Edgar Wright [Shaun Of The Dead]

Videospiele, Musik, Bier und was zum Knabbern.
Das in England hoch gelobte Komiker Duo Simon Pegg und Nick Frost durchleben in ihrem ersten Kinofilm die Monotonie zwei britischer Vorstädter. Mit Zombies.


"sind zombies da draußen? - sag das nicht. - warum nicht? - weil das lächerlich klingt!"
(ed und shaun)

Das Horrorgenre ist eine ambivalente Facette der in Filmen behandelten Thematiken, welche dazu führt, dass Zuschauer einerseits wenig Verständnis für die selten tiefgängigen, dafür jedoch blutüberströmten Gräueltaten aufbringen können, während Fans die Zeitlupentaste an der Fernbedienung malträtieren, um sich die aufwendigsten Szenen wieder und wieder im Detail zu betrachten. Von den frühen Siebzigern bis in die Mitte der Achtziger Jahre etablierte sich der Horrorfilm mit all seinen Subgenres in den Kinos, meist getragen von morbiden Massenmördern wie Freddy Krüger, Jason Voorhees oder Michael Myers, oder der allgemeinen Hysterie durch apokalyptische Szenarien mit auferstandenen Untoten.

"Shaun Of The Dead", bereits der Titel eine Hommage an den New Yorker Horrorfilmer George Romero und seinem Klassiker "Dawn Of The Dead", greift die Zombiethematik auf, transportiert sie in die Londoner Gegenwart und verquickt sie mit einer romantischen Komödie. Der Plot als solcher, genrebedingt wenig tief greifend in seinem Zusammenhang, ist schnell erzählt: Shaun (brillant besetzt durch Co-Drehbuchautor Simon Pegg), ein Endzwanziger und frustrierter Angestellter einer Elektrofirma, lebt in einer WG mit seinem übergewichtigen, rüpelhaften, videospielenden Freund Ed (Nick Frost), und vertreibt sich die Zeit lieber in einem Pub, als mit seiner Freundin Liz (Kate Ashfield) auszugehen, was dazu führt, dass sie sich von ihm trennt. Parallel dazu steigen die Toten aus den Gräbern, und die Stadt füllt sich mit Zombies. Shaun gliedert seine Ziele in drei Punkte, die den restlichen Film über versucht werden in die Tat umzusetzen: seiner Mutter nachträglich zum Muttertag Blumen überreichen und nebenbei seinen verhassten, von einem Zombie gebissenen Stiefvater (hervorragend: Bill Nighy) töten, Liz zurück erobern und sein Leben als Konsequenz daraus in den Griff bekommen.

Die einfache Story wird ganz klar durch das Zusammenspiel von Shaun und Ed getragen, die dem Film seine besten Momente immer dann bescheren, wenn die Kamera die beiden fokussiert, und sie einfach spielen lässt. Das ungleiche Paar, ein wenig an Rob und den eigenbrötlerischen Barry aus Nick Hornbys "High Fidelity" erinnernd, begeistert durch das lakonische integrieren der Zombies als überdrüssige Alltags Farce in ihr Leben, und ihrem durch Videospiele, Musik und Fernsehen sozialisierten Gesellschaftszynismus. Die erfrischende Idee, die gesamte Thematik um das bekannte Schema mordender Untoter, in einen popkulturellen Zusammenhang zu bringen, zu beobachten, wie zwei Vorstadt Versager mit all ihrem, durch Horrorfilme gewonnenen Wissen über Zombies mit eben diesen umgehen, konnte von Regisseur Edgar Wright gut in Szene gesetzt werden, verliert jedoch immer dann, wenn die Beziehung zwischen Shaun und Liz in den Fordergrund treten soll, und ein herber Pathos ausgebreitet wird. Die slapstickartige und bisweilen sarkastisch bissige Komik des Films wird immer wieder durch eben diese flache, sich selbst zu ernst nehmende Gefühlsduselei ausgebremst.

Wie schon in Romeros "Dawn Of The Dead", wird auch in Wrights Film die, durch Arbeit und Konsum geprägte alltags Monotonie der Stadtbewohner kritisch beäugt, erscheinen doch bereits im Anfang des Filmes die Kassiererinnen, Fahrgäste oder Workaholics so leblos gleichgeschaltet wie Zombies. Auf die Spitze getrieben wird dieser Ansatz, wenn Shaun auf dem Weg zur Arbeit die Veränderung der Mitmenschen nicht realisiert. Es geht um Aufnahmebereitschaft und Filterung eines, durch mediale Reizüberflutung dekompensierten Geistes, der sich im Film darin äußert, dass Fernsehbildschirme zwar omnipräsent sind, und darin ständig die Mitteilungen über, aus den Gräbern aufsteigenden Untoten erscheinen, diese jedoch von den Protagonisten nicht wahrgenommen werden. Erst in einer wunderbar gefilmten Szene, in der Shaun vor dem Fernsehgerät durch die Kanäle zappt, und er die, durch das Umschalten zusammenhangslosen Aussagen der jeweils erscheinenden Sprecher auf dem Bildschirm für sich decodiert, nimmt er die vermeintliche Realität wahr.

In welchem Zusammenhang "Shaun Of The Dead" ohne Frage brilliert, ist seine Detailverliebtheit im Bezug auf die Klassiker des Horrorgenres. Wie ein berauschter Quentin Tarantino baut Wright Zitate und cineastische Anspielungen in seinen Film ein. Da springt Shaun einem Zombie von einem Trampolin aus entgegen, und man darf staunen, wie exakt die Szene aus Sam Raimis "Army Of Darkness" choreographiert und kameraperspektivisch synchronisiert wurde. Wenn Shaun seiner von der Zombieproblematik unerreichten Mutter mitzuteilen versucht, dass er sie zu Hause abholen wird, spricht Ed flegelhaft "Wir kommen dich holen, Barbara" ins Telefon, ein Satz, der ebenso schon in George Romeros "Night Of The Living Dead" fällt. Auch ein Nachrichtensprecher verliest seine Nachrichten im gleichen Wortlaut wie in besagtem Klassiker, und sogar der Hintergrund für das Auftauchen der Zombies, setzt auf den Horrorklassiker von 1968; eine abgestürzte Raumsonde ist, wenn auch wenig nachvollziehbar, in beiden Filmen Ursprung der apokalyptischen Ereignisse. Wright kopiert jedoch nicht nur Szenen, sondern diskutiert diese auch filmintern. Als Shaun und Ed sich darauf vorbereiten, den Zombies gegenüberzutreten, beharrt Shaun darauf, nicht das Wort Zombie für die Untoten zu benutzen, was darauf zurück zu führen ist, dass in vielen Zombieklassikern tatsächlich niemals der Begriff verwendet wird. Auch genrefremde Anspielungen werden in dem Low Budget Film aufgeführt, so erinnert das gegenseitige Bedrohen der Gruppe von Überlebenden um Shaun und Ed mit abgeschlagenen Bierflaschen, an den Mexican Stand Off aus Tarantinos "Reservoir Dogs", oder das rhythmisch choreographierte Einschlagen auf einen Zombie zu dem Queen Song Don’t Stop Me Now, an das brutale Erschlagen eines Obdachlosen in Kubriks "Clockwork Orange".

Dieser nerdige Umgang mit dem Genre schlägt natürlich keine Bresche für die Anfangs erwähnte erste Gruppe von Zuschauer, sondern führt vielmehr dazu, dass der Film eher erwähnte zweite Gruppe ansprechen wird, und diese mit einem lachenden Auge gut bedient. Dennoch funktioniert der Humor der Komödie auf verschiedenen Ebenen und ist dabei so subversiv wie bei den Simpsons; man benötigt das detaillierte Genrewissen nicht um die britischen Scherze zu verstehen, doch bieten sie dem erwähnten Fan ein buntes Panoptikum an zu entdeckenden Zitaten.
foto: universal


edgar wright
"shaun of the dead"
2004

weiterlesen...

Matt Stone, Trey Parker [Team America]

Zwischen politischer Partizipation und Punk Attitüde bewegt sich das opulente Marionetten Theater der South Park Rebellen Matt Stone und Trey Parker, welches in ihrer Heimat mehr Aufmerksamkeit erregte, als hierzulande vorstellbar wäre.


"hey terrorist! terrorize this!"
(sarah)

Die heroisch gefeierte Interventionspolitik des "Team America", dieses bereits im Untertitel ausgesprochenen Selbstverständnis der Vereinigten Staaten als World Police, sorgt für globale Stabilität in einer durch Terrorismus gepeinigten Zeit. Von dem, mit den amerikanischen Präsidenten Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln gezierten Mount Rushmore als Hauptquartier im patriotischen Herzen des Landes aus, starten die sechs amerikanischen Helden zu ihren paramilitärischen Einsätzen und hinterlassen ein, durch die Action Filme Hollywoods als Kollateralschäden deklassiertes Bild von Zerstörung. Gleich in den ersten Minuten des Films zerstört man zweckdienlich zum Schutz der Allgemeinheit vor Massenvernichtungswaffen eine handvoll Sehenswürdigkeiten in Paris, und stärkt das Bild des kulturlosen, oberflächlichen Amerikaners. Nach dem Tod eines Mitgliedes dieser Eliteeinsatztruppe, wird kurzerhand der Broadway Schauspieler Gary Johnston als verdeckter Ermittler in das Team integriert und in den Nahen Osten entsandt, um ein terroristisches Netzwerk zu unterwandern.

Dieses bedeutungsschwangere Jerry-Bruckheimer-Action-Epos wäre in all seinem patriotischen Pathos kaum eine Besprechung wert, wäre es nicht ein mit Marionetten arrangiertes Theater der beiden South Park Produzenten Matt Stone und Trey Parker. Mit detailverliebten, der Thunderbirds TV Serie aus den 60ern nachempfunden Puppen von Personen des öffentlichen Lebens, persiflieren die beiden den Action Film als solchen und den Krieg gegen den Terror im Speziellen auf ihre gewohnt politisch unkorrekte Herangehensweise.

Die grenzenlose, undifferenzierte Übertreibung jenes Amerikas, bei welchem nicht zuletzt durch den kalifornischen Gouverneur die Wirklichkeit Hollywoods immer wieder eine allgemeine Realität zu konstruieren scheint, wird in "Team America" zum Ziel der satirischen Ressentiments. Sei es nun der blinde Obrigkeitsgehorsam, welcher sich durch das bedingungslose Vertrauen auf einen Super Computer mit dem bezeichnenden Namen I.N.T.E.L.L.I.G.E.N.C.E. herausprägt, oder die Tatsache, dass man einen Super Schauspieler zum einzig möglichen Retter der Welt heraufbeschwört, der kurz zuvor bei der redundanten Aufführung eines Broadway Musicals mit dem Song Everyone Has Aids die Zuschauer zu Tränen rühren konnte. Im gleichen Zug wird jedoch auch die scheinbare Weltverbesserungsattitüde der liberalen Schauspieler Gilde, allen voran Alec Baldwin und Susan Sarandon, völlig undifferenziert verurteilt und der Bush Kritiker Michael Moore als fetter, hedonistischer Aktionistenzombie karikiert. Man geht sogar soweit, den geneigten Zuschauer selbst, mit seinem post-9/11 geprägten Stereotyp der Fremdenangst zu konfrontieren und somit eine Überdenkung der eigenen selektiven Wahrnehmung zu provozieren.

Gerade der anarchistische Umgang mit der Brisanz der im Film diskutierten Themen zeichnet die beiden Macher aus. Der Antiamerikanismus, welcher zurzeit vor allem in Europa dem Verkauf von Büchern und Filmen förderlich ist, verfolgt bisweilen nichts anderes als eine bekannte linke Propaganda, bei welcher die vorgestellten Argumente durch subversive Kommentare pointiert werden, und damit dem Rezipienten ein subjektives Bild etwa in Form von Pseudo-Dokumentar Filmen nahe gelegt wird. Im Gegensatz zu Agitator Michael Moore, beziehen die beiden South Park Schöpfer jedoch keine klare Stellung, sondern - ganz im Sinne des Punk – teilen sie ohne Grenzen aus, und fordern damit jedoch den für Stereotype empfänglichen Zuschauer zum eigenen Reflektieren der Geschehnisse auf. Dass diese Form der Partizipation natürlich äußerst fraglich ist und im Film nicht stets gelingen will, steht diesem und seinem satirisch anarchistischem Grundtonus jedoch nicht im Wege. Der politische Ansatz der beiden geht gegen Null, versteht man sie recht. "Wir sprechen für diejenigen, die George W. Bush für einen Idioten halten – und Michael Moore auch. Team America ist eine politische Satire, aber es geht weniger um Politik als um die Gefühle, die Amerika seit dem 11. September 2001 durchlebt. Es geht darum, wie es ist, Amerikaner zu sein, wenn Ausländer dir entgegenschleudern: 'Fuck you für das, was dein Land macht!' Es ist kein Argument für oder gegen etwas, sondern über Emotionen", erklären sie im Rolling Stone Interview. Emotionen also. Stone und Parker wissen in dieser Beziehung zu polarisieren.

