigerlich zur völligen Unkenntlichkeit der Banknote. "Hanka Novak ist nur eine von Vielen", abstrahiert eine sachliche Sprecherin aus dem Off vom Einzelfall auf das gesellschaftliche Problem. "Sie alle leben nach dem Motto 'Geiz ist geil' und sind stolz darauf kein Geld auszugeben. Dabei übersehen sie, dass sie durch ihr Verhalten nicht nur ihr Leben zerstören, sondern auch das der Umgebung. Wo kein Geld ausgegeben und investiert wird, kann nichts wachsen und aufgebaut werden." Das Volk überlegt sich also ein weiteres Mal ganz genau, ob und wann es sein Geld ausgeben sollte. "Ein bisschen Risiko ist dabei, aber es macht auch Spaß", wird da ein fingierter Frisiersalon Besitzer zitiert. "Die Zeit wird immer knapper und der Schein muss dann eben noch schneller weg. Was weiß ich, vielleicht abends essen gehen."

Den wissenschaftlichen Hintergrund und die benötigten Fakten für das jeweilige Konzept werden dem Normalbürger durch einen Sachverständigen näher gebracht. Dies vollzieht in jeder Folge der Experte Johannes Schleede (wunderbar gespielt von dem Laien Peter Berning in wechselnden Rollen!), der hochoffiziell die Effizienz des jeweiligen Einfalls so authentisch herüberbringt, wie es selbst RTL Explosiv und die dazugehörigen Plagiate nicht schöner könnten.

Trotzdem wird dem Zuschauer schnell klar, dass die einzelnen Episoden stets den gleichen, vorhersehbaren Ablauf haben, und dadurch vor allem weniger ambitionierte und ideenärmere Vorschläge zur Verbesserung der Welt dazu tendieren zu langweilen. „Die unsinnigsten Ideen werden hier zu Ende gedacht, damit es wieder aufwärts geht“, sagt der Film über sich selbst, ist dabei jedoch meist nicht zynisch genug, um tatsächlich Satire zu sein. Die verwackelten Handkameraperspektiven und der pseudodokumentarische Flair sind dem Zuschauer ebenfalls durch Filme wie "Bowling for Columbine" bis hin zu "Muxmäuschenstill" geläufig. Manche Episode wird durch unnötige Ausschweifungen künstlich in die Länge gezogen. Stattdessen hätte man auf eine größere Zahl von Episoden setzen können, welche dafür kompakter beleuchtet werden. Ideen sind schließlich vorhanden, so watet das Bonusmaterial u.a. mit vier weiteren Beiträgen auf. Hier sind vor allem "Sport für Faule" – einem amüsanten Filmchen in der bereits aus PeterLichts Musikvideos zu Die Transsylvanische Verwandte Ist Da und Heiterkeit bekannten Perspektive –, sowie Vorschlag zum Systemsturz – in welchem ein junger Mann im Parka mit Barcode auf dem Rücken hobbyphilosophisch angehauchte Verschwörungstheorien zum besten gibt ("Man sagt den jungen Leuten, es sei doch Demokratie! Ihr könnt doch eurem freien Willen folgen. Aber der freie Wille, der wird manipuliert!") -, hervorzuheben. Trotz dieser Einbußen garantiert der Großteil der Episoden bisweilen gute Unterhaltung und man muss der Low-Budget Produktion vor allem ihren aktuellen Bezug zu Gute halten. Inwiefern die angesprochenen Ideen tatsächlich produktiv sein könnten sei zwar dahingestellt, aber eine frische und ironische Betrachtung des konservativen Mobs ist definitiv willkommen.
foto:


jörn hintzer & jakob hüfner
"weltverbesserungsmaßnahmen"
2006
weltverbesserungsmaßnahmen
datenstrudel
peterlicht

weiterlesen...

Merz [Loveheart]

The loudest sound of all.
Love unspoken.



