Mit [Coda]

Ein Oxymoron ist eine rhetorische Figur, die zwei gegensätzliche oder sich scheinbar ausschließende Wörter oder Begriffe miteinander verbindet und in einen neuen Begriffszusammenhang setzt. Als Beispielsatz soll gelten: „Die frenetisch gefeierten MIT sind zurück, mit ihrem ersten Album „Coda". Nun ja, der Widerspruch liegt klar sichtbar auf der Hand: Wie kann eine Band mit ihrem ersten Album zurückkehren?

"nirgendwo kein stück blau, wir werden neu gebaut."
(gebaut)

In der deutschen Fachpresse war schon viel zu hören, noch bevor die Aufnahmen zu "Coda" überhaupt begannen. Schon anlässlich der 2006er EP "Deine Eltern" wurde den Köln-Berlin-Pendlern Edi (Vocals, Bass), Tamer (Moog) und Felix (Drums) schon die Möglichkeit einer baldigen Titelgeschichte in der INTRO vor Augen geführt. Einzige Bedingungen: Sie sollten sich mit dem Album Zeit lassen und in aller Ruhe Songs schreiben.. Im Winter nach New Rave hat das Warten ein Ende: MIT veröffentlichen mit "Coda" ihr erstes Album, fernab der gängigen Electro-Referenzbands und mit einer sprachlichen Tiefe, die vergeblich ihresgleichen sucht.

Warum hat es mit "Coda" so lange gedauert? Wolltet ihr alles richtig machen oder habt ihr einfach auf den richtigen Moment gewartet.
Tamer: "Da wir immer viel unterwegs waren, hatten wir nie die Zeit uns Gedanken über ein Album zu machen. Man kann schon sagen, dass wir es ein wenig vor uns her geschoben haben. Als wir dann letztes Jahr in die Gewölbe des Kölner Hauptbahnhofs eingeschlossen wurden entstand 'Coda'".

Eure Musik ist relativ ortsungebunden: man liest viel von euch in englischen Blogs, außerdem habt ihr in Japan bereits ein Album veröffentlicht. Hattet ihr nicht Angst, dass ihr im Ausland auf taube Ohren stoßen würdet?
"Da wir nie beabsichtigt haben ins Ausland zu gehen, hatten wir keine Erwartungen. Wir waren natürlich schon sehr erschrocken als erste Anfragen aus England kamen und wir das erste Mal (2 Monate nach Bandgründung) dort spielen sollten. Jetzt ist es so, dass wir regelmäßig in England spielen und wir schnell gemerkt haben, dass wir uns nicht auf Deutschland beschränken wollen."

Wie ist das Label in Japan eigentlich auf euch aufmerksam geworden? War das wieder dieses kosmopolitische Myspace-Phänomen: 'Ey, eure Musik klingt spitze, kommt doch mal vorbei und spielt in einem unserer Clubs und wir sorgen dafür, dass man euch auch zuhört?'
"Vor ungefähr einem Jahr hatten wir eine E-Mail vom unserem Bekannten und sehr geschätzen Label rallye/Klee aus Japan im Postfach. Es ging um ein Album-Release in Japan. Natürlich stimmten wir sofort zu."

Der erste Durchlauf von "Coda" erzeugte bei mir auf der einen Seite ein warmes Wohlbefinden im Ohr, aber gleichzeitig hatte sich im Gegensatz zu den EPs auch so viel verändert. Ist das nach all der Aufregung eine große Verweigerungshaltung à la Von Spar oder eher eine längst fällige Weiterentwicklung eures musikalischen Ansatzes?
"'Coda' ist für uns der Stand der Dinge. Als wir im Sommer anfingen das Album zu schreiben war uns schnell klar, dass wir keine Lust mehr hatten für uns alte Songs weiterzuführen. Das war nie unsere Idee. Wir haben bisher immer so gearbeitet. Man muss sich von Dingen lösen können. Wir hören uns jetzt eben anders an als vor 2 Jahren. Komisch, dass es verwundert. Wir tragen auch nicht zwei Jahre dieselben Hosen."

Wie wichtig sind Brüche oder Veränderungen in eurem musikalischen Schaffen?
"Brüche bedeuten mir nicht viel. Wenn man sich entscheidet, die Musik zu verändern, passiert es eben. Es geht ja noch immer um uns: Edi, Tamer und Felix. 2008 ist 'Coda' und 2009 ist 'Coda' vielleicht schon alt."

