Woog Riots [Interview: "Ein bisschen Frieden"]

Wie subversiv sind Irokesen? Warum lachen Amerikaner über Elefanten? Und warum kann man mit Nicoles „Ein bisschen Frieden“ keine Revolte mehr starten? Die Woog Riots haben sich für uns die Zeit genommen, um diese und andere Fragen zu beantworten. Mehr nach dem Klick!


"once i made a record / i did it for you all"
(woog riots)


Der Akt der juvenilen Verweigerung gegenüber dem – nicht immer im Einklang mit dem eigenem Weltbild befindlichen – Kodex der Elterngeneration wird zugegebenermaßen immer schwieriger. Selbst Irokesen verlieren ihren Reiz in einer dezidiert heterogenen Gesellschaft. Womit soll man noch schocken, wenn selbst der Schock ins Nachmittagsprogramm überführt wurde? Gestern erst wieder einen tapezierten Bankier mit mittellangen Haaren gesehen. Endlich, will man da sagen! Doch: gegen was und womit soll man nur rebellieren, wenn selbst Frisuren keinen subversiven Charakter vermitteln können? Geschlechterdispositionen? Anbiederung? Niedlichkeit? Nichts? Bitte kreuzen Sie an!

Die Formelhaftigkeit der Rebellion tragen Silvana Battisti-Rudow und Marc Herbert alias Woog Riots bereits im Namen und mag man den vielen Rezensenten ihres aktuellen Albums PASP vertrauen, so scheinen sie auch eine aktive, kritische Ader für sich gepachtet zu haben. Das will man gerne glauben, denn hinter PASP (People, Animals, Society, Places) verbergen sich wahrlich unumgängliche kritische Positionen, die es erst einmal aufzuzeigen gilt. Der Song „People Working With Computers“ ist in etwa eine stoische Allegorie auf den Fabrikarbeiter, der seinen Blaumann gegen eine Tastatur eingetauscht hat; ein anderes Beispiel ist „Paul McCartney“ – ein Abgesang auf den Patriotismus. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Und sie fortzusetzen würde bedeuten den eigentlichen Akteuren hinter den Texten nicht gerecht zu werden. Denn die Woog Riots sind weit mehr als bloße Problemaufzeiger und weit mehr als systemkritischer DIY-Riot-Pop. Silvana Battisti-Rudow und Marc Herbert haben sich ihr eigenes Referenzsystem geschaffen, in dem es vor allem um gleichberechtigte Bereiche geht. Da steht Kritik neben Komik neben Authentizität und der eigenen musikalischen Sozialisation. Ständig blinzelt es von der Bühne, ständig wird versucht einen ebenen Raum zwischen Künstler und Publikum zu schaffen, ja die Grenzen aufzuweichen. Um diese Bereiche geht es auch in unserem Interview, dass wir mit den Woog Riots geführt haben.

Live

Ihr ward vor kurzem für ein paar Gigs auf der Insel. Im Prinzip war das ja nicht euer erster Ausflug in das vereinigte Königreich. Wie werdet ihr in England aufgenommen?
Woog Riots: Das war unsere dritte Woog Riots Tour durch UK, abgesehen von ein paar vereinzelten Konzerten, die wir zuvor bereits in London hatten. Gerade die letzte Tour wurde sehr euphorisch vom Publikum aufgenommen. Die „Crowds“ waren nicht riesig, was aber eher daran lag, dass wir die Tour über Freunde und befreundete Bands organisiert hatten, ohne große PR Unterstützung.

Gibt es Unterschiede zwischen dem deutschen und dem englischen Publikum?
WG: Die „native speaker“ freuen sich über die Texte und wir werden ganz oft nach den Konzerten begeistert angesprochen. Da kommen Doppeldeutigkeiten zutage, die uns selbst noch gar nicht aufgefallen sind. So geschehen auf unserer diesjährigen USA-Tournee, wo der Song „Elephants & Mirrors“ wegen der Textzeile „my trunk is so long“ besonders gut ankam. Im UK hat die Popkultur einen viel größeren Stellenwert als bei uns. Da kann man noch mit der Oma des Veranstalters über z.B. The Smiths fachsimpeln.

Wenn man euch live erlebt, kommt man nicht um den Begriff der Intimität umhin. Ihr erzählt persönliche Anekdoten, verteilt Instrumente und sucht den Kontakt zum Publikum. Dass allerdings ganz unkonventionell und unprätentiös – was durchaus als Kompliment aufzufassen ist. Das Ganze mutet auch oft wie ein Versuch an, die Grenzen zwischen Publikum und Künstler aufzuheben. Den Raum, sozusagen in einen ebenen zu verwandeln, in dem die Größenunterschiede nur noch anatomischer und nicht mehr künstlicher Natur sind. Ist das ein bewusster Akt?
WG: Es ist ein bewusster Akt, da wir uns nicht mit gespielter Coolness über unser Publikum stellen möchten. Je mehr Publikum vorhanden, desto schwieriger wird das dann allerdings. Das Publikum soll teilhaben an dem, was auf der Bühne geschieht. Das finden wir auch gut, wenn wir selbst im Publikum stehen, da wir sehr oft auf Konzerte anderer Künstler gehen. Da wird das Rock’n’Roll Schema schnell mal langweilig. Am liebsten ist es uns natürlich, wenn wir es schaffen, dass alle tanzen.

Wie wichtig ist euch Authentizität auf der Bühne? Oder anders gefragt: was versteht ihr unter Authentizität?
WG: Die eigene Ausstrahlung ist wichtig. Was nützt ein aufgesetztes Hochglanz-Image, wenn es nicht zu unseren kritischen Texten passt. Wir verstehen uns in gewisser weise ja auch als politisch. Manchmal sind wir allerdings schon hin- und hergerissen und überlegen, ob wir mal so auftreten sollten wie Kraftwerk oder Who Made Who. Wir hatten bereits ein Arbeitsgespräch mit einer befreundeten Theater-Regisseurin und da kam genau diese Frage auf, wie authentisch wir sein möchten. Schafft man eine Kunstfigur geht der enge Kontakt zum Publikum verloren. Da spricht dich keiner mehr an nach dem Konzert, das wäre dann auch schade.

Wie wichtig ist euch der Dialog mit dem Publikum?
WG: Nach dem Konzert unterhalten wir uns sehr gerne und sind offen für Fragen und Gespräche. Während des Konzerts animieren wir, mit uns in musikalischen oder tänzerischen Dialog zu treten. Der Dialog mit dem Publikum ist uns also sehr wichtig.