"love is not true when it's infatuation, the bond is not there in fascination. "
(dangerous heady love scheme)


Conrad Lambert sagt nicht viel. Damit sagt er alles. Dass es nicht nötig ist, die Aufmerksamkeit des Hörers mittels Lautstärke und Provokation zu erlangen. Dass Understatement und Subtilität auch in Zeiten von ins Mikro schreienden Frontmännern in extravaganten Anzügen durchaus noch existieren. Dass eine aufwändige Instrumentierung nicht gleich zwangsläufig bedeuten muss, dass man vor lauter Mandolinen, Orgeln und Gitarren den Text, so unscheinbar und unaufdringlich er auch daher kommen mag, nicht mehr hört. Außerdem sagt er: "In mir war nie ein Halleluja, das Einzige, was Gott mir gab, ist eine Seele."

Selbstverständlich hat Merz nach sechs Jahren Untertauchen noch mehr zu sagen. Laut eigener Angabe, befindet er sich endlich wieder auf dem richtigen Weg. Nach einer langen Pause, dominiert von nächtlichen Autofahrten und Radioshows, hat er sich wieder darauf besonnen, was er am liebsten macht: Musik. Musik von der allerbesten Sorte sogar. So kann man "Loveheart", sein jüngstes Werk, guten Gewissens beschreiben.

Ein Album, das sogar die britische Zeitung The Sun zum Nachdenken bewegt ("A yearning and quite sad album that keeps you thinking long after the notes have faded.") und von Coldplays Chris Martin in höchsten Tönen gelobt wird. Außerdem ein Album, das der Welt in ihrem desolaten Zustand beizustehen vermag, indem es einfach nur da ist. Wenn einem das Herz gebrochen wird, ist es da um die Tränen zu trocknen. Und wenn man gerade so herrlich unbeschwert und glücklich ist, dass man in der warmen Abendsonne Purzelbäume schlagen mag, so wartet es geduldig auf dem Nachttisch um einem vor dem Einschlafen noch einmal übers Haar zu streichen.

Vom Opener, Postcard From A Dark Star, bis hin zum letzten Stück, Loveheart, bewegt sich die Platte auf einer Ebene, die für das blosse Ohr nicht wahrnehmbar ist. Sie scheint wie eine Welle über die Dinge zu gleiten, und dies tut sie so behutsam, dass man gar nicht weiß, wie einem geschieht. Dangerous Heady Love Scheme, der zweite Song des Albums erzählt vom hin- und hergerissen sein zwischen Kopf und Gefühl und wirft gleichzeitig die Frage auf, wie viel Vernunft man zum Lieben braucht.

Danach spielt der gute Herr Lambert ein bisschen Cat Stevens: My Name Is Sad And At Sea ist die traurige Version von Scarborough Fair. Mit gebrochener Stimme und schwach gezupfter Gitarre geht dieses Lied im Kreis und wir sehen den einsamen Mann am Strand stehen, wartend. Ein Schmetterling kommt vorbei und fängt ihn auf. In Butterfly hört man seinen Flügelschlag. Dieser ist gerade so zart, dass man innerlich zu lächeln beginnt.

Ein richtiges Grinsen wäre nicht Conrad Lamberts Sache. Er führt uns direkt in seinen Warm Cigarette Room, wo die melancholische Stimmung ihren Höhepunkt erreicht. Hier singt jemand wie Bono Vox, ohne pathetisch zu sein, hier sagt jemand einfache Sachen, ohne banal zu klingen. Es gibt nur etwas, was man an diesem Song aussetzen könnte: Dass er nur viereinhalb Minuten dauert. Man wäre gerne länger traurig, wenn Merz die Musik dazu macht.