Das Aufeinandertreffen des dilettantischen Marionettenspiels, bei welchem ganz bewusst die, gern auch metaphorisch zu betrachtenden Fäden, mit welchem die Akteure durch unsichtbare Hand geführt werden, nicht verheimlicht werden, auf der einen, und das detailaufwändige nachbereiten origineller Schau-plätze aus der gesamten Welt, und der pyrotechnisch brillanten Zerstörung eben dieser im Stile eines Jerry Bruckheimer Filmes auf der anderen, verleiht dem Film einen bislang ungesehenen Charme. Wenn das Zusammenkommen zweier Kontrahenten etwa ein, in ästhetischer Perfektion heraufbeschworenes, physisch aufwendiges Duell im Stile der Matrix Reihe erwarten lässt, spielt man ganz gezielt mit der unbeholfenen Bewegungseinschränkung der Marionetten, und lässt diese einen zeternden Schlagabtausch mit dem choreographischen Geschick eines Hahnenkampfes durchführen. Diese trashige Offensichtlichkeit, dieses Bestreben von Parker und Stone, den Zuschauer immer wieder auf den höl-zernen Boden der Tatsachen zurückzuholen, anstatt den zum Scheitern verurteilten Versuch zu starten, mit Hilfe der Marionetten den Eindruck einer realen Welt zu erschaffen, darf Team America als eine seiner Stärken gutgeschrieben werden. Den satirischen Höhepunkt stellt hierbei ohne jeden Zweifel die Szene dar, welche in den USA dazu führen sollte, den Film als Rated R einzustufen, und ihn somit für Jugendliche unter 17 Jahren nur in Begleitung eines Erwachsenen zugänglich zu machen; zwei Marionetten praktizieren Hardcore Sex in unzähligen Stellungen des Kamasutra, wobei der ungehinderte Blick auf die geschlechtslose Entblößung der Figuren jegliche Zensur ad absurdum führen dürfte. Hinzu kommt das satirische Gespür der beiden für den richtigen Einsatz von Musik. Sei es nun die Hymne des Teams selbst, ein arroganter achtziger Jahre Rocksong mit dem Titel America, Fuck Yeah!, die bereits erwähnte Broadway Musical Einlage Everybody Has Aids oder besonders das tragisch aufbereitete Liebeslied, bei welchem anstandslos mit Metaphern zu dem Michael Bay / Jerry Bruckheimer Film Pearl Harbor gespielt wird. ("I need you as much as Ben Affleck needs acting school").

Neben den hervorragenden und originellen, weil stets überraschenden Einfällen, wie dem Einsatz von echten Hauskatzen, die als Kim Jong-Ils Killerpanther auf das Eliteteam losgelassen werden, oder dem James Bond entliehenen Untergang des UN Waffeninspektors Hans Blix, welcher von einer unmoralischen Musicaldarbietung des nordkoreanischen Diktators begleitet wird, überwiegt in "Team America" die durch South Park etablierte derbe Sprache und der Fekalhumor. Die beim ersten betrachten außergewöhnlichen Ideen werden, analog zur erwähnten TV Serie, stets aufs neue heraufbeschworen, man bedient sich ein ums andere Mal bei den gleichen Klischees und am Ende verfährt man sich bei dem ziellosen Bestreben keine Meinung vertreten zu wollen. Team America glänzt mit seinen originellen Umsetzungen der Thematik mittels dieses unschuldigen Genres, ist auf die gesamte Spielfilmlänge jedoch durchzogen von immer öfter zu erwartenden Wendungen und flachen Momenten des Films, bei denen leider nicht das Gespür einer Gruppe wie Monty Python für die banalen sowie extraordinären Absurditäten der Welt hinter steht. Vielleicht wäre Team America als TV Serie besser Aufgehoben gewesen, bei welcher man sich in dem engeren Zeitrahmen der Episoden gezielter auf die aufgeführten Stärken hätte besinnen können.
foto:
paramount


matt stone, trey parker
"team america"
2004

weiterlesen...

The Dresden Dolls [Frankfurt Am Main, 30.11.2004]

Der Musik das Leben eingehaucht.
Mehr als nur die Summe ihrer Einflüsse präsentieren die Dresden Dolls auf der Bühne. Ein Konzert von bestechender Präsenz und Verbundenheit mit der Musik.



"i'm on fire."
(amanda palmer)

Bereits im September beehrten die Dresden Dolls Deutschland mit vier Konzerten. Wer sich kurzfristig entschloss, ein Konzert zu besuchen, lief Gefahr, vor den Türen der ausverkauften Clubs abgewiesen zu werden. Bei der zweiten Europatour dieses Jahr gab es erneut zwei Mal die Möglichkeit, das Bostoner Duo hierzulande live zu erleben. Das Pop and Glow im ehemaligen Frankfurter English Theatre ist mit rund 350 Leuten zwar nicht ausverkauft, aber gerade angenehm gefüllt, um weder Platzängste noch Einsamkeitsgefühle aufkommen zu lassen. Nicht unge-wöhnlich, ist Frankfurt doch nicht gerade für seine große Indieszene bekannt, welche schon aufgrund eines bei Fast Forward gespielten Videos in Scharen zu einem Konzert selbiger Band pilgern würde, wie eben im September geschehen. So differenziert sich bei diesem Konzert das Publikum angenehm in Seitenscheitelträger und Normalos, Dark-Waver und Banker. Und es ist auch der richtige Ort für solch ein atmosphärisches Konzert. Der Saal ist in tiefem Rot gehalten und mit Teppichboden ausgelegt, in kleinen Stufen leicht ansteigend.

Auf Amanda Palmers E-Piano müsste eigentlich der Name des amerikanischen Keyboardherstellers Kurzweil stehen. Doch durch Überkleben wurde daraus kurzerhand ein Kurtweill. Eine Referenz die Sinn macht, ist Kurt Weill doch der wichtigste musikalische Fixstern im Mikrokosmos der Dresden Dolls. Dieser speist sich aus dem Chanson und Kabarett der zwanziger Jahre, dunkler Gothic-Ästhetik und rotziger Punk-Attitüde. Es ist jedoch kein beliebig zusammen gewürfeltes Konglomerat, sondern vielmehr hervorragend abgestimmte Vielschichtigkeit, eine Art Variete, in dem verschiedene Einflüsse zu einem großartigen Bildnis verschmelzen. Die Gesichter der Beiden sind in grellem Weiß geschminkt, aufgesetzte Masken, die besonders dem Schlagzeuger Brian Viglione eine harlekineske Erscheinung geben. Gestützt wird dies durch seine Melone, ein weißes Hemd und schwarze Shorts. Er scheint hinter seinem Drumset eine kleine Zirkusvorstellung zu geben, mit weit ausholenden Bewegungen gibt er seinem Spiel Raum, er schlägt auf sein Schlagzeug ein oder streichelt es sanft, alles mit überdeutlicher Gestik nachgezeichnet. Jede seiner Bewegungen wirkt mechanisch, sein Gesicht verzieht sich immer wieder einem Pantomimenspiel gleich auf unterschiedlichste Art und Weise, er scheint sich gar in den besungenen Coin-Operated Boy verwandelt zu haben und so mit dem Publikum zu kommunizieren.

Amanda Palmer ist von eher kabarettistisch-anzüglicher Gestalt. Mit Ringelstrapse und kurzem schwarzem Kleid bekleidet beweist sie, wie unglaublich kräftig und variabel ihre Stimme ist. Sie ist das kleine Mädchen, dass mal bittend mal kreischend Aufmerksamkeit begehrt. Gleichzeitig ist sie das bestimmende Element, sie lässt Brian nach ihrer Pfeife tanzen, er scheint folgsam ihre Anweisungen auszuführen. Doch auch musikalisch ist sie das bestimmende Element, er orientiert sich immer wieder an ihrem filigranen Pianospiel. Vom ersten Moment an versprüht das Duo auf der Bühne eine magische Energie, die Atmosphäre ist vom ersten Akkord an angespannt, Good Day ist wie auch auf dem selbstbetitelten Album die Einführung in die Welt der Dresden Dolls. Dessen musikalische Umsetzung auf der Bühne lässt überzeugen. Eine fast schon unheimliche Dynamik lässt die Songs zum Leben erwecken, Amanda und Brian pushen sich gegenseitig und verlieren sich in der Musik. Ihre Stärke ist das absolute Verbundensein mit ihrer Musik, sie machen keine Kunst, sondern erwecken diese zum Leben. Das Publikum dankt es immer wieder mit frenetischem Applaus und vollkommener Stille während den Stücken. Die Atmosphäre ist völlig zerbrechlich, ein einziges gesprochenes Wort wäre wie eine in tausend Scherben zerberstende Flasche.

Doch auch Kurt Weill und Bertolt Brecht wird explizit mit dem in Deutsch vorgetragenen Und was bekam des Soldaten Weib gehuldigt. Hier offenbaren sich Amandas Deutsch-Kenntnisse, von denen sie behauptet, "sie seien im Arsch". Der erste Coversong des Abends versetzt das Publikum allerdings deutlich mehr in Erstaunen, Warpigs von Black Sabbath wird dem amerikanischen Präsidenten gewidmet und in einer Version vorgetragen, die Tote auferstehen lassen könnte. Gegen Ende wird ein kleines Akustikset mit Brian an der Gitarre gespielt, mit einer großartigen Version des Jaques Brel-Klassikers Amsterdam, verzückend und spielerisch leicht verabschieden sich die Beiden, werden vom Publikum jedoch zwei Mal eindringlich wieder auf die Bühne gebeten und scheinen ob der großen Zustimmung verwundert zu sein. Doch das Publikum hat verstanden, was für eine Show hier gespielt wird, seine Rolle nur allzu gerne übernommen und hervorragend gespielt. So wurde dieses kongeniale Duo in der Bühnenversion um einen wesentlichen Part erweitert.
foto: olav karlsson


weiterlesen...

Astird Vits [Du Und Viele Von Deinen Freunden]

Musikalische Betrachtungen unter dem Sujet deutsch.
Astrid Vits reiste ein halbes Jahr durch die Republik, um sich einen Überblick über die deutsche Popmusikszene zu verschaffen, und 34 Bands und Musiker im Interviewformat vorzustellen.


"das plattenfach deutschsprachige musik ist langweilig. zum großen teil ist da nur mist drin."
(knarf rellöm)

Nicht zuletzt aufgrund der Diskussion um die Radioquote ist deutschsprachige Musik, zumindest in Deutschland produzierte Musik, zur Zeit so präsent wie vor zwanzig Jahren das letzte Mal, als das, was man die Neue Deutsche Welle nannte, durch die Radiostationen und nicht zuletzt über die Mattscheiben in deutschen Wohnzimmern flimmerte. Zu diesem denkbar guten Zeitpunkt erscheint im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag ein Buch, welches sich einer großen Auswahl eben dieser Bands widmet. Jongliert der Pressetext im Bezug auf die Zielgruppe noch schwerfällig mit Wortkonglomeraten wie hauptberufliche Jugendversteher, Jugendverstehenwoller und Berufsjugendliche, fasst die Autorin ihre Intentionen zu dem Buch schlichter zusammen; eine Art Nachschlagewerk für alle Musikinteressierten mit einer Mischung aus Information und Unterhaltung sollte entstehen. "Ich habe während des Jahres 2003 genau diese Beobachtung gemacht, dass das Interesse in Deutschland zur Zeit wieder sehr stark auf Musik aus dem eigenen Land liegt - und ich habe vermutet, dass das auch noch stärker wird. Dieses Phänomen wollte ich mir also genauer angucken."