PASP

Auf eurem aktuellen Album PASP nehmt ihr vielfach Stellung zu zeitgeschichtlichen oder prekären Fragen. Das allerdings in einer ziemlich ungewöhnlichen Art und Weise. Manchmal werden Geschichten erzählt. Manchmal verhandelt ihr ziemlich hintersinnig alltägliche Probleme und stellt diese in einen ungewöhnlichen Kontext. Und des Öfteren erhält der Text häufig durch die musikalische Umsetzung eine durchaus ironische Brechung. In „People Working With Computers“ oder „Backstage Lemonade“ kann man das beispielsweise sehr schön nachhören. Habt ihr solche Interpretationsansätze im Kopf, wenn ihr an den Songs arbeitet?
WG: Wir mögen es, in unseren Songs, Position zu beziehen. So werden Themen und Sichtweisen vorgegeben, wobei noch Raum für weitere Interpretationen bleiben soll. In „Backstage Lemonade“ beschreiben wir Rollenerwartungen an Mütter und wie diese angeblich nicht mit einem Leben als Künstlerin zu verbinden sind. Im catchy Refrain singen wir dann aber nur über die Limonade, die Backstage zusammen mit der Mutter getrunken wird.

Wie entstand eigentlich die Idee euer aktuelles Album in die vier Kernbereiche People, Animals, Society und Places einzuteilen bzw. was bezweckt ihr damit?
WG: Die Kernbereiche haben sich beim Schreiben der ersten Songs bereits herauskristallisiert. Es gab Stücke über Menschen, Tiere und Orte. Die Idee daraus ein Konzept zu machen entstand also in der ganz frühen Entwicklung des Albums. Dank des roten Fadens, kann man die Platte als Gesamtwerk sehen. Wer PASP verstehen will, braucht mehr als nur einzelne Downloads der besten Songs.

Wie erarbeitet ihr euch eure Texte?
WG: Zuerst gibt es Akkordfolgen, die mit Blindtext zu Melodien zusammen gefügt werden. Der Blindtext besteht aus Fantasie-Englisch und hat schon den passenden Flow zum Groove. Im nächsten Schritt wird der Blindtext mit Worten gefüllt. Die Themen ergeben sich aus alltäglichen Erfahrungen, Beobachtungen und Gesprächen zwischen uns. Wir schreiben die Texte dann tatsächlich im Zwiegespräch.

Welchen Stellenwert hat Komik bei den Woog Riots?
WG: Wir sind humorvolle Menschen. Daher tragen wir ernste Themen auch gerne mit einem Augenzwinkern vor. Reines Lamentieren und Anklagen ist nicht unser Ding.

Musikalische Sozialisation

Wo würdet ihr eure Wurzeln verorten? Was sind eure Einflüsse?
WG: Da gibt es vielfältige Wurzeln und Einflüsse. Vom musikalischen Pop und Underground der Sechziger bis hin zur Gegenwart. Beeindruckt sind wir von der Gegenkultur der 60er Jahre als Kunst, Literatur, Komik und Musik mehr miteinander verwoben waren. Beim Punk gab es zum ersten Mal die Ermächtigung Musik mit einem Do-It-Yourself Ansatz zu machen. Die Bandvorbilder reichen von Velvet Underground, Television Personalites bis zu LCD Soundsystem und Hot Chip.

Ich würde gern noch ein wenig bei eurer musikalischen Sozialisation verweilen. Unter anderem habt ihr 2004 eine eigens initiierte Compilation in die Wege geleitet und herausgebracht auf der ihr The Fall und im Speziellen Mark E. Smith huldigt („Perverted by Mark E“). Ein Blick in das Booklet und auf die Riege der vertretenen Künstler (u.a. Barabra Manning, Jeffrey Lewis, Rockformation Diskokugel, Preston School of Industry und Tocotronic) lässt erahnen, dass ihr in dieses Projekt eine Menge Herzblut und Zeit investiert habt. Was ist das Besondere an The Fall?
WG: Wir haben schon seit den 80ern The Fall gehört und waren fasziniert von Mark E. Smith. Die Radikalität seines nöligen Sprechgesangs, die permanente Repetition in Text und Musik, das Offensein für diverse Stilmittel wie z.B. Elektronika und Danceelemente ist wohl einzigartig. Die Idee zum Sampler kam nach einer Woog Riots Probe zustande. Wir stellten damals fest, dass wir schon einige Songs von befreundeten Bands über The Fall kannten. Zusammen mit unserem damaligen Bassisten Mathias Hill (Rockformation Diskokugel) haben wir dann alle möglichen Bands angeschrieben und um Songs über oder Coverversionen von The Fall gebeten. So kam dann schnell eine Doppel-CD zusammen.

Eure Zuneigung zum New Yorker Anti-Folk lässt sich nicht verheimlichen. Für den Song „Backstage Lemonade“ konntet ihr sogar Kimya Dawson gewinnen. Wie kam zu dieser Kooperation?
WG: Die Zuordnung zum New Yorker Antifolk ist eigentlich nie beabsichtigt gewesen. Wir mögen Moldy Peaches, weil die Art und Weise, wie der Gesang zwischen Kimya Dawson und Adam Green aufgeteilt wurde, uns sehr gut gefiel. Das interessanteste an der Antifolk-Szene ist das „Networking“. Man tauscht sich aus, geht gegenseitig auf Konzerte und hilft beim Buchen von Konzerten. Als Kimya auf Deutschland-Tournee war, hat sie einen „childsafe“ Übernachtungsplatz gesucht. Silvana hatte angeboten, dass sie bei ihr übernachten könne, da sie selbst Kinder hat. Der Song „Backstage Lemonade“ hat Kimya gleich gefallen, sie kannte die Problematik aus eigener Erfahrung. Wir haben ihre Vocals dann direkt nach dem Frühstück aufgenommen.

Mit wem aus der New Yorker Anti-Folk-Riege würdet ihr sonst noch gerne eine Kooperation eingehen?
WG: Am ehesten noch mit Beck, weil er es geschafft hat, klassisches Songwriting mit Dance- und Elektro-Elementen zu verbinden. Adam Green haben wir ja bereits auf unserer ersten Single mit „Friends of Mine“ gecovert.