Der Blick wandert weiter, von Innen nach Außen. Conrad Lambert scheint zwischen diesen so gegensätzlichen Polen keinen Unterschied zu machen. Gerade dann, wenn er die Natur beschreibt, scheint es, als ob er am Meisten von sich preisgibt. In "Loveheart" kommt die Liebe so sanft, wie die Blätter von den Bäumen fallen. Dieser Musiker ist romantisch, so romantisch wie ein Mensch im 21. Jahrhundert sein sollte. Und er weiß: Das Herz ist mehr als ein Muskel.
Was uns am Leben erhält ist die Liebe, die darin steckt und uns umgibt. "Das Leben ist das, was passiert, während wir mit Anderem beschäftigt sind", sagte einst John Lennon. Vielleicht hat Conrad Lambert an diesen Satz gedacht, als er dieses herzerwärmende Meisterwerk aufnahm. Wir, die es hören, wissen nicht, ob wir glücklich oder traurig sein sollen. Erwischt, sagt Lambert; genau darum geht’s.
foto: versträker.com


merz
"loveheart"
groenland records 2006 cd
merz

weiterlesen...

Morrissey [Ringleader Of The Tormentors]

"There’s A Light That Never Goes Out": Unerschütterlich ist die Faszination für Steven Patrick Morrissey und ebenso unerschütterlich ist sein Hang, das Extreme seiner Persönlichkeit mit jeder Veröffentlichung neu zu unterstreichen.


"there is no such thing in life as normal."
(the youngest was the most loved)


Morrissey ist ein Phänomen, das bindet und nicht mehr loslässt. Zumindest gilt dies für die Musikpresse: Über kaum jemanden ist in den letzten beiden Jahren so konsequent berichtet worden, ist seit der Veröffentlichung von "You Are The Quarry" die kleinste Neuigkeit noch eine große Meldung wert gewesen, wurde jedes der wenigen an die Öffentlichkeit dringenden Details über das neue Album aufgesogen und begeistert darüber berichtet. So viel Aufmerksamkeit wurde höchstens Pete Doherty zuteil, an dessen körperlichen und sozialen Abstieg sich insbesondere britische Schmierblättchen und sogar Spiegel Online labten.

Doch Morrissey wird vielmehr gewürdigt, seine nach außen als extremer Charakter inszenierte Persönlichkeit ist anziehend und stößt gleichermaßen ab. Es ist die Faszination an den Niederungen des eigenen Seins, in die sich der Mensch immer wieder begibt, die gerade bei ihm vorzufinden ist. In Morrissey spiegelt sich die Perversität menschlicher Existenz wider, Profilneurose und das Gefühl von Marginalisierung, Verletzlichkeit, pathologische Selbstverstümmelung der Seele und die verzweifelte Sehnsucht nach Liebe, welche den Geist endlich zur Ruhe kommen lässt.

Der Titel des neuen Albums kündigt Großes an: "Ringleader Of The Tormentors" scheint vordergründig anzukündigen, dass Morrissey auch weiterhin nicht gewillt ist, einen positiven Standpunkt einzunehmen oder sich gar in Demut und Bescheidenheit zu üben. Vielleicht auch, weil er in der Pose des ungeliebten Egomanen zu lange verharrt ist, nähert er sich immer mehr scheinbar immer mehr der Persönlichkeit an, die er zu sein vorgibt. Die Anspruch von Größe, welche der Titel verspricht, wird direkt im Opener I Will See You In Far Off Places durch den monumental-orchestralen Einsatz geltend gemacht, von Beginn an werden alle Register gezogen, die John Visconti bei der Produktion zur Verfügung standen.

Nobody knows what human life is. Why we come, why we go, so why then should I know.” Sofort wird deutlich, hier soll nicht nur Persönliches verhandelt werden, Morrissey setzt sich selbst in einen Gesamtkontext, dessen bestimmendes Element er doch selbst bleibt. Und wieder geht es um die Liebe und den Tod. Doch diesmal ist alles anders, so heißt es im beigefügten Pressetext. Steven Patrick Morrissey singe über das, was er in den letzten 23 Jahren nur angedeutet habe. Dabei ist der Satz „Now I'm spreading your legs with mine in-between” nichts als der konsequente Ausspruch dessen, was vorher mehr oder weniger klar umschrieben wurde, es ist kein Bruch mit der Vergangenheit. Morrissey gewinnt an Deutlichkeit, eine Kehrtwende vollzieht er aber nicht. Und der grundsätzlich pessimistische Unterton der letzten 23 Jahre bleibt, wenn auch in abgeschwächter Form, ein vertrauter Gestus, der aus der Tiefe des Morrissey’schen Seelenlebens zu uns herauf schreit. Kleinere und größere positive Zeichen finden sich aber immer wieder am Wegesrand, Morrissey scheint verliebt, wenn dies auch nur einen Teil seiner Persönlichkeit affektiert.

Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb sein Umgang mit dem Tod, der das noch präsentere Thema ist, einer Wandlung unterworfen ist. Das überhebliche Spiel mit der Todessehnsucht ist der Angst vor ihm gewichen, er wird nicht auf den Altar der Erlösung gehoben. Er begreift den Tod als Verlust, der morbide Charme ist nicht mehr mit jugendlicher Koketterie zu erklären, die in seinem Alter auch mehr als aufgesetzt wäre.

Für die Jugendlichkeit sorgt stattdessen ein Kinderchor, der bei zwei Stücken zur Unterstützung eingesetzt wird. Musikalisch wird der Weg, den er auf "You Are The Quarry" einschlug, weitergegangen, doch die Arrangements sind bombastischer, das Songwriting ist noch ausladender. Die Handschrift Tony Viscontis wird deutlich spürbar, eine gewisse Erhabenheit über den Popsound legt sich wie ein Schleier auf die Songs. Gleichzeitig ist das Album nicht mehr über die gesamte Länge so eingängig, Melodielinien winden sich bei Stücken wie Dear God Please Help Me und Life Is A Pigsty über Minuten hinweg, die musikalische Essenz tritt erst mit den Schlussakkorden deutlich heraus. Im Gesamtentwurf ändert sich jedoch das Grundlegende nicht: Eine Menge Popappeal gepaart mit einer Rock ’n’ Roll-Attitüde, die sich deutlich mehr an James Dean als an Elvis Presley orientiert, die Gitarre bleibt weiterhin das bestimmende Element. Die symphonisch ausufernden Momente der Platte sind um klare, eingängige Stücke gruppiert, in denen sich bei Morrissey eine ungeahnte Entspannung entfaltet, I’ll Never Be Anybody’s Hero Now läuft ins Ohr wie warme Butter sich aufs Brot streichen lässt. Die Singleauskopplung You Have Killed Me klingt jedoch ein wenig zu glatt und überproduziert, sämtliche Ecken und Kanten scheinen herausgenommen worden zu sein. Auch ist die Nähe zu First Of The Gang To Die unverkennbar, doch ist dies nicht ein viel beschworenes Sequel sondern vielmehr ein mäßig gelungene Kopie des Songprinzips. Der einzig wirklich schwache Song ist aber The Father Who Must Be Killed, der mehr als alle anderen Stücke versucht, musikalisch an alte Smiths-Zeiten anzuknüpfen. Der Refrain wirkt aber wie aufgesetzt, es wird eine künstliche Spannung erzeugt, die dazu noch von einem unsäglich affektierten Text getragen wird. Im Gegensatz dazu steht The Youngst Was The Most Loved, ein Song, in dem alles zusammenpasst. Eine wahnsinnig einnehmende Melodielinie packt den Hörer, das Arrangement mit Kinderchor stützt das Songwriting, ohne es unnötig aufzuladen oder in die Länge zu ziehen.

"Ringleader Of The Tormentors" ist ein Gesamtwerk geworden, ein insgesamt rundes und vor allem in sich stimmiges und großartiges Album. Letztendlich ist es der Nachfolger zu "You Are The Quarry", den so viele von ihm erwarteten und erhofften, ohne sich dabei in völliger Vorhersehbarkeit aufzulösen. Morrissey bietet das gewohnte Bild, doch gleichzeitig vollzieht er weiterhin einen sanften Wandel, eine Weiterentwicklung die notwendig ist, um nicht auf der Stelle zu treten und sich der Gefahr der Beliebigkeit auszusetzen. Er scheint phasenweise ins Reine gekommen zu sein mit sich selbst und Welt, auch wenn Morrissey genauso lamentiert und sich selbst der Verzweiflung des Bewusstseins über die eigene Existenz preisgibt, wie er es schon immer tat. Aber war das nicht auch schon immer die Quintessenz der Faszination die ihn überhaupt ausmacht und uns in seinen Bann zieht?
foto: sanctuary



morrissey
"ringleader of the tormentors"
sanctuary 2006 cd / lp
morrissey

weiterlesen...