Mit dem Buch "Du Und Viele Von Deinen Freunden" - zunächst ein, an die Debütplatte der Band Kettcar angelehnter Arbeitstitel, welcher sich im Laufe der Arbeit etablieren sollte - debütiert die junge Journalistin Astrid Vits, und widmet sich deutscher Populärmusik in einem über 500 Seiten starken Werk, welches sich maßgeblich, neben Kurzbiografien und Diskographien, aus Interviews mit 34 Bands aus der Indierock und Elektronik Szene zusammenstellt. Die persönliche Auswahl der Musiker umfasst einen charmanten Teil des deutschen Indie Universums der Post Hamburger Schule Ära und spart bewusst die aktuelle, deutschsprachige Major Offensive aus. Lediglich Wir Sind Helden und die Sportfreunde Stiller haben genügend mediale Präsenz, um auch bei weniger Involvierten den nötigen Wiedererkennungswert hervorzurufen. "Ich teile die Meinung einiger Musiker, dass sich das, was derzeit 'Trend' ist, festigen wird. Es werden nicht alle Bands, die gerade gefragt sind, auch noch in fünf Jahren so gefragt sein wie heute, aber hoffentlich werden sich ein paar durchsetzen und die Musikkultur in Deutschland mitbestimmen."

Kleinster gemeinsamer Nenner der ausgewählten Musiker in Du Und Viele Von Deinen Freunden ist also deutsch. Als Standort, nicht als Patriotismus Farce. (Ist das ein Unterschied? Anm. d. Tippse) Ein neuer Ansatz der derzeitig gern für immer neue Sampler Ideen und Corporate Identity Gefühle aufgegriffen wird, und als Katalysator für ein neues identitätsstiftendes National Gefühl missbraucht wird. Thees Uhlmann kritisiert im Buch diese vermeintlich neue Bewegung zu Recht als kleingeistig, wenn die Musik unter die Sprache gestellt wird. Auch Knarf Rellöm diskutiert diesen Ansatz, und bespricht den Hintergrund, weshalb sich Tocotronic und Blumfeld für das Buch unter dem angegebenen Thema verweigert haben. Glücklicherweise kommt einem beim Lesen dieses burleske Gefühl der Deutschtümelei nicht ernsthaft in den Sinn, vor allem, da mit Lali Puna oder eben auch Knarf Rellöm Musiker vertreten sind, die nicht recht in den Klischeeansatz hineinpassen wollen.

Astrid Vits begegnet den Musikern mit einer freundlichen Geste und obligatem Sekt, weiht uns durch stets dokumentierte Speisen und Getränke vor jedem Interview in die Atmosphäre ein, und setzt sich gänzlich unverkrampft mit den Musikern auseinander. Im Verlauf der zum Teil sehr persönlichen Gespräche gelingt es ihr, die Musiker selbstreflektorisch in einen alltäglichen gesellschaftlichen Bezug zu setzen. "Die Idee des Buches war es, soviel wie möglich über Musik und Musiker zu erfahren - aus allen möglichen Bereichen", erklärt die Autorin. Vornehmlich durch ihren zurückhaltenden, beobachtenden Charakter weiß Astrid Vits sich von anderen Interviewveröffentlichungen abzuheben. Besonders in Einzelgesprächen gelingt es der Autorin, ihr Gegenüber auf einer scheinbar sehr persönlichen Ebene zu begegnen. Dem üblichen Profilierungsaspekt, der bei Interviews Tagesordnung zu sein scheint, wird in nur wenigen Gesprächen Beachtung geschenkt. Astrid Vits lässt ihre Gegenüber berichten, geht auf die Aussagen ein, und führt bedächtig zu ihren vorbereiteten Themen, was den Gesprächen auch bei der Nachlese einen sehr gehaltvollen, unaffektierten Charme verleiht. Über die journalistische Notwendigkeit, oder den popkulturellen Bedarf an einem solchen Buch lässt sich natürlich streiten, bewegt sich der Inhalt doch stets auf einer eher subjektiven Ebene, begonnen bei der Auswahl der interviewten Musiker, als auch bei den andiskutierten Themenbereichen, die einen Meinungsüberblick ermöglichen sollen.

"Es war Absicht, dass bestimmte Themen - in nicht allen, aber vielen Interviews - immer wieder vorkommen, um als Leser auch Vergleichsmöglichkeiten zu haben und um auch einen Zusammenhang zwischen den Interviews und den Musikern herzustellen." Einen dieser Themenbereiche stellt die Hamburger Schule, der immer wieder in den Gesprächen mit etwa Tomte, Mon)tag, Astra Kid oder finn. auftaucht. "Von den Musikern selbst wird sie zum großen Teil als wichtig angesehen, weil sie Türen geöffnet hat. Nach der Neuen Deutschen Welle gab es ja fast überhaupt nichts Deutschsprachiges mehr, zumindest nicht im Indie-Bereich. Manche Musiker im Buch waren sogar direkt von zum Beispiel Tocotronic beeinflusst, haben aber jetzt ihren eigenen Weg gefunden. Die so genannte Hamburger Schule hat viele Menschen musikalisch und textlich bewegt, Musiker haben sich das als Vorbild genommen. So ist es ja immer: Auch die Hamburger Schule-Bands hatten ihre Vorbilder in Syph, Fehlfarben, DAF etc. Ich bin mir ganz sicher, dass eins immer vom anderen beeinflusst wird, sogar hervorgeht."

Im Gegensatz zu den erwähnten Bands, scheinen sich die liedtextlichen Thematiken heute im allgemeinen weniger auf intellektueller und diskursiver Ebene zu bewegen, was oft auch mit einem Niveauabfall einhergeht. Befindlichkeitsfixation als Rückzug aus politischer Orientierung? "Die aktuelle Bewegung ist bis auf wenige Ausnahmen nicht politisch. Das ist Absicht und zum Glück auch endlich 'erlaubt'. Man muss nicht mehr politisch sein, um sich äußern zu dürfen, auch den Vorwurf 'Schlager' hört man immer weniger. Ich persönlich finde das sehr gut. Im übrigen haben sich ja auch die Texte der Hamburger Schule-Bands etwas gewandelt..." Und mit Frank Spilker von den Sternen, Niels Frevert von der ehemaligen Nationalgalerie oder auch Bernadette La Hengst sind schließlich auch Persönlichkeiten im Buch vertreten, die direkt aus dieser Bewegung stammen, und den Kreis schließen.
foto: wolfgang kampz


astrid vits
"du und viele von deinen freunden"
schwarzkopf&schwarzkopf 2004

weiterlesen...

Gluecifer [Hamburg/Berlin, 11./12.11.2004]

Let there be sound, let there be light, let there be... Gluecifer.
Die Skandinavier Gluecifer, Captain Murphy und Bonk beobachtet während zweier Auftritte ihrer Automatic Thrill Tour.



"i wann see every single one of you, worship the true kings of hard rock!"
(biff malibu)

Die norwegischen Kings of Rock gaben in der Markthalle zu Hamburg ihr Auftaktkonzert der Automatic Thrill Tour 2004. Mitgebracht hatten sie die ebenfalls aus Norwegen stammenden Bonk und Captain Murphy aus Schweden.

Leider füllte sich die Halle nur sehr langsam und so hatten Bonk schließlich die undank-bare Aufgabe, vor gerade mal einer Hand voll Zuhörern mit ihrem Set zu beginnen. Allerdings verpassten die draußen Wartenden auch nicht sehr viel. Ab und an blitzten bei ihren heavy rockenden Songs zwar tolle Ansätze hervor, aber die Musiker wirkten doch arg angestrengt. So richtig Atmosphäre wollte dabei leider keine aufkommen. Dafür trumpften die darauf folgenden Captain Murphy umso mehr auf. Ihr wilder 70ies Sound lässt sich wohl am Besten mit einer Mixtur aus Led Zeppelin, The Who und den Beatles beschreiben. Neuere Referenzen wären wohl die Datsuns, die Hives und frühe Hellacopters.Gepaart mit tollen Posen und unbändiger Spielfreude, fielen vor allem Rhythmusgitarrist Victor Hvidfeldt und der Bassist Johnny Borgström auf. Und spätestens als ihr Sänger und Solo-Gitarrist Sonny Boy Gustafsson sich samt Gitarre unters Publikum mischte und sogar ausgewiesene Tanzmuffel zum Schwingen der Hüften brachte, da war klar, dass diese Band großartig ist. Allerdings sollte man schon ein Freund von fein solierenden Gitarren sein, aber wer sie hört, der wird es mit Sicherheit. Songs wie Daddy Can Dance jedenfalls haben eindeutig das Zeug zum Tanzflächenfüller. Oder Hello Policeman, zu dem man wild zappelnd seinen Kopf schütteln muss.

Eine quälend lange Umbaupause später betreten dann Gluecifer die Bühne. Ohne viele Worte zu verlieren eröffneten sie mit Car Full Of Stash vom aktuellen Album Automatic Thrill. Eine kleine Verschnaufpause gab es erst nach drei Songs mit der Begrüßung durch Frontmann Biff. Kurz ging er darauf ein, dass sie das letzte Mal 1998 mit den Hellacopters hier in der Markthalle aufgetreten sind. Zu schade, damals nicht dort gewesen zu sein. Dann wurde weiter gerockt ohne Ende, neben einigen selten gespielten Songs aus Anfangstagen wie Titanium Sunset und No Goddam Phones, hauptsächlich Material der letzten beiden Alben. Großartig auch immer wieder die netten kleinen Anekdoten von Biff, natürlich mit dem nötigen Augenzwinkern vorgetragen. Dieser Mann ist einfach für die Bühne bestimmt. Bei alledem gab es nur ein Problem - der Graben zwischen Bühne und Absperrgittern war viel zu groß. Wo normalerweise Hände abgeklatscht werden und sich gegenseitig Fans und Band aufputschen, herrschte leider ein Vakuum. Die aggressiven Ordner taten ihr übriges, um die Stimmung des Publikums etwas zu drücken. Am Ende hatte man zwar das Gefühl ein tolles Konzert erlebt zu haben, aber auch im Hinterkopf, dass Gluecifer noch zu wesentlich größerem im Stande sind.

Den Beweis dafür sollten sie auch direkt einen Tag später in Berlin erbringen. Das Kreuzberger SO36 wurde Schauplatz eines einmaligen Auftritts. Bonk enterten gerade die Bühne, als wir um halb neun den fantastischen Club betraten. Insgesamt war die Stimmung im Publikum schon wesentlich ausgelassener als am Vortag. Die Band wirkte viel selbstbewusster, ihre Songs dynamischer und beseelter. Außerdem handelt es sich bei ihrem Schlagzeuger um den Bruder von Stu Manx, wie der Bassist von Gluecifer uns selbst erzählte. Aber auch ohne familiäre Unterstützung war die Steigerung gegenüber Hamburg beachtlich. Danach jedoch die große Enttäuschung, denn Captain Murphy hatten bereits vor Bonk spielen müssen. Der Veranstalter sollte sich mal fragen, warum er 21Uhr als Beginn auf die Tickets drucken ließ, aber die erste Band schon um 19.45Uhr auf die Bühne schickte. Allerdings hatte es auch sein Gutes, denn Victor von Captain Murphy hatte Mitleid mit uns. Er war total fertig, dass wir seinen Auftritt verpasst hatten. Er schenkte uns später T-Shirts und setzte uns auf die Gästeliste für ihr Konzert in Bochum. „I promise it!“ - danke, Victor!

All die Ernüchterung wich jedoch blanker Hysterie, als Gluecifer, die selbsternannten Kings of Rock, sich anschickten, alle Fragen nach der Berechtigung ihres Titels zu beantworten. Zwar spielten sie die gleiche Setlist wie tags zuvor, aber trotz dessen kein Vergleich. Mein Freund Neil und ich standen direkt vor der Bühne, kein Graben zwischen uns und dem unvergleichlichen Raldo Useless, seines Zeichens Gitarrist. Perfekt. Die Anspannung, die der Band in Hamburg teilweise noch anzumerken war - wie weggeblasen. Vom ersten Takt an wurde man von der schieren Wucht der Songs förmlich umgehauen. Das SO36 glich einem Tollhaus. Jeder Song ein Hit. Von älteren Stücken wie I Got A War, Go Away Man, einer wahnwitzig rasanten Version von Evil Matcher oder Rockthrone bis hin zu neuerem Material wie Shaking So Bad und Automatic Thrill. Alle Anwesenden sangen lauthals mit, alle tanzten. Die Band, davon sichtlich beflügelt, legte eine Spielfreude an den Tag, unglaublich. Captain Poon, immer in Bewegung, und Raldo, mit diesem ungeheuren Swing in seiner rechten Hand, lieferten sich Gitarrenduelle sondergleichen. Biff Malibu sang nach Leibeskräften, was in seinem Fall ruhig wörtlich zu nehmen ist. Stu Manx am Bass war wie immer der Fels in der Brandung und Danny Young an den Drums solierte sogar beim Mittelteil von Black Book Lodge. Sowieso scheint dieser Song so etwas wie ihr heimlicher Favorit zu sein. Man muss es einfach gesehen haben, wie sich der Captain und Raldo dabei gegenseitig anstachelten und einander antrieben. Ihr Set beendeten Gluecifer schließlich mit dem fabelhaften Easy Living, bei der Biff, sehr zum Schmunzeln der anderen, eine Chansonartige Version des Songs anstimmte. Einfach grandios. Damit entließen sie dann die ekstatische Menge in die noch junge Nacht.
Verbeugt euch vor den Kings of Rock!
text: Tobias Lehnert
foto: inge von schreude



weiterlesen...