In einem Interview soll Jonathan Richman mal gesagt haben: „Es gab in den Siebzigern keine größere Provokation, als nett zu sein!“ Etwas Ähnliches hat Intro-Redakteur Benjamin Walter über euch gesagt. Auf der einen Seite, beschreibt er einige eurer Songs vom Inhalt her als gesellschaftskritisch und auf der anderen Seite lobt er, dass man euch vordergründig auch einfach nur charmant finden kann. Liegt gerade in der Niedlichkeit ein Akt der Rebellion?
WG: Uns hat die Zuschreibung „Niedlichkeit“ eher geschadet. Wir hatten den Eindruck, dass wir in Deutschland dadurch weniger ernst genommen wurden und der Hörerkreis begrenzt blieb. In den Siebzigern mag das vielleicht noch provokant gewesen sein, aber seit Nicoles „Ein bisschen Frieden“ kann man damit auch keine Riots mehr starten.

Vielleicht verbirgt sich hinter dieser „Niedlichkeit“ auch eine sehr subversive Art der Kritik. Da kommt zum Beispiel so ein Song wie „People Working With Computers“, der unheimlich rhythmisch und tanzbar ist. Vom Text her wirkt er jedoch fast stoisch und beschreibt den modernen Fabrikarbeiter, der seinen Blaumann gegen eine Tastatur eingetauscht hat. Doch auch dieses Konzept geht auf, denn die Vortragsweise passt sich vielmehr dem Inhalt an. Wie schwierig ist es direkte Kritik zu üben?
WG: „Autobahn“ von Kraftwerk wurde nie als niedlich bezeichnet, obwohl der Text sehr einfach und eingängig war. So gesehen finden wir den Begriff „stoisch“ passender. „Click, Click, Click“, der Refrain von „People Working with Computers“ ist sehr einprägsam und funktioniert mittlerweile unter Fans wie ein Code. Gleichzeitig beschreibt „Click, Click, Click“ aber tatsächlich auch die Monotonie an vielen Bildschirmarbeitsplätzen. Also liegst Du ganz richtig mit Deiner Vermutung, dass wir eher subversive Kritik üben wollten, als falsch verstandene Niedlichkeit zu vermitteln. Direkte Kritik klingt dann eher nach Polit-Barde oder Deutsch-Punk, das ist uns zu wenig Pop. Direkte Kritik nach Art der Goldenen Zitronen finden wir allerdings sehr gut.

Noch eine Frage zum Schluss: Wann wird man wieder ein neues Album von den Woog Riots erwarten können?
WG: Im Herbst 2010 soll unser neues Album „Futurology“ erscheinen. Natürlich auch wieder ein Konzeptalbum ...

Danke für das Interview!
fotos: per schorn



woog riots
"pasp"
what's so funny about / indigo, 2008 CD
woog riots zuhause







woog riots
"strangelove tv"
what's so funny about / indigo, 2006 CD

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Telekaster [The Silent Anagram]

The Silent Anagram ist ein Gebilde aus Klangräumen, das beruhigender in seiner Unruhe kaum sein könnte. ‚All is sound’. Und so verliert sich auch die Stille im Klang und lässt das, was zwischen Kopf und Herz ist, im Gleichklang aus dem Takt schlagen.

"all that is solid melts into noise."


Es ist Nacht. Ich greife meine Kopfhörer, lege die Platte vorsichtig auf den Plattenspieler, warte bis die Nadel sich senkt und höre. Der erste Raum öffnet sich. Es fängt an zu Klackern, zu Rasseln. Ein Klavier schleicht sich dazu und beginnt ein niemals enden wollendes Intervall. Immer wieder finden sich dazu neue Klänge, Geräusche. Eine Melodica spielt eine scheinbare Melodie, die doch keine ist. Rauschen, Klappern, es regnet, drückende Störgeräusche, Instrumente. Sie spielen, stehen nebeneinander und bilden darin ein verlässliches Gefüge, das in seiner Monotonie beruhigend klingt (A Shift Full Of Shapes). Dann plötzlich der nächste Raum. Noch im Nachhall des vorigen wird es sphärischer, dröhnender. Dann Klangspiele. Tief und voll wie Kirchenglocken, hoch und metallisch hallend wie kleine Glöckchen. Es klingelt ruhig aber scheinbar willkürlich aus allen Richtungen. Doch auch hier findet sich ein Gerüst, das verhindert ins Haltlose zu fallen und das mit der Zeit unterschiedliche Assoziationen und Erinnerungen wachrufen kann (We Are All Balloons).

Im dritten Raum (Pyramids) ist es ruhiger. Er steht für sich, umgrenzt von den anderen. Wieder ein Klavier. Ein neues ewiges Intervall. Der Fall ist tiefer, die Geräusche dazu wieder rauschig und elektronisch, aber angepasster. Warm und wohlig. Entspannung. Zurücklehnen. Und wirken lassen. Das Klavier pendelt wie eine Lebensader ruhig vor und zurück. Immer weiter, wie tiefe Atemzüge. Ich sitze da, schließe die Augen und werde aufgesogen. Das Rauschen und Flirren nimmt zu und übertönt fast das Klavier, aber es findet zurück zur einfachen Melodie einer Geige. Der Raum ist erfüllt und es gelingt nur schwer in den nächsten einzutauchen.

In diesen werde ich hineingeworfen. Tauche wieder auf und höre den Lebensklang vom Klavier zuvor auf elektronischen Saiten. Es hat sich umgekehrt. Klingt fordernder. Dann gebrochene Gitarrenakkorde, wieder keine wirkliche Melodie. Aber auch hier das Gefühl bleiben zu wollen. Doch der Raum zieht sich plötzlich in sich zusammen und verschwindet (A World Full Of Ordinary Things). Die Nadel hebt sich und ich sitze da und höre die Stille. Sie rauscht.