Wie sehr definiert ihr euch über eure Texte?
"Texte sind für uns Mittel zum Zweck. Wir haben schon früh gemerkt, dass wir die Stimme als Instrument nutzen wollen. Thematisch gibt es sicherlich einen bestimmten Rahmen in dem wir uns bewegen."

Und diesen Rahmen gibt es mit Sicherheit. Thematisch erzählt "Coda" in vielerlei Hinsicht von der Großstadt und ihren Menschen. In kleinen Worthülsen spiegelt sich so alles Gelebte wieder: von der schieren Unmöglichkeit der Möglichkeiten, bis hin zu dem Gefühl der Zeitlosigkeit des urbanen Lebens. Und obwohl Tamer von MIT das Stadtleben als "unser Leben" bezeichnet – als Sinnbild des Gegebenen – so schwingt dennoch eine klare Widersprüchlichkeit in den Worten Edis. Ein Widerspruch zwischen dem Verdruss und der Auflehnung des Einzelnen. Diese Gegensätze finden sich in nahezu jedem Song auf "Coda". Während in Park und Genau An Diesem Abend von Menschen die Rede ist, die halbverloren in Straßen und Clubs umherirren, weist Edi in Gebaut sogar auf einen Individualitätsverlust hin: "nirgendwo kein Stück blau, wir werden neu gebaut". Im Laufe des Albums verfestigen sich diese Ansätze zu einem bunten Flickenteppich von Stadtimpressionen. Es scheint sogar, als ob die Stadt zum eigentlichen Protagonisten von "Coda" wird.

Doch vielleicht ist das zu viel des Guten, zu viel Beiwerk, zu viel Interpretation. Was bleibt ist "Coda": ein wirklich ausgereifter Erstling, der gleichzeitig viel gibt und doch nicht viel verlangt. MIT haben alles richtig gemacht und legen so mal eben frei aus der Hüfte die Messlatte für intelligente elektronische Musik ein wenig höher.
foto: lukas hoffmann



mit
"coda"
haute areal 2008 cd
mit

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Sonntag Nachmittag [März 2008]










fotos: manuel kaufmann

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Ton [Wir Haben Die Zeit Sie Uns Zu Nehmen]

Tobias war früher mal ein Wohlstandskind, trifft dann Philipp trifft Christoph und alle drei machen ein Album, das das Leben erzählt und vom Leben erzählt wird.


"für einen neuen anfang ist es nie zu spät."
(ich bin bereit)

Ich kenne die Faust, die in diesem Moment nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt ist. Die einzige Form der Verteidigung, die mir bleibt, sind die Bartstoppeln, die in der kurzen Zeit zwischen der Rasur heute Morgen und jetzt gewachsen sind und nun wie die letzte Krieger auf einem längst verloren gegangenen Schlachtfeld stehen, um wenigstens mit Würde unterzugehen. Für den Bruchteil einer Sekunde kann ich sogar die weißen Knöchel der Faust meines Gegenübers erkennen, die sich in dieser Mischung aus Wut und Verzweiflung so fest zusammenpressen, dass an Blut in den Adern nicht zu denken ist. Dabei wollte ich es so. Es war meine Entscheidung und obwohl ich nur zu gut weiß, wie sich die nächsten Minuten anfühlen werden, merke ich wie die Endorphine in mein Blut schießen. Nach so vielen Jahren Stillstand mein erster Schritt nach vorne in's Leben.

Rückblick bitte, zurück zu meinem Geburtstag vor wenigen Wochen. Ich wollte nicht feiern, denn wozu soll man ein weiteres Jahr begießen, in dem man nichts erreicht hat und im Grunde genommen war mir vollkommen egal was passiert, als ich an diesem Morgen in der Wohnung von Stefan und mir aufwachte. Egal war mir auch, dass es übertrieben ist, sowohl von Morgen als auch von Wohnung zu sprechen. Stefan und ich hatten vom Sozialamt ein Plattenbauzimmer zugewiesen bekommen. Mieser Geruch, undichte Fenster, Schimmel in den Ecken vom schlechten Lüften, aber wenigstens einen Platz für Matratzen und die Stereo-Anlage, die wir vor einigen Monaten im Sperrmüll gefunden hatten. Wir lebten die Geschichte, die in den 90ern jeder Punk als Lebenslauf angab, aber es bis zum Schluss keiner wirklich durchgehalten hat: Haare gefärbt, Ausbildung abgebrochen, von zu Hause rausgeschmissen worden, Steine geschmissen, Anarchie, Rebellion, Alkohol, Straßenleben.