Ani DiFranco [Trust]

She is trying to evolve.
Ani Difranco offenbart uns einen weiteren Punkt ihrer künstlerischen Entwicklung.




"art is why i get up in the morning, but my definition ends there and it doesn't seem fair."
(out of habit)


Sie ist eine außergewöhnliche Frau; Feministin, Poetin, Künstlerin, politisch engagiert und immer in Bewegung, sei es auf der Bühne oder in ihren ständig variierenden Outfits. Aber vor allem ist sie eines: Musikerin mit Herzblut, großartige Gitarristin und Folksängerin mit Hingabe. Ani DiFranco's neues Livealbum mit dem schönen Titel "Trust" spiegelt all das wieder. Vielleicht war es wieder ein Drang nach Veränderung, der die auf den ersten Blick spärliche Besetzung der Musiker bewirkte: Ani, fast allein mit ihrer Gitarre, wird begleitet von dem fantastischen Kontrabassisten Todd Sickafoose und teilweise kommt noch der New Yorker Gitarrist Tony Scherr hinzu. Die Virtuosität, mit der die beiden Hauptakteure ihre Instrumente erklingen lassen lässt jedoch nichts vemissen, Ani ist wohl eh am Besten, wenn sie ganz auf sich selbst gestellt ist; nur sie und ihre Gitarre.

"But I am tired of being your savior and I am tired of telling you why."

An den stahlenden Gesichtern im Publikum lässt sich leicht ablesen, warum das bunt gemischte Publikum gekommen ist: sie wollen Ani's Musik hören, spüren, fühlen, in sich aufsaugen. Ein bisschen zerbrechlich wirkt Ani, wie sie dort fast allein auf einer bescheiden ausgestatteten Bühne steht. Und doch hat sie ein starkes und kraftvolles Wesen, wirkt wie eine, die alles schaffen kann. Eine Einzelkämpferin. In ihrer Musik und ihren Gedichten, welche sie an diesen Abenden ebenfalls darbietet, tauchen demnach auch Verzweiflung, Trauer und Wut ebenso häufig auf wie Glück, Liebe, Dankbarkeit und Schönheit. Meist geht es um Zwischenmenschlichkeit, Probleme oder kleine Glücksmomente. Ani versteht es, ihre Unzufriedenheit oder Glücksgefühl über wunderbare Augenblicke in passende Worte zu bringen, welche an diesen Abenden von einer Dolmetscherin in Gebärdensprache übersetzt werden. Ani hat ihre Anhänger nicht nur aufgrund ihrer Musik, es ist auch ihre Person und ihre Aussagen, die die Menschen anzieht. Der nicht rein musikalische Charakter der Veranstaltung, welcher wir hier nachträglich beiwohnen dürfen, wird auch durch die Anwesenheit politischer Gruppierungen, zum Beispiel feministischen Vertreterinnen oder Mitarbeitern der Graswurzelwerkstatt, klar, welche versuchen, die Besucher für sich zu gewinnen oder einfach über ihre Tätigkeiten zu informieren; überall sieht man Buttons und T-Shirts mit politischen Statements oder Lebensweisheiten. "Die Leute sind nicht nur wegen der Musik hier, sondern wegen der Gemeinschaft", sagt Ani selbst. Doch nicht nur ihre Anhänger äußern ihre politische Meinung, mit dem Auftritt des Kongressabgeordneten Dennis Kucinich gibt Ani auch ein Statement ab. "Dennis ist einer von uns", sagt sie, "er ist so, wie ein Politiker sein sollte". Ihre folgende "Vote Dammit! Tour" verkündete somit auch, dass ein Regierungswechsel ganz in ihrem Sinne gewesen wäre.

"I am indebted joyfully to all the people throughout its history who have fought the government to make right."

Der zentrale Punkt des an zwei Abenden im 9:30 Club, Washington, DC, aufgenommenen Films ist nichtsdestotrotz die Musik; eine so eigene Klangwelt, in die Ani ihre Zuhörer immer wieder entführen kann, mit Bauchkribbeln und glänzenden Augen. Die Songauswahl reicht weit in das große Repertoire Ani Difranco's zurück. Die über 20 Songs beinhalten Lieder aus alten Tagen, wie Anticipate von dem ’94er Album "Not So Soft" oder Gravel vom ’98er Album "Little Plastic Castle", genauso wie vier neue Songs, die auf dem für Januar 2005 vorgesehenen neuen Album "Knuckledown" erscheinen sollen.

"I gotta knuckle down - just be ok with this"

Und neben der Stimmung, welche während der Konzerte eingefangen wird, bekommt man als Zuschauer einen weiteren, kleinen Einblick in die Person Ani Difranco hinter den Kulissen. Mithilfe der Kameraleute JoJo Pennebaker, Paul Greenhouse und Elia Lyssy werden nicht nur die Momente auf und vor der Bühne, sondern auch die Szenen im Backstagebereich eingefangen. Viele Songs sind so geschnitten, dass sie beim intimen Proben und im Hinterzimmer oder beim Soundcheck beginnen, bevor sie auf die eigentliche Aufführung springen, und umgekehrt. Mit dem geschickten Einsatz von Effekten wie ein Super8-Kamera-Rauschen, wechselnder Schärfe, einer warmen Farbwahl und liebevoll verspielten Zwischenfrequenzen hat der bekannte Musikfotograf und Filmemacher Danny Clinch die sympathisch unkonventionell gefilmten Szenen zusammengefügt, und erschuf dabei ein in sich stimmiges, künstlerisch charmantes Gesamtwerk. Die Kameraleute verstanden es dabei, wunderbare, für sich sprechende Momente einzufangen, die Ani auch mal ein wenig von ihrer persönlichen Seite zeigen. Ein besonders schönes Beispiel hierfür ist die Schlussszene, in der Ani und Todd auf einer nächtlichen Brücke tanzen. Ein Moment, der ein Lächeln auf meinen Lippen hinterlässt. Und die Vorfreude auf das kommende Album.
foto: ingo petramer



ani difranco
"trust"
righteous babe records 2004 dvd
ani difranco

weiterlesen...

The Soundtrack Of Our Lives [Origin I]

Lost in Zeitlosigkeit.
Das Schwedische Sextett mit dem hingebungsvollen Namen, wird mit dieser Platte endgültig unter den ganz großen Bands unserer Tage avancieren. Versprochen.


"cause we need new songs to sing and it feels like we know everything."
(transcendental suicide)

The Soundtrack Of Our Lives. Nein. THE SOUNDTRACK OF OUR LIVES. Hier sind Großbuchstaben nötig. Hinterlässt das neue Album "Origin (I)" beim ersten Hören eine anfängliche Euphorie von Pop, eröffnet sich einem mit der Zeit eine Detailverliebtheit, die in ihrer Ausgiebigkeit und Entschlossenheit eine nahezu zeitlose musikalische Relevanz aufweist. Zeitlos. Nicht jedoch als platte Attitüde, als Plagiat, im Revival Wahn, zweckdienlich bestimmte Epochen kopierend, sondern als intensive Reflexion der Vergangenheit im Spiegel der Gegenwart. Zeitlos im "Exile on Mainstream Sinne". Im "White Light / White Heat" Sinne. Fällt der adoleszente Soundtrack des Lebens der Musiker einer Band zurück auf die späten Sechziger und frühen Siebziger Jahre, dann ist es eben nicht verwunderlich, dass musikalische Stilzitate auf eben diese Zeit zurückgreifen.

Hier geht es um mehr als einfache Musik. Der Name The Soundtrack Of Our Lives ist nicht profaner Ausspruch, sondern selbstbeschwörerischer Anspruch. Leidenschaft im Imperativ. Mit den drei Vorgänger Alben haben sich TSOOL ganz offensichtlich auf das zu bewegt, was sie mit "Origin (I)" erreicht haben; die Spatzen pfeifen sich mit Superlativen die Stimmbänder wund, ganz gleich auf welchen Dächer sie sitzen. Eine solch leidenschaftliche Intensität, ein solch abgeklärter und selbstverständlicher Umgang mit melodieverliebten Kunstgriffen, eine solch gereifte Umsetzung der Essenz einiger Jahrzehnte Popmusik dürfte seines Gleichen oft vergebens suchen. 12 Stücke Rockpop im Konzert auf hohem, spielerischem Niveau als erlesene Auswahl der Arbeitsergebnisse der Origin Sessions. Schließlich wurden hier rund 45 Stücke nach einer zwei Jährigen US Tour entwickelt.

Wähnt man sich zu Beginn der Platte noch für einen kurzen Augenblick in einer rauchigen Drei Groschen Oper, indiziert durch das verwegene Zusammenspiel von Swing Schlagzeug und Bass, entwickelt Belive I've Found durch die einsetzenden Gitarren, den Handclaps und den Backgroundgesängen eine verspielt sehnsüchtige Cachiness, aus welcher andere Bands mit Freude das Konzept für ein ganzes Album herausschälen würden. "And there goes my heroes, and all that i used to trust." Wie in der Overture zu The Who's "Tommy" werden im Intro zu Trancendental Suicide, dem zweiten Stück der Platte, die verschiedenen Bausteine des Stückes durchlaufen, um danach, zurückgesetzt, geordnet und im Songwriting präzise auf gut sechs Minuten, ein mächtiges psychedelisches Stück Leidenschaft epochalem Ausmaßes zu entfalten. "And love is in the air for a trancendental suicide." Vor dem geistigen Augen malträtiert Keith Moon sein Schlagzeug während Townsend die Windmühle gibt. Und während das Lied ausklingt, bleibt wenig Zeit zum durchatmen, weil die Rockpop Zeitmaschine schon wieder angeschmissen scheint, und man in das nächste Stück über gleitet. Bigtime. Zwei Gitarren für ein Hallelujah und eine Basslinie für die Ewigkeit! Instrumente, die so verschwenderisch mit Hooklines umgehen, dass anderen Bands schwarz vor Augen wird. Ein Stooges Schlagzeug, die Gitarren von Ian Person und Mattias Bärjed jagen mit der grazilen Präzision zweier Falken nach vorn, dazu die mit ausreichend Soul belegte Stimme von Reverend Ebbot Lundberg, und man verliert sich in Bewegung. "Does anybody know you? Will anybody need you? Can anybody please you? Does anybody have to?" Repeat Button, bitte! Im Lone Summer Dream überzeugt das Sextett aus Schweden durch eine verspielte Leichtigkeit, bei der die beiden Gitarren wie Drachen in den morgendlichen Himmel zu steigen scheinen, gehalten von dieser wundersam kindlichen Orgel und dem sanft antreibenden Schlagzeug. "But then I wake up to a sound, and I hear it call my name." Lundbergs Stimme wird von einer Trompete aufgegriffen und scheint endgültig alle Wolken zu vertreiben. Ganz im Gegensatz hierzu scheint das geradezu laszive Stück Midnight Children auf einer durchaus erotischen Ebene zu schweben. Maßgeblich hierfür steht ein Name. Jane Birkin. Jane - Je t'aime... Mon non plus - Birkin. Ebbot lamentiert lässig. Jane Birkin haucht auditive Aphrodisiaka. Ein kindlicher Traum hat sich mit diesem Duett erfüllt, gesteht der markante Sänger. Anekdotenhaft berichtet er, dass sein Vater die Platte mit dem begehrlichsten Stück Pop Duett Geschichte zerbrechen musste, da der kleine Ebbot nicht davon ablassen konnte Serge Gainsbourg und Jane Birkin in seinem Zimmer sinnlich Liebesgeständnisse flüstern zu lassen.