Auf der zweiten Seite tauchen neue Räume auf. Sie kommen mir bekannt vor und sind doch neu. Stille Anagramme. Manches verdichtet sich noch mehr, anderes löst sich. Es wird orchestral und kurz hallt eine Stimme fern zwischen all dem Klang, wie ein Klagelied. (All That Is Solid Melts Into Noise). Dann wieder Knistern und Flirren. Ein Raum mit schönen Klängen und Störgeräuschen die an entfernte Presslufthammer erinnern (Where Driving Bells Are Ringing). Dann, nach einem Dröhnen im Kopf, wieder das ambientartige elektronisch Schwebende. (Your Fireworks Brighten My Sky). Zum Schluss der letzte Raum. Man betritt ihn nach einem sanften Übergang und wird dann durch diesen Klang überrascht. Etwas das so vertraut klingt und doch nicht einordbar ist. Ein bisschen wie knirschende Frösche an einem Sommerabend. Aber eben auch nicht wirklich. Es ist anders und mehr. Afrikanische Insekten sind es in Wirklichkeit. Ein unglaublicher Klang. In dem Raum wirkt alles schneller und lebendiger als vorher. Wie ein Aufbruch und ein Finale. Die Ruhe darin geht trotzdem nicht verloren. Klangspiele, die Frösche, gezupfte Saiten, Klingeln, die ewigen Wiederholungen. Nach vier Minuten reduziert sich langsam alles und zurück bleibt die Konzentration auf dieses Geräusch, bis sich die Nadel erneut hebt (No Moving Parts Contained). Die Stille rauscht immer noch. Aber sie ist sehr bewusst.

Eine unruhig beruhigende Platte. Sie bewegt sich zwischen geerdet warm und elektronisch kühl, ist schön und beschleichend, rauschig störend, melodiös ohne Melodie, tonal und atonal. „Monotony is intensity“ – die Intensität der Monotonie. Je genauer man hinhört, desto mehr wird es. Je weiter man sich entfernt, desto einheitlicher wirkt es. Und manchmal ist es auch umgekehrt. Immer wieder neue Geräusche, neue Klänge. Sie bilden Räume ohne feste Wände und letztlich immer auch Gefühl. Denn es gibt keinen Text, keine konkreten Melodien an denen man sich festhalten kann. Es gibt nur das, was die Musik mit einem macht. Es ist Musik für die Nacht, denn die Dunkelheit schluckt alles was ablenken könnte. Und so kann zwischen dem Störenden und Rauschenden in der Musik das gefunden werden, was sich durch alle Klangräume durchzieht. Etwas universell Lebendiges und gleichzeitig Verwurzeltes. Ein Klang für sich alleine. Teilbar, aber allein vielleicht doch am schönsten.

Telekaster ist ein Projekt von Matthias Grübel. Als phon°noir hat er bereits zwei Platten veröffentlicht, arbeitet an verschiedenen Theaterprojekten mit und geht mit seinem neuen Soloprojekt Telekaster einen weiteren eigenwilligen Weg. Unterstützt wird er dabei von dem Videokünstler Stefan Bünnig, der auch bei Liveauftritten die Musik visuell untermalt. Das Album The Silent Anagram ist ausschließlich als Vinyl auf dem britischen Label Panic Arrest erschienen.

Das naheliegendste und vielleicht auch schönste Anagramm von silent ist übrigens listen. So listen. Silently…
foto: mike ruiz


telekaster
"the silent anagram"
panic arrest, 2009 lp
telekaster

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3 Kurze [Culture Reject, Eamon McGrath, Clorinde]

Immer wieder schön, wenn man in den allmonatlichen Veröffentlichungen noch kleine Perlen entdeckt, die von solcher Strahlkraft sind, dass man sie am liebsten an einem bedächtigen Ort für die Nachwelt ausstellen möchte.


"come culture reject expect respect / you protect what is good ."
(inside the cinema, culture reject)



Immer wieder schön, wenn man in den allmonatlichen Veröffentlichungen noch kleine Perlen entdeckt, die von solcher Strahlkraft sind, dass man sie am liebsten an einem bedächtigen Ort für die Nachwelt ausstellen möchte. Platten, auf die man verweisen kann, wenn wieder die Rede ist vom Nachlassen der Qualität in der Popkultur. Platten, die nicht nachträglich als Staubfänger im Regal landen. Eine Platte wie zum Beispiel das selbstbetitelte Album des Kanadiers Michael O’Connell, der unter dem Pseudonym Culture Reject sein Debütalbum kürzlich bei White Whale Records vorgelegt hat.

Bei Culture Reject bekommt man wirklich Lust die LP wieder als Ganzes wahrzunehmen, anstatt sich von Single zu Single zu hangeln und sich im Vorfeld erst einmal durch halbgare bis mittelprächtige Songs wühlen zu müssen. Dieses ganze Selektieren wird man bei Culture Reject vermissen, denn konzeptuell dreht sich bei dem Kanadier alles um einen homogen Sound, um Anknüpfungspunkte zwischen den Songs und um Motive, die in veränderter Form von Track zu Track getragen werden. "Fast schon klassisch" könnte man da in den Raum werfen. Und so intuitiv diese erste Vermutung auch anmuten mag, um den Sound von Culture Reject zu beschreiben, so greifbar und triftig ist sie jedoch auch. Schon der Opening Track "Ain’t it on the Floor" wird von einem durchaus präsenten Glockenspiel begleitet, welches immer wieder durch andere Instrumente durchbrochen wird. Nicht mehr ganz so minimalistisch wirkt "Inside The Cinema" – direkt im Anschluss. Das Glockenspiel hört man hier vergeblich, ansonsten aber Bombast und repetitive Motive, die nacheinander von verschiedenen Instrumenten aufgenommen werden, sich ablösen, wiederkehren und später für immer im unteren Frequenzbereich der Lautsprecher verstummen.

Die einzige Komponente, die in dieses Schema nicht so ganz reinpasst ist der Bandname. Culture Reject beschreibt, im übertragenden Sinne, ein kulturelles Abfallprodukt, das man in den 11 Songs des Albums vergeblich suchen wird. Ein anderes kleines Manko mag sich auch bei der Umsetzung der Songs ergeben, denn Culture Reject ist in erster Linie der Multiinstrumentalist Michael O’Connell, der einfach gerne seine Bekannten zu sich ins Studio einlädt, um dann die inspirierendsten dieser Momente auf Band festzuhalten. Auf Tour wird er, wenn er nicht gerade mit allerlei Samplern und Sequenzern solo unterwegs ist, von Benji Perosin und Bernardo Padron (verantwortlich für die Bläsersektion), Paul Costello (Bass/Percussion) und Dylin North (Schlagzeug) unterstützt.