Klez.e

Selbst Hand anzulegen, das ist wichtig für Klez.e, aber mit Liebe zum Detail bitteschön. Und Freundschaften sind sowieso wichtiger als Geschäftsbeziehungen.



"es ist zusammengewachsen, was zusammen gehört."
(christian schöfer)


Es gibt so Szenerien, in denen zu bestimmten Zeitpunkten sowohl musikalisch als auch inhaltlich besonders Spannendes und Aktuelles geschieht. Strukturen, die über Jahre hinweg entstehen und eine große Kontinuität aufweisen, in denen langsam etwas aufgebaut wird. Und auf einmal treffen diese Strukturen auf den Puls der Zeit, sie werden sichtbar für die (subkulturelle) Öffentlichkeit, sie gewinnen an Aufmerksamkeit und werden in einen Kontext hineingeworfen, der für die Akteure erst einmal nicht ohne weiteres zu überblicken ist.

Klez.e ist so eine Band, die sich in solchen Strukturen entwickelte und arbeitet. Beheimatet bei dem Kleinstlabel Loob Musik, führen die Wurzeln zurück zur Garage Pankow, einem Jugendclub, der in dieser Form nicht mehr existiert. Intensive Kontakte beispielsweise zum Label Sinnbus ließen ein engmaschiges Netzwerk entstehen, dessen kreativer Output von Bands wie Delbo, Seidenmatt oder Kate Mosh auch außerhalb dieser Kreise immer mehr Aufmerksamkeit erzeugt.

Am 18. August werden Klez.e ihr zweites Album namens "Flimmern" veröffentlichen. Das erste trug den Namen "Leben Daneben", minimalistisch aber klar muten die Titel an. Deutlich weniger klar hingegen ist der Bandname, welcher bei der Schreibweise und Aussprache Probleme bereitet, doch Sänger Tobias Siebert und Gitarrist Christian Schöfer klären auf, was es mit dem Namen auf sich hat: „Wir haben es bewusst schwer gemacht, damit die Leute nicht wissen, wie man den Namen ausspricht, wie man ihn korrekt schreibt. Klez.e ist ein Computervirus, den ich auch mal hatte, den gibt es durchbuchstabiert von a bis e; eine englische Bezeichnung. Es zieht sich auch ein bisschen wie ein roter Faden durch den textlichen Kram, den wir so machen.

Ein Computervirus lässt Menschen ja tendenziell eher hilflos gegenüber dem technischen Minimonster PC zurück, verbunden mit dem starken Gefühl von Ohnmacht.
Natürlich ist da auch häufig ein wesentliches Stück Ohnmacht in unseren Texten zu finden, aber das ist ja nichts statisches, Zustände sind ja veränderbar. Die Texte sollen auch keinen dazu bewegen, diesen Blickwinkel zu übernehmen, es gibt kein 'wir sagen es und Ihr müsst es machen' oder 'so ist es und nicht anders', eher so ein kleiner Denkanstoß. Es sind Dinge, die mich persönlich treffen, die passieren, wo ich meine Erfahrung und meine Sicht gerne weitergebe.

Sind die Texte denn sinnstiftend für die Band oder werden musikalische und lyrische Ebene von euch eher getrennt betrachtet?
Für mich ist das ganze schon ein Ding, obwohl der Gesang bei uns ja auch als Instrument verstanden wird. Aber Text und Musik hängen schon sehr stark zusammen, wenn wir ein Stück entwickeln, baut der Text sehr stark auf die musikalische Gefühlsebene auf. Vielleicht ist die Musik auch deshalb ein besonderer Spiegel unserer jeweiligen Stimmung und unseres Lebensgefühls. Wir spielen die Songs ja auch alle gemeinsam mit demselben Gefühl.