In ganz andere Richtung wiederum scheinen sich die beiden letzten Stücke des Albums zu bewegen. Song For The Others, wie im Booklet erwähnt, soll neben einer Freundin der Band an Rocco Clein erinnern, den Anfang des Jahres verstorbenen Archetyp des Musikliebhabers. Rocco selbst prophezeite in nicht zu minderndem Enthusiasmus, 2004 als das Jahr für TSOOL. Das Piano, gesangsbegleitend im Vordergrund, führt in diesem Stück Gedanken an ein Jenseits vor Augen, Gedanken an ein niemals ganz erlischen, ohne dabei esoterisch oder plump zu wirken. "When you’re gone to never disappear." Ein hoffnungsvoller Umgang mit dem Kommen und Gehen von Menschen. Mit dem gleichen Thema befasst sich der Cliffhanger des Albums, Age Of No Reply, das auf fast sieben Minuten Länge zunächst als Midtempo Stück beginnt, und sich im Verlauf in einem wabernden Doors Orgel Solo, und später in einem endlosen Gitarrensolo verliert, um dann sanfte Pet Sounds Chöre erklingen zu lassen, und den Hörer auf das Nachfolge Album Origin (II) warten lassen.
Groß. GANZ GROSS. danke.
foto:


the soundtrack of our lives
"origin i"
virgin / stickman 2004 cd / lp
tsool

weiterlesen...

600 Wörter [Marmeladenflecken Und Mut]

Wie du immer auf den AB gesprochen hast, nur damit ich nicht nach Hause komme und allein bin.





Ich bin vorbeigekommen, weil ich dich noch einmal sehen wollte. So, wie ich dir das damals versprochen hatte. Damals, als wir noch rote Marmeladenflecken an die weiße Tapete in meiner nun leer stehenden Wohnung malten. Weißt du das eigentlich noch? Du hast versucht, Herzen zu malen, so, dass ich sie nicht erkennen kann. Weil du nicht wolltest, dass es kitschig ist. Dass ich mir denken könnte, du malst sowas gerne. Dabei hast du es für mich getan und weil du mir Herzen schenken wolltest. Dein eigenes hast du jedoch immer behalten. Ich wollte dich noch einmal sehen, kurz, bevor ich gehe. Weil du der bist, der mir als einziger noch ganz fest in Erinnerung ist und ich kann dich dort nicht vorziehen. Daher dieser Besuch.

Vielleicht lässt du dich dann ja doch dazu herab, mich allein zu lassen. So, wie du das damals nie wolltest. Weißt du noch, wie du mir immer auf den AB gesprochen hast, nur, damit ich nicht nach Hause komme und allein bin? Es waren lange Monologe, über dich und deinen Tag, über dich und deine zwei Daumen. Weil du die immer so hässlich fandest und dir das immer nur beim Telefonieren auffiel. Oder du hast mir von den Mustern deiner Socken erzählt, weil du immer neue kauftest, wenn dir langweilig war. Aber da hast du mich nie besucht.

Ich möchte dich zum ersten Mal in den Arm nehmen, so, wie wir das früher immer nicht machen wollten. Weil das ja doch schon jeder Fremde zur Begrüßung gemacht hat und, dass uns ein einfacher Handschlag reichen würde, das wussten wir auch. Aber irgendwann wollte ich dich umarmen. Doch dann konnte ich nicht mehr, weil alles viel zu schnell ging und wir uns schon über irgendetwas unterhielten.

Ich habe dich manchmal vermisst in diesen Gesprächen, denn du warst nicht ganz da. Hast mich angesehen, jedoch so leer, als wärst du schnell auf Reisen gegangen und würdest erst dann wiederkommen, wenn ich fertig bin. Dabei hattest du auf alles eine Antwort, auch, wenn dein Blick so leer war.

Weißt du noch, als ich hingefallen bin, weil etwas im Weg lag und du mir hoch geholfen hast? Wie ich nach deiner Hand gegriffen habe, weil ich diese wirklich brauchte? Es war komisch, aber du hast sie danach nicht mehr losgelassen. Ich habe mir nicht weiter Gedanken darum gemacht, weil ich nicht darüber nachdenken wollte.

Ich wollte dir eigentlich noch etwas geben, aber mein Mut hat mich verlassen. Ist geradewegs zur Tür hinaus gewandert und schreit sich jetzt im kalten Herbstwind die Kehle aus dem Leib. Weißt du, ich wollte ihn festhalten, aber er hat mich gekratzt und gebissen, sodass ich nicht anders konnte als ihn laufen zulassen. Sowas ist schrecklich, denn immer dann, wenn man ihn braucht, ist er nicht da.

Weißt du noch, wie du mir heimlich einen Zettel zugesteckt hast und ich ihn erst fand, als ich Wochen später meine Taschen leerte? Ich wusste zuerst nicht, dass er von dir war, doch dann hast du mich irgendwann danach gefragt und alles was ich sagen konnte war "danke". Ein Zettel, auf dem nur ein Wort stand, so ähnlich wie "gefunden". Ganz genau weiß ich das nicht mehr. Ich wusste auch in diesem Moment nicht, was du mir sagen wolltest. Oder wie du versucht hast, mir klar zu machen, dass Denkschablonen vernichtet gehören. All das hatte ich nie verstanden. Bis ich selber denken wollte um dich zu verstehen.

Ich bin eigentlich nur vorbei gekommen, um dir das alles zu sagen. Doch wie gesagt, mein Mut spielt draußen Quatsch mit Soße, also bitte entschuldige mich. Ich muss ihn suchen gehen.
Text: Anna-Maria Dahms
illustration: heiko windisch

weiterlesen...

Slut [Berlin, 29.09.2004]

No need for conversation.
Introvertiert und doch mit unbestechlicher Leidenschaft, unterstreichen Slut vor kleinem Publikum live die Intentionen ihres neuen Albums.


"hope, i'm getting used to what i see."
(hope)


Überall in Berlin sieht man Plakate auf denen "Köln grüßt Berlin" in geradliniger Typographie zu lesen ist. Eine Anspielung auf den diesjährigen Ortswechsel der Popkomm von der Medien-, in die Bundeshauptstadt. Das bunte Treiben der Popkomm und ihrer Musikindustrie zentriert sich jedoch auf den Stadtkern, wo ohnehin Tag ein Tag aus, Touristen wie ferngesteuert von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten gehetzt werden. Die Revalerstraße in Berlin, Friedrichshain, glänzt hingegen nicht gerade durch Attraktivität, sondern eher durch die ungenutzten Bahn Baracken und das weitestgehend brach liegende Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes. Ein Grund, weshalb dieser Ort weniger im Blickfeld beschriebener Unvermeidlicher liegt. Dennoch tummelt sich eine größere Menge Menschen am Abend vor dem Eingang eines kleinen, unscheinbaren Gebäudes. Das poprockin’ Rosis lädt zu einem Stelldichein mit den Ingolstädtern Slut ein, die an diesem Abend das Eröffungskonzert zu ihrer gerade anstehenden Tour geben werden.

Das, durch seine verwinkelte Architektur baulich verwirrende Rosis, bietet seinen Gästen zunächst Entspannung in loungemäßigen Separées an, und man ist überrascht, über die gute Musikauswahl aus der Konserve; Stilsicher wird nichts von Slut gespielt, aber man bekommt unter anderem die großen Norwegen Rocker und Ex-Labelmates Motorpsycho zu hören, was als kleine Überraschung im Raum mit einer Zugspitzentapete gedeutet wird. Die fünf Musiker treten überaus pünktlich auf die kleine Bühne, und wirken ein wenig schüchtern. Der Blick Neuburgerrs zielt oft nach unten, erst im Laufe des Abends verlieren sich seine Augen im Publikum. Ein zurückhaltendes Auftreten, dass, bei der gerade live so erfahrenen Band überraschend aufgenommen wird. Dennoch birgt es Sympathien ihnen Gegenüber, vermögen sie doch nicht eine überzogene Show abzuliefern, trotz des Bewusstseins, dass ihre Äußerungen in jedem Augenblick des Abends live auf Radio Eins übertragen werden. Ohne viele Worte beginnen sie die ersten Akkorde des Titelsongs ihrer neuen Platte zuspielen, und die wenigen Zuhörer, die eine der auf hundert Stück begrenzten Karten ergatterten haben, sind vom ersten Augenblick an auf ihrer Seite. Souverän spielen sie zunächst Stücke ihres großartigen neuen Albums "All We Need Is Silence", zur Freude der Menschen vor ihnen, greifen sie in ihrer Auswahl jedoch auch bis zu ihrer ersten Platte "For Exercise And Amusment" zurück. Virus haben sie ausgewählt, und man goutiert dies mit glücklichen Gesichtern.

"Und jetzt spielen wir ein bayerisches Volkslied", deutet Neuburger an, überraschende Blicke im Publikum säend, um kurz darauf mit den Akkordfolgen ihres, zumindest den Verkaufszahlen zufolge, erfolgreichsten Stückes des letzten Albums zu beginnen; Easy To Love. Selbst die Menschen im Publikum, die ihre Karten vielleicht bei einer Verlosung gewonnen haben und ansonsten wenig Bezug zur auftretenden Band haben, erhascht ein Gefühl des wieder Erkennens, und man bewegt sich kollektiv auf engem Raum.

Den eigenen Wunsch so formulierend, dass ihr Stück Wasted vielleicht einmal eine neue Singleauskopplung sein wird, möchte Chris Neuburger damit vermutlich nichts anderes zum Ausdruck bringen, als dass ihnen dieses kleine Stück Popmusik sehr am Herzen liegt. So wie die gesamte Platte, die einen emotionalen Höhepunkt, in der stets durch Emotionen geprägten Musik der Ingolstädter darstellt. Slut gelingt es auch live diese latente Schwermut in ihren Liedern zu transportieren, dieses wundersam entrückte Gefühl von Sicherheit und Verlorenheit Angesicht zu Angesicht, wenn die Musik aus detailverliebten, fragilen Gitarrenmelodien in die kraftvollen Momente überleitet, in denen Neuburger so emphatisch seine Gedanken herausschreit, wenn er sich mit Tatsachen hilflos konfrontiert sieht; so etwa, dass die Zeit kein Heilmittel ist, welches Wunden schließt, sondern einem oft als Feind gegenübertritt, als unvermeidliches Prinzip. Und nach jedem Stück, mit noch so glühender Intensität dargeboten, schaut er geradezu verlegen nach unten, während er sich über das Mikrofon bei dem Publikum bedankt. Die Augen schließend, hält er sich die Ohren zu, um mit Konzentration seine Gedanken in der Musik zu schildern. Nur vereinzelt ist das verschmitzte Lächeln auf den Gesichtern der Mitglieder zu sehen, nicht, weil sie sich nicht wohl fühlen an diesem Abend, sondern da sie auch nach all den Jahren an Live Erfahrung die überaus einhelligen Reaktionen des Publikums nicht als gegeben hinnehmen. Und doch lächeln sie, als sie sich nach dem kurzen Break im Stück Easy To Love verspielen, und Chris Neubauer und Bassist Gerd Rosenacker ihren Einsatz verpassen.

Kurz nachdem die Band am Ende des Abends von der kleinen Bühne gestiegen ist, kommt Chris Neuburger zurück, und erklärt, für den Abend ungewöhnlich entspannt und belustigt, dass sie sich jetzt off Air befänden, die Radioübertragung eine kurze Pause schaltet, und sie im Anschluss noch eine durchaus geplante Zugabe spielen werden. Und so verabschiedet sich die Band, nachdem sie das abschließende Stück Hope von ihrem Konzeptalbum "Lookbook" vorgetragen haben von der Bühne, und entlässt die verträumte Menschengruppe in das nächtliche Berlin.
foto: ju keutner

slut
rosi's

weiterlesen...

The Black Keys [Rubber Factory]

My, my. Hey, hey, Rock 'n' Roll is here to stay.
Lakonisch und doch voller Begierde scheppert der trockene Bluesrock der Black Keys aus der Industrie Metropole Akron, Ohio.