Bleibt nur noch abzuwarten, wie sich Michael O’Connell im November hierzulande präsentieren wird. Der Bonus im gleichem Atemzug mit Chad VanGaalen genannt zu werden, wird ihm hoffentlich volle Häuser bescheren. Culture Reject Live: 01.11. Galao (Stuttgart) /// 03.11. Mme. Claude (Berlin) /// 04.11. Keller Kunsthochschule (Kassel) /// 05.11. Schokoladen (Berlin)

Eamon McGrath hat mit Michael O’Connell jedoch nur wenig gemeinsam. Na klar, beide sind Kanadier, beide haben sich einen Ehrenplatz in der Riege von White Whale Records verdient und beide werden sich den Herbst über in Europa den Arsch abspielen. Aber so allmählich versickern auch schon die Argumente des Vergleichbaren. Eamon McGrath ist im Gegensatz zu Michael O’Connell ein bierseliger Geschichtenerzähler, der sich vielmehr in zwielichtigen Kaschemmen zuhause fühlt, als in der Gesellschaft von Kunststudenten jenseits der Festanstellung.

Gerüchten zufolge soll der nicht mal Zwanzigjährige McGrath schon unglaubliche 18 Alben mit gerade mal 100 Songs in seinem Kämmerlein produziert haben. Davor sollte man getrost den Hut ziehen, das heißt wenn diese Infos ihre Richtigkeit besitzen. Was man jedoch ohne Zweifel sagen muss, ist der Fakt, dass McGrath auf "13 Songs of Whiskey and Light" eine unglaublich rohe, alles vereinnahmende Energie versprüht, die hoffentlich der Anfang einer großen Karriere als erdiger Singer-Songwriter mit Hang zum psychedelischem Punk und Karohemden sein wird. Vergleichsweise könnte da der junge Bruce Springsteen herhalten, dessen Alben "Greetings from Asbury Park, N.J." (1973), "The Wild, the Innocent & the E Street Shuffle" (1973) und "Born to Run" (1975) so etwas wie ein Blaupause für bluesige Singer-Songwriter sind. Doch wobei Springsteen in diesen Jahren immer wieder die Nähe zum Soul gesucht hat, gibt es bei Eamon McGrath soulige Momente nur als Reibungswärme auf der Tanzfläche: roh, kurzweilig und kathartisch. Gitarre einstöpseln. Gain hoch drehen. Einzählen. Fertig.

Doch das soll nicht heißen, dass McGrath nur Testosteron und juvenile Energie versprüht und dass nach der großen Verpuffung keine großen Taten folgen. Ganz im Gegenteil. McGrath ist, wie auch sein herbeizitiertes Vorbild Springsteen, ein exzellenter, bisweilen sogar ausdrucksstarker Geschichtenerzähler, der seine Zuhörer durch lebensnahe Berichte von der Talsohle des Lebens in den Bann zieht. Addiert man dazu noch seine charismatischen Live-Performances wird man sicherlich besser verstehen, warum McGrath seine Texte eher schreit als singt. Er will sich Gehör verschaffen, obwohl er das eigentlich nicht müsste. Die betörende Lautstarke ist eher ein Nebenprodukt. Notfalls lässt sich die Bedächtigkeit, die die Geschichten, wie McGrath sie erzählt, eigentlich verlangen, zuhause herstellen - auf der heimischen Stereoanlage.

Bedächtigkeit ist allerdings auch ein gutes Stichwort, um den Ansatz des italienischen Ambiet-Duos Clorinde zu beschreiben, die derzeit auf "The Creative Listener" die Rückkehr zur Langsamkeit feiern.

Clorinde haben ihren Namen vermutlich einem Asteroiden zu verdanken, der 1889 von Auguste Charlois entdeckt wurde. Falls das jedoch nicht der Fall sein sollte, dann haben sich die Brüder Andrea Salvatici and Simone Salvatici wenigstens einen wirklich wohl klingenden Namen für ihr Projekt ausgewählt. Homogen ist auch ihr Ansatz von Musik, der immer wieder verschiedene Instrumente miteinander kombiniert, die in dieser Form höchstens bei den experimentellen Isländerinnen von Amiina oder bei Hauschka zu hören sind. Da finden sich neben den herkömmlichen Saiteninstrumenten, die die Popmusik für sich gepachtet zu haben scheint unter anderem auch Xylophone, Glockenspiele, analoge und digitale Synthesizer und auch diverses Schlagwerk.

In der Summe fallen die kleinsten Teile jedoch nur noch als bloße Geräusche auf. Als Versatzstücke, die miteinander spielen und sich umkreisen, die sich ohne Herkunft in den cinemascopen Sound von Clorinde einspeisen lassen. Bei der Fülle an Instrumenten, die auf "The Creative Listener" verwendet werden, hört man auch irgendwann auf, nach ihren eigentlichen Namen zu forschen und gibt sich ganz der Versenkung hin. Man lässt sich in den Strom hineinziehen.



Culture Reject
"s/t"
white whale records, cargo 2009 cd
Culture Reject





Eamon McGrath
"13 songs of whiskey and light"
white whale records, cargo, 2009, cd
Eamon McGrath





Clorinde
"the creative listener"
etruscan records, 2009, cd
Clorinde

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кожа [Lebensborn]

Lebensborn fordert heraus und bringt seinen Hörer an die Grenzen dessen, was man sich selber zumuten möchte. Denn mit Lebenbsborn zieht кожа den Hörer hinab in die schattig-schwarzen Abgründe, die unsere Gesellschaft heute, ebenso wie in der Vergangenheit, zu bieten hat. Lebensborn holt einen mitten hinein in alles, vor dem es viel einfacher ist die Augen zu verschließen.

"There is no control of what can’t be controlled."
(meatmarkets II)


Mit Lebensborn betitelten die Nazis Heime, in denen "erbgesunde", "reinrassige" Kinder verschwiegen geboren werden konnten. Ziel dahinter war es die "arische" Rasse anwachsen zu lassen. Ein absurdes wie beklemmendes Vorhaben. Ebenso beklemmend breitet sich Lebensborn als zweites eigen -ständiges Album des Musikers und Produzenten Mirco Dalos aus, der zunächst als Koza und mittlerweile unter dem Namen кожа (russisch: Haut) arbeitet. Musikalisch wird er unterstützt von einer, von ihm selbst so bezeichneten, Biomasse an Musikern, bei der es sich zum Großteil um von ihm bereits produzierte Künstler handelt.

Sich Lebensborn zu nähern bedeutet sich in erster Linie inhaltlich einzulassen. Nur musikalisch verfehlt es seinen Sinn. Denn in sieben Stücken leitet кожа in sieben Abgründe, in die der Hörer mal subtil mal sehr deutlich gelenkt wird. Die Musik tritt dabei fast in den Hintergrund, ist aber dennoch präsent und wohl gewählt. Sie zu greifen ist schwer. Jedes Stück hat nicht nur inhaltlich sondern auch musikalisch einen eigenen Charakter. Mal düster, mal stampfend, mal kriechend, mal barsch. Die jeweils unterschiedlichen Sänger unterstützten diesen Eindruck zusätzlich.