Du singst in einem sehr englischen Style, die Texte sind aber deutsch. Das Thema deutsche Sprache in der Popmusik ist ja in den letzten Monaten / Jahren immer wieder hoch gekocht worden. Ist das für dich von Relevanz?
Eigentlich spielen äußere Einflüsse da überhaupt keine Rolle. Zum einen spreche ich nur sehr schlecht Englisch. Es ist natürlich immer blöd diese Antwort zu geben, anstatt es endlich zu lernen. Zum anderen ist Deutsch die Sprache, in der ich mich am besten mitteilen kann. Es ist für mich auch eine Herausforderung dieser Sprache einen neuen Klang zu geben. Es gibt Leute die sagen, dass sie erst beim dritten Mal hinhören erkannt haben, dass ich auf Deutsch singe. Ich habe ja eine recht hohe Stimme, damit spiele ich dann auch gerne.

Aber welche Rolle spielt das Umfeld nun eigentlich? Sind die Strukturen ein entscheidender Faktor, oder wäre die Band Klez.e auch als solitär, ohne dieses starke Netzwerk denkbar?
Das Umfeld ist total wichtig. Es sind Freunde, die uns helfen, denen wir helfen, also ein Netzwerk. Das Inhaltliche ergibt sich aus Bekanntschaften/Freundschaften, es sind keine Geschäftsbeziehungen. Man kennt manche Leute seit man 17 ist, andere sind später dazugekommen. Es ist zusammengewachsen was zusammengehört. Der Erfahrungsaustausch spielt eine große Rolle, aber es wäre auch ohne all das möglich. Es gibt ja viele Bands, die vom Dorf kommen, die nicht so sehr in Städten stattfinden. Da haben es manche schon durchaus weit gebracht.

Ihr werdet ja jetzt von Universal vertrieben. Hat sich da irgendeine Veränderung ergeben, eventuell größerer Druck oder eine veränderte Erwartungshaltung?
Das Label ist ja geblieben, mit dem neuen Vertrieb hat sich außer der besseren Verteilung eigentlich nichts verändert. Es bestimmt weiterhin das Label - und somit wir - was gemacht wird und wie es gemacht wird. Bei dem neuen Delbo-Album haben wir auch schon gemerkt, dass es mit dem neuen Vertrieb gut läuft, dass die Platte in den relevanten Läden steht. Die Vinylversion machen wir aber über Broken Silence, d.h. es werden auch viele kleine Plattenläden erreicht. In jedem Fall ist es auch ein Fortschritt im Vergleich zu unserem alten Vertrieb. Aber wie gut alles funktioniert, hängt wohl weniger von der Industrie ab als von der Band. Wir arbeiten noch in derselben Weise wie schon bei der letzten Platte, wir kleben unsere Cover immer noch selbst alle einzeln.

Wie wichtig ist euch dabei der Aspekt, volle Kontrolle über die Vorgänge zu haben, welche die Band betrifft?
Volle Kontrolle ist ein bisschen hart ausgedrückt, aber wir haben meistens eine ziemlich genaue Vorstellung was wir wollen, ob es da um das Album, Artwork oder Videos geht. Das endet damit, dass wir alles selber machen müssen. Für uns spielt z.B. die Coverform eine große Rolle, das ist natürlich immer recht aufwendig. Das neue Album wird da ziemlich aufwendig, mehr als nur ein normaler DigiPak. Eine Druckerei würde das so wahrscheinlich nicht zusammenbauen. Wir müssen da selber noch Hand anlegen, damit es so wird wie wir es uns wünschen. Wir machen es uns einfach immer so kompliziert, dass wir dann sehr viel Arbeit haben. Dafür ist es dann auch schön, wenn das Album fertig ist und wir sagen können: Ja, super! Wenn auch nicht alles 100%ig perfekt gefaltet oder gestanzt ist, wir haben einfach selbst Hand angelegt."
foto: klez.e


klez.e

weiterlesen...

Sonntag Nachmittag [Juni 2006]













fotos: manuel kaufmann

weiterlesen...