"to treat somebody so, the care he took, the lengths to which he'd go."
(the lenghts)

Im New York des Jahres 1957 wurde eine Platte veröffentlicht, welche einen prägnanten Titel trug und damit ursprünglich den Beginn einer Stilrichtung initiieren sollte, nebenbei jedoch gleich noch einen Begriff prägte, welcher in der heutigen Jugendkultur nicht wegzudenken ist, und laut Duden gleichbedeutend mit nüchtern, lässig und sachlich ist; Birth Of The Cool von Miles Davis, als Ursprung des Cool Jazz. Was in der heutigen Zeit alles unter dem Sujet cool betrachtet wird, haben sich die neun Musiker um Miles Davis wahrscheinlich nicht träumen lassen, als sie erwähnte Platte in einem New Yorker Studio aufgenommen haben.

Verlassen wir jetzt aber das New York der fünfziger Jahre als Schmelztiegel expressionistischer Künste, literarischem Geschick, Jazz, Psychoanalyse und sexueller Revolution, hin zur Gegenwart und der desolaten Industrie Stadt Akron, Ohio, Geburtsort der Anonymen Alkoholiker und ehemalige Hochburg der Gummiproduktion der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Ort, an dem der Begriff cool durchaus in einem ungleich nüchterneren Kontext betrachtet werden muss. Dennoch ist es der wohl treffsicherste Begriff meines Wortschatzes, welcher zumindest ansatzweise den Sound der Black Keys zu charakterisieren weiß. Auf den ersten Blick wirken Gitarrist und Sänger Dan Auerbach und Schlagzeuger Patrick Carney auch weniger nach Prêt-à-Porter, als vielmehr nach detailverliebtem Indie Nerdismus; Während Auerbach in der Armeejacke eines Großstadtguerilleros wie eine jugendlich derbe Mischung aus Kevin Devine und Steven Malkmus erscheint, erinnert der hünenhafte, hornbebrillte Carney so introvertiert wie der Archetyp des achtziger Jahre Computerfreaks, äußerlich gewiss an den Weilheimer Martin Gretschmann alias Console.

Die Geschichte der beiden Jugendfreunde erzählt sich dann auch so anekdotenbesetzt wie ein Film von Richard Linklater oder Cameron Crowe; als Gartenbautechniker für einen Grundstücksbesitzer in Akron und Umgebung, mähen sie fremde Rasen und verdienen sich so Geld, um ihre Musik zu finanzieren. Aus dem gleichen Grund verlieren sie aber irgendwann ihre einzige Geldquelle, und touren jetzt in einem Pick-Up durch die umliegenden Regionen, und produzieren eine Debüt Platte, welche bei den Kritikern überraschend für Aufsehen sorgte.

Auch die Tatsache, dass sie ihr zweites Album "Thickfreakness" in einer verschwindend kurzen Zeit - unterschiedliche Quellen schwanken zwischen zwölf und sechzehn Stunden – produziert haben, dürfte einer legendären Hintergrundgeschichte dienlich sein. Während die stilverwandten White Stripes - ein nahe liegender Vergleich nicht nur aufgrund der instrumentalen Reduktion auf Schlagzeug und Gitarre – jedoch ein großes Augenmerk auf eben solche Gerüchte schürenden Legenden Kollagen richten, scheint das die beiden Mittzwanziger der Black Keys nur peripher zu interessieren. So liegt es auch nahe, ihr drittes Album nach dem selbsteingerichteten Studio im zweiten Geschoß einer ehemaligen Reifenfabrik, wenig Aufsehen erregend "Rubber Factory" zu betiteln. Eine Wahl, die dem klaren Schema ihrer Musik gleichkommt. Ohne Umschweife oder verklärten Ausschweifungen kommen die Black Keys in ihren, zwischen Minimalismus und schrägen Explosionen angesiedelten Stücken, direkt auf den Punkt.

Ihre schweißtreibende Musik ist ein dreckiger Lo-Fi Mix aus Auerbachs trockener Fuzz Gitarre, und dem leidenschaftlichen Klang seiner Stimme, die , ähnlich wie bei Ryan Adams, so ausgewogen reif klingt, wie man es gewöhnlich bei Sängern entdeckt, die mühelos doppelt so alt sind wie der Fünfundzwanzigjährige. "And hold me now, or never hold me again. No more talk can take me from this pain I’m in." Vorangetrieben wird beides durch Carneys schepperndes, geradlinig auf den Punkt kommendes Schlagzeug. Die Black Keys generieren damit einen sperriger Rock 'n' Roll Sound, sozialisiert durch die gesamte Blues Geschichte begonnen bei den traditionellen Ursprüngen der Plantagenarbeiter des amerikanischen Südens bis hin zum reduzierten Ansatz der Gegenwart. Sowohl Auerbach als auch Carney, der neben dem Schlagzeugspiel auch noch für die Produktion Verantwortung zeigt, sind enorm talentierte Songschreiber und Musiker. Auerbach kann subjektiv betrachtet, mit seinem virtuosen und eigenständigen Umgang mit der Gitarre als einziges melodiebildendes Instrument in dem Duo, als einer der innovativsten Gitarristen unserer Zeit betrachtet werden. Sein Spiel erinnert nicht selten an die gequält jammernde Gitarre eines Jimi Hendrix oder Jimi Page, ohne dabei nur Plagiat zu sein. Stücke wie das lässig ausgefeilte 10 AM Automatic oder All Hands Against His Own sind mit ihrer scheppernd ruppigen Abgeklärtheit einer mittlerweile bornierten John Spencer Blues Explosion Meilen weit voraus. Den Black Keys gelingt es mit "Rubber Factory" so herrlich subversiv und unaffektiert, ihren rohen Blues Rock über die gesamte Albumlänge zu transportieren, ohne dabei an Qualität zu verlieren. Und roh ist hier im Sinne von Garagen Blues, von einem Gegenentwurf zum trägen, Guiness trinkenden dartpfeilwerfenden Bluesrockers gemeint, in einer Produktionsweise, die Rick Rubin mit all seinem Talent nicht hätte erzielen können. Es scheint, der Hype steht vor der Tür.

"You’ve got pains like an addict, I’m leaving you 10 am, Automatic."

Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt.
foto:


the black keys
"rubber factory"
fat possum 2007 cd / lp
the black keys

weiterlesen...

Slut [All We Need Is Silence]

Die Provinz als Lebensgefühl.
Slut veröffentlichen ihr vielleicht emotionalstes Album als Abschluss einer zehnjährigen Entwicklung.


"if only they would tell us who we are."
(wasted)

Was ist eigentlich eine Provinz? Die Provinz ist eine Region, welche vom Zentrum territorial und kulturell entfernt ist. So steht es zumindest im Wörterbuch. Ingolstadt, die Heimat der fünf Musiker zählt ganz gewiss zu dieser geographischen Kategorisierung. Dennoch sollte man die Provinz eher im übertragenen Sinne als einen psychologischen Begriff betrachten, wenn man ihn im Kontext zu Slut verwenden möchte; als Seelenzustand oder Lebensstil, einem Ruhepol, welcher der Massenbewegung und steten Wachheit der Metropolen entgegenwirkt. Während viele ihre Musik als Möglichkeit der heimatlichen Einöde zu entfliehen betrachten, scheinen Slut mit ihrer Musik stets wieder zurück in ihre Heimat kehren zu können. Diese cosmopolitische Fluchtmöglichkeit findet sich auch während der Vorbereitung für die neue Platte bei der Band wieder. Man zog sich zur Klausur in die Abgeschiedenheit eines tschechischen Schullandheimes zurück, bevor die erarbeiteten Ideen, mit einem ausgereiften Popverständnis verarbeitet, gemeinsam mit dem Weilheimer Produzenten Mario Thaler aufgenommen wurden.

Slut haben mit diesem, ihrem fünften Album einen Schritt weiter in ihrer Entwicklung gemacht, sind puristischer im Umgang mit Effekten und Klangelementen geworden, und näherten sich auf diese Weise ihrem Live Sound an. Alles ist auf das wesentliche reduziert, klingt transparenter und dennoch melodienverliebt, und büßt trotz allem nichts von der Dichte und Kraft ihres vorangegangenen Albums "Nothing Will Go Wrong" ein. Das Gerücht, "All We Need Is Silence" sei die letzte Slut Platte, kursiert in dem dazugehörigen Umfeld, seit Slut selbst eine dementsprechende Bemerkung bei den diesjährigen Festivalauftritten fallen ließen. Schlagzeuger Matthias Neuburger ist derweil bemüht, diese Aussage zu kommentieren. So soll vielmehr der Abschluss einer steten Entwicklung, wie eben beschrieben, zum Ausdruck gebracht werden, welche sich ohne eine drastische Veränderung in Reproduktion verlieren würde.

Um den Albumtitel "All We Need Is Silence" nicht als Oxymoron zu verstehen, bedarf es ihn nicht ausschließlich auf Musik als solche zu beziehen, sondern in einem soziokulturellen Kontext zu betrachten. Während aktuelle Musik weitestgehend Wert auf Konsens und Political Correctness legt, steuern die fünf Ingolstädter bewusst ein paar Reibungspunkte in ihren Songs ein, die für Diskussion sorgen dürften. Wenn Chris Neuburger "let's make war instead of love" im ersten Stück der Platte The Beginning skandiert, hat das natürlich weniger mit Militarismus als mit dem Öffnen der Augen zu tun. Was die vielseits erwähnte Spaßgesellschaft zu konsumieren weiß, verliert sich immer weiter in Belanglosigkeiten, und führt zu einer meinungsfreien Selbstgefälligkeit, die es aufzuhalten gilt. "Somone borrow me a gun, for all the millions having fun" reduziert diesen Ansatz mit provokanter Direktheit. Der Albumtitel ist als notwendiges Plädoyer gegen die omnipräsente gesellschaftliche Reizüberflutung zu betrachten, erklärt die Band, welcher es weitestgehend gelingt, sich dem Starrummel und den massentauglichen Medien zu entziehen.

In den pointierten 37 Minuten, welche das Benötigen von Ruhe ausmachen, überzeugen Slut mit gitarrenorientierter Ausgewogenheit und intelligenter Melodiensuche, bei welcher man sogar Reminiszenzen an Beethovens Ode an die Freude wieder finden kann. "All We Need Is Silence" besticht durch die transportierte emotionale Bewegung, welcher man sich nicht entziehen kann.
Und während besonders Homesick und Cosmopolite - welche die bereits erwähnte Provinz- Urbanisations Polarität aufgreifen - die Gedankenstürme Neuburgers mit bekanntem Geschrei durchsetzen, wird man als Hörer scheinbar im freien Fall auf das letzte Stück losgelassen. "Get away, get away. This is no holiday baby!" schreit Chris Neuburger in dem einen Augenblick verzweifelt, als sich, nach einer behäbigen Rückkopplung, das letzte Stück der Platte wie ein Fallschirm zu öffnen scheint, und sich rettend über einem ausbreitet. Gefühlvoll klingt Neuburgers Stimme jetzt, dabei so natürlich und frei von Pathos, verdichtet sie sich mit den zarten Gitarrenmelodien über dem treibenden Schlagzeugrhythmus zu einem letzten Manifest, als Appell an die Vernunft. "Go hit me like an avalanche, i'll blame it on the circumstance", bittet er, sich gegen den gegenwärtigen Wertkonservatismus und das allgemeine Sicherheitsbedürfnis aufzulehnen, und nicht in gedankenloser Akzeptanz verloren zu gehen. "And every girl who passed the test, will end up in her wedding dress to spend her summer seasons by the sea." Das idyllische Bild der provinziellen Freiheit als Metapher für den Verlust des eigenen Idealismus. Ironie als Unterschied zwischen verzückter Melodie und kritischer Aussage. Get Lost, Get Lost zählt zu diesen Stücken, auf welche man bei Konzerten sehnsüchtig als alles abschließende Zugabe warten will, um danach in fremden Augen zu lesen, wie aufregend die Welt sein kann.
foto:


slut
"all we need is silence"
virgin 2005 cd / lp
slut

weiterlesen...

The Polyphonic Spree

Wenige Bands geben so viele Rätsel auf wie The Polyphonic Spree. Tim DeLaugther, Gründer und Mastermind dieser imposanten Gruppe, kämpft mit manchen Vorurteilen, doch auch für ihn scheint nicht alles zu 100% geklärt zu sein.