In den ersten Abgrund (Meridian) fällt man blindlings und ahnt nicht, wie tief der Fall wird. Zunächst spricht Adorno in einer Art Prolog über die nahezu Unmöglichkeit wirklicher Kunst in der verwalteten Welt nach der europäischen Katastrophe in Form des Holocaust. Es kann keine wirkliche Kunst geben ohne die Auseinandersetzung mit dem was geschehen ist. Und nach Adorno schafft es kaum jemand, sich dieses Hinsehens zu stellen. Aber dann wird hingesehen und erzählt. Zu stampfendem Rhythmus von dem Geburtstag eines kleinen Jungen. Es geht um schwere Kindesmisshandlung und die Hölle, die ein Elternhaus sein kann. Und die Narben, die niemals wirklich verschwinden. Zu ahnen, dass eine Last an autobiographischen Erinnerungen in diesem Text verarbeitet ist, lässt einen kaum aushalten, was in die Ohren drückt. Es ist vielleicht der härteste Einstieg, den man für eine CD wählen kann. Nicht weiter hören wollen ist ein großer Impuls. Aber in Verbindung mit den Worten Adornos erhält Meridian nach mehrfachem Hören eine weiterreichende Fragestellung, die über die CD hinaus wirkt. Ist das ‚Abnormale’ doch gewollt in einer verwalteten und kontrollierten Welt, und gilt dann selbst Kindesmisshandlung als tolerierte, aber kontrollierte Nische? Und wenn ja, wer profitiert dann davon? Etwas das jeder für sich selber beantworten muss. "Lebensborn" widmet sich dem scheinbar Abnormalem und gleichzeitig dem verwaltet Normalen und es wird deutlich, wie milchig die Grenzen dazwischen liegen.

Nach Meridian wird die Platte anders. Nicht leicht, nicht hell, das wird sie nie, aber anders. Melodischer, musikalischer. Die Themen bleiben weiter bedrückend. Der gewollt genormte identitätslose Mensch (Lebensborn), die Indoktrinierung durch medial verfügbaren Dreck (Your Televangelist), die Fäulnis zwischenmenschlicher Beziehungen (Sound fingers).
In Fearsome Freezone mischen sich vordergründig harmlose Volkslieder mit Zeitzeugen-Aussagen über das KZ Treblinka sowie Auszügen aus einem Interview mit Raul Hilberg zu einem grotesken Blick auf das, was Menschen bereit sind zu verdrängen, obwohl es so deutlich vor ihnen liegt.

кожа scheut sich nicht den Finger gesellschaftskritisch in die Wunden zu legen, verzichtet dabei aber darauf den moralischen Zeigefinger in die Höhe zu recken. Im Gegenteil fordert "Lebensborn" den Hörer heraus sich nicht nur bedienen und beschallen zu lassen, sondern sich mit dem Gehörten auseinander zu setzen und schließlich auch sich selbst zu hinterfragen. Denn es ist sicherlich nicht verwerflich sich gegen Lebensborn zu entscheiden. Manchmal kann man nichts anderes als die Augen zu schließen. Zu verschließen. Weil es unaushaltbar ist immer hin zu sehen, hin zu hören. Aber letztlich sind wir auch erfahren genug um zu wissen, dass das, vor dem man die Augen verschließt, dennoch da ist.
foto:


кожа
"lebensborn"
data file music, 2009 cd
кожа

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Essay [Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?]

Morbides Kinderspiel oder kollektive Angstpsychose? Die Figur des schwarzen Mannes ist ein ambivalenter Topos in der Literatur- und Filmgeschichte. Ob als Gewaltverbrecher in M – Eine Stadt sucht einen Mörder oder als Sandmann bei E.T.A. Hoffmann, der schwarze Mann ist stets pathologisch.


welches Recht habt ihr zu urteilen! wer seid ihr denn… alle miteinander? verbrecher!
(peter lorre in m – eine stadt sucht einen mörder)


Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? ist der Titel eines Kinderspiels, welches sich in mehreren Variationen bis in die heutige Zeit gerettet hat. Der schwarze Mann ist dabei der Häscher. Derjenige, der die anderen Mitspieler immer wieder auffordert, in die Ecke drängt und auf seine Seite zieht. Und obwohl seine Gegner auf die Frage, ob noch jemand Angst vor ihm hat, beständig mit „Niemand“ antworten, so zieht der schwarze Mann im Spielverlauf seine Kreise, tippt seine Gegner an, die dann durch Aufforderung für ihn agieren.

Psychoanalytisch gilt der schwarze Mann jedoch als Inbegriff der kindlichen Angst – eines kollektiven Unbewussten. Jener wird deshalb auch von manchen Eltern eingesetzt, um die Kinder zur Raison zu bringen und sie im Endeffekt auch einzuschüchtern. Das Szenario wird vermutlich jeder kennen: Nach dem Sandmännchen kommt die allseits bekannte Frage: „Darf ich noch ein bisschen fernsehen?“ Mutter und Vater suchen dann händeringend nach Formeln, um das Kind ins Bett zu bewegen. Wenn gar keine Argumente mehr fruchten, versuchen sie es mit dem schwarzen Mann oder einer anderen Kinderschreckfigur: „Tu was ich sage oder der schwarze Mann wird dich holen.“ Das Kind wird dann nörgelnd die Segel streichen und sich fügen. Was die Autorität der Eltern nicht vermochte, wird durch eine fiktive Gestalt erreicht.

Eine Figur ähnlicher Prägung ist der Sandmann, der entgegen der heutigen Annahme, im 19. Jahrhundert noch deutlich abgründigere Charakterzüge trug. In E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung ist der Sandmann ein Schreckgebilde mit wandelbarem Gesicht, das nachts den Kindern Sand in die Augen streut und im schlimmsten Fall diese dann herausreißt. Was an dieser Erzählung fehlt, ist die Illusion einer intakten Welt: der lange schlohweiße Zottelbart des kleinen Männchens, das wir heute Sandmann nennen, die Heimeligkeit beim Betrachten desselben und die darauffolgenden Kindergeschichten vor dem Fernseher. Der Sandmann Hoffmanns ist ein albtraumhaftes Gegenstück, das nicht viel mit seinem modernen Vertreter gemeinsam hat.