Stefan hieß zu dieser Zeit noch Grütze, doch heute steht auf den Briefumschlägen vom Arbeitsamt nur Herr Schneider als Empfänger. Von der damaligen Zeit ist nichts mehr geblieben. Das klingt jetzt wie Altenheim, Opa denkt noch einmal an die guten alten Tage, doch wenn man es so sieht, hatten wir erst gar keine guten Tage.

Grütze, also Stefan, stört das nicht. Er liebt es wie wir wohnen und leben. "Ist doch knorke, quasi der Höhepunkt unseres Lebens", gibt er immer lauthals zu Wort und verschweigt, dass er sich das alles auch irgendwie anders gedacht hat. Wir lernten uns damals bei der Ausbildung im Hotel Sternlieg kennen: Berufsziel Koch. Stefan hatte Talent und hätte es zu etwas bringen können, aber dann erfuhr er, dass ihn seine Freundin mit Thomas, unserem Ausbildungsleiter, betrogen hatte und drehte durch: Faust und Gesicht, in der Ausbildung eine unpassende Kombination. Natürlich wurde ihm fristlos gekündigt und Stefan lernte die Punk-Musik zu schätzen, die ihm in dieser Zeit den Hass auf die Welt erklären konnte: Slime, Daily Terror, Razzia, und alles, was sonst damals noch einen Namen hatte. Vielleicht war mein Fehler damals, dass ich dachte, ich könnte Stefan noch zur Vernunft bringen, denn auf einmal stand ich selber mit Nieten-Lederjacke und grün-rot gefärbtem Irokesen auf den Konzerten. Die Ausbildung ließ ich schleifen, weil man eh keinen Teil dieses "Scheißsystems" werden wollte und nach ein paar Wochen wurde auch mein Vertrag fristlos gekündigt.

Nun sitze ich an meinem Geburtstag auf der Matratze in unserem Höhepunkt-des-Lebens-Zimmer, neben mir hockt meine Freundin Jenny und wartet gespannt darauf, dass ich ihr Geschenk auspacke. Jenny ist klasse, sie ist Studentin und mein gutes Gewissen, quasi. Wir haben uns damals in der S-Bahn kennengelernt, als Stefan betrunken rumgepöbelt hat und sie die Einzige war, die sich ihm in den Weg stellte. Ich fand es beeindruckend, denn so etwas hätte ich mich nicht getraut. Irgendwie kamen wir dann ins Gespräch und ein paar Verabredungen später waren wir zusammen. Natürlich ist sie Stefan ein Dorn im Auge, weil sie seine Machtspiele durchschaut, aber er erträgt es, unserer Freundschaft wegen.

"Jetzt mach doch schon. Pack es endlich aus!", stichelt sie von der Seite und reißt mich aus den Gedanken. "Ist ja gut", murre ich zurück und öffnet das rot-weiß gestreifte Geschenkpapier. Es ist eine CD und ich muss lächeln, denn ich mag es, wenn Leute mir Musik schenken und sie weiß es auch. Ton - "Wir haben die Zeit sie uns zu nehmen" steht auf dem Cover, das geziert ist von drei Herren in einem Landschaftspanorama der etwas gefühlsdrückenden Art. Ich gebe Jenny schnell einen Kuss, schmeiße die Platte sofort in die Stereo-Anlage und begrüße die ersten Worte, die mir aus den alten Boxen entgegen schallen: "Ich fühl mich wie Altpapier, beschrieben und doch nicht mehr für irgendetwas gut". Ich blicke zu Stefan, der sofort die Miene verzieht und im selben Moment erschrocken die Augen öffnet: "Moment mal. Jetzt weiß ich auch, woher ich die Stimme kenne. Das ist doch der Sänger von den...ach, wie heißen die noch? Diese Pop-Punk-Scheiße damals. Moment. Wohlstandskinder. Ja, genau. Das ist der Sänger von den Wohlstandskindern!" Während Stefan dies sagt, fällt mir auch auf, dass es Tobias Röger ist, der dort in den Boxen sitzt und ich laufe zu Jenny, um sie zu umarmen. Während einer unserer ersten Verabredungen hatte ich in einem Plattenladen mal erwähnt, dass ich die Wohlstandskinder mag und vermissen würde, seit sie sich 2005 getrennt haben, denn damals haben mir Songs wie Die Gedanken sind frei und Klischee eine gesunde Alternativen zum öden Anarchie-Punk-Haushalt geboten. Doch das Wichtigste ist, dass sie sich an das alles erinnert hat.