"don't get me wrong, i'm not a treehugger!"
(tim delaughter)


Eigentlich lässt sich von dem Namen eines Menschen nur sehr wenig auf dessen Wesen schließen. Der Name ist nicht mehr als eine Hülle, die auch in ihrer Ästhetik häufig völlig losgelöst vom Charakter der Person ist. Doch bei Tim DeLaughter ist dies anders. Er macht seinem Namen alle Ehre und strahlt eine grundständige Freude aus, seine Herzlichkeit ist umwerfend. Er verkörpert auf den ersten Blick genau die Klischees, mit denen The Polyphonic Spree, sein Projekt, zu kämpfen hat: Eine sektenähnliche Gruppe texanischer Hippies, die ihre Botschaft einer, als anbetungswürdiges Objekt geehrten Sonne, mit Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung und Musical-Einlagen a là Hair verbinden. Interessanterweise führt er sämtliche Interviews gemeinsam mit seiner Frau durch, die bei The Polyphonic Spree als Teil des Chores fungiert. Also ein Guru-Ehepaar, das einige Jünger um sich geschart hat, um die Welt zu bekehren?

Da werden schnell mal ein paar faszinierend klingende Erklärungen für ein Projekt angeführt, dass nicht so einfach in ein gängiges Muster gepresst werden kann. Die Wirklichkeit ist viel banaler. Ich bin nun mal der Initiator, The Polyphonic Spree ist so etwas wie mein Kind. Ich schreibe die Songs und die Texte, da ist es selbstverständlich, dass ich der bestimmende Faktor bin, im klassischen Bandkontext ist das ja häufig auch nicht anders.

Doch wo liegt eigentlich der Ursprung dieser Band, die sich zu einem 23-28köpfigen und orchestral anmutenden Gebilde entwickelt hat? „Ich hatte die Idee bereits vor vielen Jahren, als ich noch in Trippin’ Daisy meinen kreativen Output kanalisieren konnte. Sie schien dabei noch unglaublich weit weg zu sein, es war nicht mehr als ein Gedanke, der erst in vielen Jahren umgesetzt werden wollte. Nach dem tragischen Ende von Trippin Daisy fiel ich in ein unglaublich tiefes Loch. Umso stärker wurde der Drang, etwas Positives zu schaffen, ich wollte Hoffnung in einer für mich sehr düsteren Gedankenwelt. Der Anstoß dazu kam aber von außen, ohne mein Wissen wurden The Polyphonic Spree als Support für eine Grandaddy-Show engagiert, obwohl die Band noch gar nicht existierte. Also mussten innerhalb von zwei Wochen eine Band und ein paar Songs auf die Beine gestellt werden.

In den laufenden Jahren änderte sich die Besetzung immer wieder, die Zahl der Mitglieder stieg konstant an. Mittlerweile sind neben der bewährten Bandinstrumentierung ein Chor mit acht und mehr SängerInnen sowie klassische Orchesterinstrumente wie Blechbläser, Violine und Harfe Teil des Ganzen. „Die Zusammensetzung der Gruppe hat sich in der letzten Zeit aber mehr und mehr gefestigt. Seit der Gründung gab es verschiedene Wechsel, da die Band sich lange in einer Positionierungsphase befand, niemand wusste, wie sich die Sache entwickeln würde.“ Musikalisch war die Zielsetzung jedoch von Anfang an klar. „Natürlich ist gerade dieser Sunshine-Sound a là 5th Dimension ein sehr wichtiger Bezugspunkt, es ist ein bisschen wie eine Reise zurück in meine Kindheit. Der Grundgedanke von The Polyphonic Spree basiert auf dem Wunsch, Musik in diesem Stil zu machen. Aber ich bin kein ausgebildeter Musiker, sondern ein einfacher Songwriter. Gemeinsam mit der Band arrangiere ich dann die Songs. Dabei versuchen wir nicht, die Musik der damaligen Zeit nach formellen Kriterien möglichst genau nachzuahmen. Vielmehr soll das Gefühl, diese unglaublich positive Stimmung übertragen werden.

Gerade diese positive Grundstimmung schlägt sich textlich in starken Bezügen zur Natur wieder. Insbesondere die Sonne wird in diversen Stücken besungen, ihr fällt quasi die Rolle als heilsbringendes Element zu, „Hey, it’s the sun and it makes me shine“ (It’s The Sun, aus dem Vorgänger Album zum aktuellen "Together We're Heavy"). Tim DeLaughter möchte dies jedoch nicht wörtlich verstanden wissen: „Don’t get me wrong, I’m not a treehugger! Aber die Natur ist nun mal der einzige Lebensaspekt, der durchgehend positiv besetzt ist. Gerade die Sonne steht für so viele wunderbare Dinge, sie ist ein unglaublich starkes Symbol. Wir beten sie nicht an, aber sie ist unheimlich wichtig, da sie einen großen Einfluss auf uns Menschen hat.

Bei solch einer klaren Aussage lässt sich ein gewisser spiritueller Touch nicht mehr leugnen. Gerade weil The Polyphonic Spree nach außen hin durch ihre Roben und die Bühnenshow als eine Einheit auftreten, erwecken sie unwillkürlich den Eindruck einer religiösen Gemeinschaft. Da mag es so gar nicht hineinpassen, dass Tim DeLaughter scheinbar kein allzu ausdifferenziertes religiöses Weltbild hat: „Ich bin zwar kein Christ, aber dennoch ein sehr spiritueller Mensch. Ich glaube, dass es eine höhere Macht gibt, die in welcher Form auch immer Einfluss auf die Welt ausübt. Vielleicht steckt diese Macht auch in uns und in der Natur, ich weiß es nicht. Ich bin mir nur sicher, dass es etwas gibt, das über unsere Wahrnehmung hinausgeht, was wir mit unserem Denken nicht richtig fassen können.

Wichtiger als ein religiös-spiritueller Konsens ist innerhalb der Band der Wunsch nach dem gemeinsamen Erleben: „Wir haben innerhalb der Band ein unglaubliches Gemeinschaftsgefühl aufgebaut. Zusammen wollen wir Musik machen, die uns Hoffnung gibt und unsere Herzen erwärmt.“ Vielleicht liegt auch gerade darin der Grund für den Erfolg von The Polyphonic Spree. In einer von vielen als kalt und einsam empfundenen Zeit bauen sie Luftschlösser, in denen man zwar nicht wohnen kann, die aber wenigstens einen Silberstreifen am Horizont erkennen lassen.
foto: polyphonicspree


the polyphonic spree

weiterlesen...

Wortartisten [Lesereise]

Vom Sinn der sinnlosen Wortaneinanderreihung oder der Tragie-Komik des Erwachsen Werden.Die Kabarettisten Jochimsen, Gieseking und Grosche geben ihre Texte zum Besten; und mal ehrlich: "Gibt es etwas schöneres als Geschichten erzählt zu bekommen?"



"vielleicht sollte ich mehr honig sagen und dabei langsam weich werden."
(erwin grosche)

Es ist halb fünf am Nachmittag. Das Kleinkunstzelt des Open Flairs ist fast am Bersten ob der Massen an Menschen die sich aufgrund des strömenden Regens hinein schieben. Mit Mühe ergattert man als Interessierter noch einen Sitzplatz, letzte Bank, passable Sicht. Kurz bevor das plätschernde Nass seinen Höhepunkt erreicht, betreten drei Männer die kleine, schlicht ausgeleuchtete Bühne. Der Mittlere ist ein etwas untersetzter Mitvierziger, der ein T-Shirt mit der Aufschrift "Randgruppe" trägt, der Kabarettist und Autor Bernd Gieseking, Wahl-Kölner mit Wg-Zimmer in Kassel, welcher auch sofort das Wort ergreift. Er stellt sogleich sich und seine Nachbarn vor: auf der einen Seite Jess Jochimsen, 32, ebenfalls Kabarettist und Autor, Vater eines Sohnes, geboren im provinziellen München-Ost und wohnhaft in Freiburg; auf der anderen Seite Erwin Grosche, 48, Kabarettist, Schauspieler und Autor aus Paderborn.

Eine Vorliebe für das Eschweger Publikum scheinen die drei angesichts ihrer teils provinziellen Herkunft zu haben. So erzählt Gieseking zu Anfang von seiner Kindheit als Sohn eines Zimmerers auf dem Land in der Nähe von Minden, woraufhin er mit einem scharfzüngigen "Bei uns im Handwerk sagte man damals: Wir sind doch nicht aus Zucker" die Zuschauer, welche nur wegen des Regens das Zelt aufgesucht haben, auffordert, mit denen zu tauschen, die angesichts der Überfüllung nicht mehr hinein durften. Unzweifelhaft versteht er es mit dem Publikum zu kommunizieren und hält sich auch nicht – ganz zum Vergnügen der Zuschauer – mit spöttischen Bemerkungen hinsichtlich der auffällig in orange gekleideten Austeilern von Jägermeister-Werbegeschenken zurück. Doch um Kommunikation mit dem Publikum geht es eigentlich nicht an diesem Nachmittag. Vielmehr sind die drei Kabarettisten heute angereist, um – frei nach Jochimsens Motto "Gibt es etwas schöneres als Geschichten erzählt zu bekommen?" – ihren Zuhörern die bissigsten Kommentare, zynischsten Texte und lustigsten Geschichten aus ihren Werken vorzulesen.

Schon bald haben die Drei ihr Publikum in den Bann gezogen. Während Bernd Gieseking sich vorzüglich über Männer, Frauen und ihre Probleme beim Aufeinandertreffen oder alltägliche Kuriositäten auslässt, verarbeitet Jess Jochimsen seine Kindheit als "Sohn der beiden einzigen bayerischen 68er" in Form von pointierten Geschichten rund um das Erwachsenwerden, Erwachsensein und Erwachsen handeln. So erzählt er von seinen ersten Kusserfahrungen beim Flaschendrehen, einer Taxifahrt mit einem unglücklich verliebten Taxifahrer (und schwärmt dabei ausgiebig von Winona Ryder in Jim Jarmuschs Episoden-Taxi-Film "Night on Earth") oder davon, wie er voller Stolz sein erstes Buch im Buchladen (direkt zu finden vor James Joyce) signiert und es daraufhin wegen Beschädigung auch gleich kaufen muss. Seine Schilderungen ernten tosenden Applaus, reichlich herzhafte Lacher und stellenweise auch zustimmendes Kopfnicken.

Giesekings Texte sind weniger ausgearbeitete Erzählungen, als vielmehr Tagebücher zu verschiedenen Themengebieten. So gibt er einerseits Einblicke in sein Medientagebuch mit skurrilen, jedoch nach eigenen Aussagen wahren Schnipseln aus der Medienlandschaft. Er lässt sich hierbei ausgiebig über die angebliche Heilkraft von Pizza gegen Krebs aus, und versucht zu erörtern, welche Sorte nun welches Krankheitsbild bekämpft. Andererseits gibt er in seinem Künstlertagebuch bizarre Schöpferphanstasien zum Besten, indem er weißes Papier kopiert um seine Nachahmer in die irre zu führen oder versucht, das Farbspiel in seinem Kopf zu interpretieren: "Gelb. Ich denke gelb. Was will ich mir damit sagen?" … "Heute Blau. Ich kann mich auch an sonst nichts mehr erinnern." Den Höhepunkt der Unvernunft erreicht er wohl mit seiner Idee, einen bestimmten Zebrastreifen zu signieren: "Von da an sind alle anderen bloß Imitate". Im starken Kontrast zu seinen Mitstreitern steht der vielmehr Wort- und Rhythmus-Akrobat Grosche, dessen Komik absonderliche Lieder wie der Nudel-Song - zu dessen Hilfe er zwei Packungen eifrig schüttelnde Nudeln mitgebracht hat ("die dunklen für den Rhythmus, die hellen für den Swing") - oder phrasenhafte Gedichte und Erzählungen wie das phantastische finale „Worte vor Winterlandschaften“ ausmachen. ("Vielleicht sollte ich mehr Honig sagen und dabei langsam süß und weich werden. … Wenn ich einmal Ruhe suche, gehe ich auf den Friedhof. Dort sind keine lärmenden Motorradfahrer, jedenfalls keine lebendigen. Dort sind Höchstens pensionierte Golfspieler, weil die Löcher so schön groß sind. Wenn ich einmal Ruhe suche, gehe ich auf den Friedhof. Oder ich lasse mich dahin tragen. Honig, Honig, Honig…"). Seine Stärken liegen in Sinn- und Satzbaufreien Wort-Aneinanderreihungen mit höchstem Unterhaltungswert. Die Verschiedenheit der drei Kabarettisten macht das Programm aus. Es wird nie langweilig und bietet für jeden Geschmack den passenden Humor. Als die Besucher nach eineinhalb Stunden feinster Unterhaltung das Zelt verlassen, kann man auf dem ein oder anderen Gesicht ein zufriedenes Lächeln erkennen. Von draußen strömt einem eine angenehm frische Luft entgegen. Es hat aufgehört zu regnen.
foto:



bernd gieseking
erwin grosche
jess jochimsen
open flair festival

weiterlesen...