In Jon J. Muth Graphic Novel M (erstmalig 1990 publiziert, seitdem leider vergriffen, jüngst wiederveröffentlicht bei Cross Cult) fehlt ebenso die Illusion einer intakten Welt, denn der schwarze Mann ist in diesem düsteren Szenario in der Gestalt eines Kindermörders Realität geworden. Während Hoffmanns Figur des Sandmanns noch Teil einer psychotischen Traumwelt zu sein scheint, tritt der schwarze Mann in M als ein Albtraum in die reale Welt.

Nach Klaus und Klara Klawitzky wird nun auch Elsie Beckmann vermisst, die mit ihren Freundinnen Ball spielen war und danach nicht zurückgekehrt ist. Alles deutet auf ein Verbrechen. Die städtische Bevölkerung gerät daraufhin in einen andauernden Alarmzustand, doch er, der schwarze Mann ist nicht aufzufinden, denn er hat kein Gesicht. Alle sprechen darüber und keiner weiß, was geschehen ist. Es folgen psychotische Szenen auf der Straße. Bekannte werden denunziert etwas mit dem Morden zu tun zu haben, Passanten werden auf dem Bürgersteig angehalten, weil diese sich mit Kindern unterhalten haben. Als die Polizei weiterhin im Dunkeln tappt, obgleich sie den Fahndungsbereich bin ins Unermessliche ausweitet und immer öfter Razzien im Rotlichtviertel durchführt, beschließen die Barone der Unterwelt selbst nach dem Täter zu suchen. Daraufhin werden an jeder Straße und an jedem öffentlichen Ort Posten aufgestellt, um die Umgebung zu scannen. Mit verschiedenen Mitteln kommen Kriminalisten sowie Kriminelle auf die Spur des Täters. Doch wohingegen die Polizei lediglich die Wohnung und den Namen des Täters ermittelt hat, wird der Mörder von den Baronen der Unterwelt gestellt und soll in einem Prozess der Schuld überführt werden.

In diesem film noir-ähnlichen Setting verbirgt sich ein düsteres Sittengebilde, das Jon J. Muth in gedeckten Braun- und Grautönen nachzeichnet. Inspiriert wurde die Graphic Novel von der gleichnamigen, filmischen Vorlage von Fritz Lang aus dem Jahre 1931. Textlich hält sich Muth dabei sehr stark an das Originaldrehbuch von Lang und Thea von Harbou. Doch M ist – bildlich gesehen – keineswegs eine Kopie des Originals, denn Muth hat die prägnantesten Szenen und Einstellungen aus Langs Film mit einer Gruppe von Schauspielern in Cincinnati nachgestellt. Diese Eindrücke hat er fotografiert und später mit Tusche und Pinsel reinszeniert. So treffen in der Graphic Novel fotorealistische Szenen auf nachgefärbte Hintergründe und einzelne Figuren und Objekte erhalten so eine völlig neue Akzentuierung. Im letzten Kapitel beispielsweise, in dem die Geschichte ihren Höhepunkt erreicht und der Mörder Hans Beckert verurteilt werden soll, scheinen sich die Panels mehr als sonst aus dem Seitenkontext herauszulösen. Sie verschwimmen in einem Film aus Ölfarbe, zwischen Mimesis und Verfremdung, zwischen Ohnmacht und Angst.

Fritz Langs filmische Vorlage

M ist ein wahrer Motivschatz – bildlich wie inhaltlich – und überaus interessant für Comic-Liebhaber. Doch dies ist nicht einzig Jon J. Muth zu verdanken, sondern resultiert auch aus der wirklich dichten Atmosphäre des Films von Fritz Lang. Lang wiederum ist einer der großen Regisseure des europäischen Kinos (Metropolis, Das Cabinett des Dr. Caligari, Die Frau im Mond) und kreierte mit M – eine Stadt sucht einen Mörder nicht nur einen der ersten Tonfilme, sondern auch ein klaustrophobisches Meisterwerk des expressionistischen Kinos.

Bei der Recherche interessierte Lang vor allem das gesellschaftliche Klima der Weimarer Republik und im Speziellen die Auswirkungen von Gewaltverbrechen auf das gesellschaftliche Miteinander: „In den meisten Fällen findet man eine fast gesetzmäßige sich wiederholende Erscheinung der Begleitumstände, wie die entsetzliche Angstpsychose der Bevölkerung, die Selbstbezichtigung geistig Minderwertiger, Denunziationen, in denen sich der Hass und die ganze Eifersucht, die sich im jahrelangen Nebeneinanderleben aufgespeichert hat, zu entladen scheinen, Versuche zur Irreführung der Kriminalpolizei teils aus böswilligen Motiven, teils aus Übereifer.

Daher beginnen Film und Graphic Novel mit einer befremdlichen Sequenz. Man erblickt die Skyline einer unbekannten Stadt – vom Dialekt ihrer Bewohner durchaus mit Berlin vergleichbar –, im nächsten Strip sieht man spielende Kinder, die dabei ein morbides Lied singen: „Warte, warte nur ein Weilchen, / bald kommt der schwarze Mann zu dir, / mit dem kleinen Hackebeilchen, / macht er Schabefleisch aus dir.“ Vorlage dieses schrecklichen Liedes ist Fritz Haarmann, der von 1918 bis 1924 24 Jungen ermordet hat. Die breite Berichterstattung des Falles Haarmann alarmierte die Öffentlichkeit in der Mitte der 1920er Jahre und schuf, neben einer Sensibilität für das Thema des sexuellen Missbrauchs, eine flächendeckende Angstpsychose in der Bevölkerung, denn was Haarmann getan hatte, schien auf einmal überall möglich.

M – Ein moralischer Appell?