"Das Geheule kann sich doch keiner anhören. Ich bin mal raus, bis später", höre ich Stefan sagen und danach nur noch die Tür ins Schloss fallen. Jenny und ich haben uns unterdessen auf die Matratze gelegt und reden, während sie mit dem Kopf auf meiner Brust liegt und die CD ein zweites Mal in der Anlage rotiert. Wir reden einfach nur, über meinen Geburtstag, mein Leben, ihr Leben, ihr Studium und die Musik. Sie erklärt mir, dass Ton nicht nur Tobias Röger von den Wohlstandskindern ist, sondern er mit seinen alten Freunden Philipp Kostka am Bass und Christoph Zipper am Schlagzeug dieses Album aufgenommen hat. Sie hat im Plattenladen direkt an mich denken müssen, als sie es sah und ihr gefällt es dazu noch. Mir auch. Es hat zwar alles einen melancholischen und pathetischen Beigeschmack, Hamburger würden es wahrscheinlich sogar als befindlichkeitsfixiert betiteln, doch es ist ehrlich. Ich glaube jede Silbe, die Tobias Röger singt und das konnte ich lange bei keinem Sänger mehr.

Die nächsten zwei Wochen höre ich nur noch das Album, was Stefan komplett zur Weißglut bringt. "Was willst du eigentlich mit dieser Pop-Scheiße? Ok, das Lied, in dem er über Berlin singt, ist in Ordnung. Also das, wo er singt, dass er keine Lieder mehr über Berlin hören kann. Ist ja auch eine Drecksstadt. Ach, und dieses Angebot-Lied, in dem er die ganzen Kommerz-Werbesprüche aufzählt. Das geht auch, aber der Rest ist doch nur Gefühlsdreck", mault er rum, "wenn Du den Kram wenigstens hören würdest, um Jenny flachzulegen, wäre es ja in Ordnung, aber das will doch eh keiner". In dem Moment blicke ich ihn wütend an, hole die CD aus der Anlage, während die Zeilen "Ich finde es schade, dass du dich versteckst, hinter einer Fasse, wo dich kein Mensch entdeckt" noch für einen kurzen Moment in der Stille des Raumes stehen, greife meinen Rucksack und schlage die Tür mit einem "Arschloch" auf den Lippen hinter mir zu. "Es ist soweit. Du wirst es tun", murmel ich vor mich hin, während ich die letzten Stufen im Treppenhaus beinahe schon stolpernd hinter mich bringe. Jenny hat mich gefragt, ob wir zusammenziehen und ich habe bisher noch nichts Genaues dazu gesagt. Ich konnte es zu dem Zeitpunkt einfach noch nicht. Zu dick war die Seifenblase um mich herum gewesen, die in letzter Zeit immer dünner geworden und nun endgültig geplatzt ist. Endlich fühle ich mich bereit dazu. Doch kurz bevor ich die Bushaltestelle erreiche, packt mich eine Hand an der Schulter und reißt mich herum. Stefan steht mit hochrotem Kopf und pulsierender Halsschlagader vor mir. "Ey, Arschloch! Was denkst du eigentlich, wo du hin willst? Verkriechst du dich zu deiner Schlampe?", brüllt er mir entgegen. Ich weiche einen Moment zurück, fasse mich jedoch wieder und nehme den Mut zusammen, den mir der Blick auf die Zukunft endlich wieder macht: "Lass es bleiben, Stefan. Du hast mich schon zu lange vom Leben abgehalten und Jenny hat es endlich geschafft, dass ich das auch einsehe. Punk IS dead und unsere Freundschaft auch!"

Wäre das hier ein Film, müsste es nun einen ultramodernen Schnittmoment geben und alles zum Anfang dieser Geschichte zurückgedreht werden, während man sieht wie Stefan die Wut überkommt, er die Fäuste ballt, zuschlägt und leise im Hintergrund meine anfänglichen Worte zu hören sind. Doch dies ist kein Film und leider läuft alles schneller ab, als ich es mir gewünscht hätte.

Stefans Faust trifft mich mitten ins Gesicht und obwohl ich merke, wie meine Beine schwach werden und mein Körper für einen Moment aufhört dagegen anzukämpfen, habe ich nur Tobias Rögers Gesang im Ohr: "Bereit für ein neues Leben, bereit für ein den neuen Start. Ich bin bereit zu fliegen, nur der Aufprall wird hart". Und was macht schon ein harter Aufprall aus, wenn das gute Leben endlich an die Tür geklopft hat...
foto: ton



ton
"wir haben die zeit sie uns zu nehmen"
bonnboommusic 2008 cd
ton

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