Jim Jarmusch [Coffee And Cigarettes]

Von Arnold Schönberg stammt das Zitat: "Kaffee und Zigaretten gehen einfach gut zusammen. Komponieren ist ein einsames Geschäft, und sie leisten mir dabei Gesellschaft." Jim Jarmusch weiß dies in seinem neuen Film episodenhaft zu unterstreichen.


"i like to drink coffee just before i go to sleep, so i can dream in indy500 speed."
(steve wright, strange to meet you)

"Ich erinnere mich noch an meine erste Zigarette. Freunde von mir hatten die Packung in einem Laden geklaut. Erinnere mich gut. In der Nähe von Akron, Ohio, wo ich aufgewachsen bin. Wir liefen die Schienen lang. Öffneten die Packung, ich weiß noch, war eine Packung Newports. Erst rochen wir daran. Das Menthol, weißt du, wie Süßigkeiten. Dann zündeten wir sie an, inhalierten, fingen an zu husten. Ein Paar Minuten später war allen schlecht. War aber so cool. Wie richtige, durch und durch verkommene Zehnjährige."

Jim Jarmusch formulierte diese romantisierten Gedanken eines Rauchers, der kurz davor ist, seine letzte Zigarette zu rauchen, und danach ein für alle Mal damit aufzuhören als sich selbst darstellende Figur in dem Film "Blue in the Face" von Regie Kollegen Wayne Wang und Paul Auster. "Zigaretten und Kaffee, verstehst du? Das werde ich vermissen. Das Heldenfrühstück." Dieses Heldenfrühstück serviert Jarmusch seit beinahe zwanzig Jahren Prominetnen in kleinen schwarz-weiß ästhetischen Kurzfilmen, welche dieses Jahr als Spielfilm im Kino veröffentlicht werden.

Erste Gehversuche dieses Projekts führen zurück in das Jahr 1986, als die später auch vom deutschen Fernsehen übernommene Comedytalentschmiede Saturday Night Life bei Jarmusch anfragte, einen Kurzfilm für die Show zu schreiben. Damals setzte er den Regisseur Roberto Benigni und den Kabarettisten Steve Wright an einen Café Tisch und ließ sie sich unter dem Titel Strange To Meet You bei Kaffee und Zigaretten begegnen. Aus dieser Idee entwickelte sich eine detailverliebte Leidenschaft, für welche namhafte Größen aus Film, Kunst und Musik, absurde und philosophische Gespräche zu und über Kaffee und Zigaretten führen, in welchen die Darsteller zwar stets sich selbst spielen, die Inhalte jedoch immer fiktional sind. Coffee and Cigarettes.

In seiner unnachahmlich mürrischen Art beschäftigt sich Bill Murray als Kellner in einer der jüngsten Episoden mit den Wu-Tang Köpfen RZA und GZA, die ihn vor den Gefahren der beiden Psychopharmaka warnen, und stattdessen für alternative Medizin begeistern wollen. Murray quittiert ihre Bemühungen auf plakative Weise, in dem er seinen Kaffee am Tisch direkt aus der Kanne trinkt.

Ebenfalls in der Rolle eines Kellners brilliert der amerikanische Independent Star Steve Buscemi im Gespräch mit zwei uneinigen Zwillingen, und berichtet von dem Streit zwischen Elvis Presley und dessen unbekannten bösen Zwillingsbruder, den Buscemi auch für den Untergang des Kings verantwortlich macht. In einer weiteren Episode unterhalten sich Tom Waits und Iggy Pop über die Jukebox im Café, die Songs keiner der beiden Musiker spielt, und Waits offenbart Pop als Endschuldigung für die Verspätung, dass er morgens am Rand eines Highways bei einem Notfall ein Baby zur Welt brachte, da er nicht nur Musiker sondern auch Mediziner sei. Sie sprechen darüber, wie wundervoll es ist, mit dem Rauchen aufzuhören, besonders, so Waits, da man schließlich wieder damit anfangen könne. Kate Blanchet überzeugt in einer Doppelrolle, in welcher sie bei einer Drehpause bei einer Tasse Kaffee auf ihre neidische, desaströs sozialisierte Cousine trifft, und Jack White erklärt seiner White Stripes Partnerin Meg die brillanten Entwicklungen des kroatischen Erfinders Nikola Tesla.

In jedem der elf Gespräche tasten sich die Protagonisten gegenseitig ab, suchen nach Schwächen im Gegenüber, und versuchen sich dann zu profilieren. Meist sitzen sie dabei wie Gegenspieler an einem kleinen quadratischen Café Tisch, auf dessen Schachbrettmuster Kaffeetassen und Zigaretten wie Läufer und Springer positioniert sind. Mental verbales Schach, wie Jarmusch selbst einräumt. Auf diese Weise dokumentiert er unsere intimen Schwächen, Verlangen und Obsessionen im Umgang mit anderen Menschen auf völlig unprätentiöse Weise in alltäglichen Situationen aus außergewöhnlicher Perspektive. Es gelingt ihm in Coffee and Cigarettes immer wieder nicht nur seine Leidenschaft für das Heldenfrühstück zu gustieren, sondern beweißt auch auf charmante und intelligente Weise, dass diese, wenn auch gesundheitsschädlichen Genussmittel, ähnlich eines Katalysators die Gedanken eines intimen Gespräches vorangetrieben und entfaltet werden wie der Rauch der Zigaretten. Rauch ist nichts fixiertes, er befindet sich in ständiger Bewegung und Umgestaltung, wie unsere Gedanken, die sich frei Bewegen. Und dann haben Zigaretten auch noch etwas Existentielles; sie erinnern dich an deine eigene Sterblichkeit. Jeder Zug ist ein flüchtiger Moment, ein flüchtiger Gedanke. Du weißt, du rauchst, der Rauch verschwindet und erinnert dich daran, dass Leben auch Sterben bedeutet.
foto: united artists


jim jarmusch
"coffee and cigarettes"
2004

weiterlesen...

Yann Samuell [Liebe Mich Wenn Du Dich Traust]

Kinderspiel.
In dem Film des belgischen Regisseur Yann Samuell zieht sich das Stück La vie en rose von Eidth Piaf wie ein roter Faden durch die turbulente, bittersüße Beziehung der beiden Protagonisten.


"ich wäre gern ein pudding. ein pudding mit aprikosen."
(sophie)


"Cap ou pas cap?" Die Wörter die den Film ausmachen. Die Wörter die am häufigsten fallen und die Wörter die den beiden Hauptfiguren das Leben, das Herz und das Lieben schwer machen. Seit sie Acht Jahre alt sind, zerstören Sophie und Julien ihre Herzliebe. Ohne es zu wollen, ohne es zu merken und ohne dabei zu denken. Ihr Kinderspiel - "Top-oder-Flop" in der deutschen Übersetzung - ist der Anfang ihrer Freundschaft und das Ende ihrer Liebe. Ihr junges Leben ist gezeichnet von jährlichen, monatlichen, täglichen und von stündlichen Top-oder-Flop Fragen. Das ganze Leben war für sie ein Spiel. Die Liebe auch. Doch irgendwann hat jedes Spiel ein Ende und man ist einfach davon überzeugt, dass es mit dem gemeinsamen Ende von Julien und Sophie zu enden hat. Es muss einfach so enden. Top oder Flop.

Julien (Guillaume Canet) und Sophie (Marion Cotillard) wachsen in den aller verschiedensten Umgebungen auf. Julien in einer feinen Gegend mit seinem Vater und seiner kranken Mutter, die für ihn sein Ein und Alles ist. Sophie hingegen lebt in einer Plattenbausiedlung in einer weniger gut situierten Gegend. Doch trotz ihrer Unterschiede, verbringen sie die meiste Zeit miteinander. Ihr Spiel Top-oder-Flop ist wohl ihr roter, leitender Faden, der eine lange Linie durch ihr Leben zieht.

Der rote Faden des Spiels ist eine rote Blechdose. Sie wird hin und hergereicht. Mutproben jeder Art werden von einer Person gestellt und die Andere muss sie mit dem Wort "Top" bestehen. Hat sie es geschafft, bekommt sie die rote Spieldose und darf selbst eine neue Top-oder-Flop Aufgabe stellen. Es geht darum, wer sich mehr traut. Wer mehr wagt und wer am Ende mehr gewinnt oder verliert. Früher waren es harmlose Kinderspiele, doch mit der Zeit wurden daraus Erwachsenen Spiele. Als Kind spielte man um witzige Dinge, die Keinem weh taten und die das Herz nur leicht berührten. Man streichelte des Gegners Herz allerhöchstens mit der Fingerkuppe. Doch als Erwachsener achtete man nicht mehr auf kleinen Fingerkuppen. Als Erwachsener stößt man seine ganze Hand ins Herz hinein. Man drückt zu und presst. Man zupft es wie Watte auseinander und läßt es dann alleine zurück. Man spielt nicht mehr nur um eine Spieldose, nicht mehr nur um ein Lachen und nicht mehr nur um ein nächstes Top-oder-Flop. Man spielt um das Herz, um den Verstand und um den Gegner.

Die beiden Schauspieler Thibault Verhaeghe und Joséphine Lebas-Joly, welche die Hauptfiguren als Kinder spielen, sind die wohl schönsten Kinder, die ich je gesehen habe. Sie sehen nicht nur wunderbar aus, sie spielen auch wunderbar. Ob im französischen Original oder in der deutschen Fassung. Vielleicht liegt es aber auch einfach an den Figuren die sie spielen müssen. Denn allein der Gedanke, dass Kinder in so einem jungen Alter schon so tolle Dinge sagen können, lassen mein Herz hoch hüpfen.

Was willst du mal werden, wenn du groß bist? - Tyrann. - Wow. Ein Tyrann der sein ganzes Volk knechtet? - Der Schlimmste von allen […] und du Sophie? - Mhm. Ich wäre gern ein Pudding. Ein Pudding mit Aprikosen. Oder aber auch ohne alles. Noch ein bisschen warm. In der Bäckerei. Im Schaufenster.

Man merkt dem Film an, dass es viele fiktive Gedanken sind, die immer wieder in den Raum geschmissen werden. Dass es Träume, Wünsche oder Gedanken sind. Ich beneide den Menschen sehr, der auf all diese Ideen gekommen ist. Gerne würde ich Yann Samuell, den Regisseur des Filmes, sehen und mir hoffentlich von ihm sagen lassen, dass Liebe niemals so kompliziert werden wird, wie in diesem Film. Kein Mensch hält so ein hin und her aus, wie es Julien und Sophie erlebten. Kein Mensch. Jedenfalls hoffe ich das. Es soll einfach fiktiv sein und bleiben. So etwas gehört nicht in die Welt hinein. Man soll sich nicht 10 Jahre aus dem Weg gehen und dann erst merken, wie das eigene Herz nach dieser einen Person schreit. Wie sehr es drückt und piekt. Wie kleine, feine Nadelspitzen sticht es dann auf den Brustkorb und man kann es einfach nicht abstellen.

Mit der ganzen Zeit die verstreicht, sieht man der Dose ihre Erlebnisse förmlich an. Man sieht ihr an, dass sie schon viel durchgemacht hat und etliche Schäden in sich trägt. Genauso wie Julien und Sophie, deren ganzes Leben fast nur ein Kinderspiel war. Sie packten ihre Gefühle immer wieder ein und versuchten sie so zu verbuddeln, damit sie niemand fand. Auch wenn es eine Zeit lang andere Menschen in ihren Leben gab, hatten sie immer schon tief in sich drinnen die Gewissheit der Liebe des anderen. Man wusste, dass man sich liebt. Hat sich aber nie getraut, die Worte "ich liebe dich" auch ernsthaft, ohne Top-oder-Flop, herauszubekommen.

Mit "Liebe Mich Wenn Du Dich Traust" bekommt man ein Stück "Die fabelhafte Welt der Amélie" und letztendlich merkt man doch, dass Frankreich wohl das Land der wahren Herzgeschichten ist. Top-oder-Flop.
foto: alamode


yann samuell
"liebe mich wenn du dich traust"
(jeaux d'enfants)
2004

weiterlesen...