Der Haarmann in M ist ein Mann aus der Mittelschicht, der eine ganze Stadt in den Alarmzustand versetzt. Als Hans Beckert (In Fritz Langs Film wird dieser durch Peter Lorre verkörpert) erhält er seine bürgerliche Identität, sein wahrer Charakter ist jedoch weitaus psychotischer und absolut gefährlich. Beckert ist klar ersichtlich ein Wahnsinniger mit einer multiplen Persönlichkeit. Während sein bürgerliches Ich unter seinen Taten leidet, sichtet sein psychotisches Ich schon das nächste Opfer. Dieser Umstand verleiht der Figur eine moralische Ambivalenz, die sich am Offensichtlichsten in der Gerichtsverhandlung zeigt. Beckert wird von den Baronen der Unterwelt zur Rede gestellt. Die Absicht des Wortführers Schänker – selbst wegen Totschlag in drei Fällen gesucht – ist klar ersichtlich: „Wir wollen dich unschädlich machen.“ Doch Beckert zweifelt an der Glaubwürdigkeit des Gerichts: „Welches Recht habt ihr zu urteilen! Wer seid ihr denn… alle miteinander? Verbrecher!“ Folgt man dieser Argumentation so ist die Schuld auch auf der Seite des Klägers zu suchen. Der moralischen Ambivalenz dieser Szene folgt ein Zusammenbruch der Ordnungen von Gut und Böse, von falsch und richtig. „Am Ende“, so schreibt der Filmwissenschaftler Georg Seeßlen „sind alle schuldig, aber niemand ist verantwortlich (schon weil wir niemandem begegnen, der in der Lage wäre, Verantwortung zu übernehmen)“.

Die Figurengeschichte des schwarzen Mannes wird also auch in M – Eine Stadt sucht einen Mörder fortgesetzt. Doch im Gegensatz zum ungreifbaren, weil konturlosen Sandmann bei E.T.A. Hoffmann tritt der schwarze Mann in M wie ein zum Leben erweckter Albtraum in die wirkliche Welt. M ist zugleich jedoch auch ein Rekurs auf die kollektiven Ängste, die nicht nur die Weimarer Republik geprägt haben, sondern beinahe zeitlos sind. Muth und Lang greifen diese Ängste auf und verpflechten sie in eine moribde Geschichte, die leider genauso zeitlos ist wie die Figur des schwarzen Mannes.

oberes Foto: Peter Lorre als Hans Beckert
Portrait: Fritz Lang (Bild von goldenageofhollywood.co.uk)



jon j. muth
"M"
cross cult, 2009







fritz lang
"M - Eine Stadt sucht einen Mörder"
UFA
peter lorre







e.t.a: hoffmann
"Der Sandmann"
Reclam

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Haldern Pop [Rees-Haldern, 13.-15.08.2009]

Vom Glück der Sekunde



"Commuplication"
(festival motto 2009)


Jeder weiß dass es die permanente Glückseligkeit nur in Rosamunde Pilcher Filmen und in der Imagination zweifelhafter Kitschromane gibt. Im realen Leben kommt das pure Gefühl des Glücks eher selten vor und in der Popmusik noch ein bisschen weniger. Vielleicht würden wir es gar nicht bemerken, wenn wir es nicht mit der Lupe suchen müssten, darauf warten könnten um es im Limit des Momentes voll auszuschöpfen.

Es sind ganz unterschiedliche Dinge, die jeden von uns auf eine eigene Weise berühren, aufregen, bewegen. Für den einen ist es das Wiedersehen mit dem Freund am Flughafen, der erste Urlaubstag in einem fremden Land, die erste Currywurst nach 4 Jahren vegetarischer Enthaltsamkeit. Wiederrum andere beziehen ihre Ration Glück und Zufriedenheit aus Musik, aus Akkorden, Melodien, Harmoniken, Stimmen und Rhythmen.

Eine Musikveranstaltung wie das Haldern Pop Festival strotzt regelmäßig nur so vor denk und feierwürdigen Glücksmomenten, Umgebung, Örtlichkeiten und Ambiente sind ebenso hervorragende Indikatoren wie die zurückhaltende Organisation. Seit 26 Jahren reift in Haldern ein beständiges Team dass immer wieder Wagnisse eingeht um die Qualität des Festivals zu bewahren oder sogar zu anzuheben.

Man spürt die Erfahrung und den sicheren Umgang mit Künstlern, Technik und Zuschauern an allen Ecken und Enden, das Konzept wirkt routinierter denn je, entbehrt jedoch nie einem amateurhaften und sorgfältig gepflegtem Charme, auf den Verantwortliche wie Besucher großen Wert legen. Während man sich bei anderen Großfestivals getrost auf die Devise „alle Jahre wieder“ verlassen kann, beschert das Haldern ihren Fans regelmäßig kleine oder größere aufregende, bei manchen sogar zur Sorge ausartende Änderungen und innovative Ideen, die in den Augen einiger an der Verlässlichkeit des Festivals kratzen. Dieses Jahr wurden auffällig viele Singer/Songwriter gebucht, für manche Besucher nach Schema F: Typ bärtiger Melancholiker an der Klampfe. Im Vorfeld wurden vermehrt Rufe nach brüllenden Gitarren, reissenden Riffs und einer fetten Rhythmusmaschine laut. Kurz; man verlangte nach waschechtem Rock. Was manchen als Manko erschien wurde für die allermeisten zu einem roten Faden, der das Haldern gepaart mit dem Sonnenwetter dieses Jahr zu einem vollkommen runden und in sich schlüssigem Wochenende machte. Es gehört eine gesunde Portion Selbstvertrauen und Mut dazu auf einem Festival - wohlgemerkt eine Massenveranstaltung - den Fokus auf das Leisere, etwas Schlichtere in der Popmusik zu legen, und sich nicht davor zu scheuen Künstler wie Bon Iver und die erstaunlich zurückhaltenden und bisweilen belanglosen Noah And The Whale auf die Hauptbühne zu stellen, immer mit dem festen Vertrauen auf ein zivilisiertes und dankbares Publikum. Die Rechnung ging auf, die Auftritte von dem hochmusikalischen Andrew Bird, William Fitzsimmons (demnächst im lichter-Interview!) und Bon Iver wurden trotz manch verwirrender Programmänderung bestens angenommen und fügten sich wunderbar in die rotzigen und experimentellen Sets, die es natürlich auch in ausreichender Zahl gab. Ein für sicher sehr viele prägender Moment war der in der Nachmittagssonne spielende Bon Iver, der bei völliger Stille im Publikum ein höchst intimes und intensives Konzert lieferte, und bei den Zuhörern den Eindruck eines vollkommen unaffektierten Menschen und Musikers hinterließ, der in Haldern wie die Faust auf das sprichwörtliche Auge passte.

Dieses Jahr gab es wie üblich auch wieder einige Wiederkehrer auf den Bühnen, als perfekte Festivalband erwiesen sich am Samstagvormittag die Maccabees, mit neuem Album und gewohntem Charme im Gepäck war ihr Auftritt ein Höhepunkt des Wochenendes. Ebenso Anna Ternheim, die mit vollem Bandaufgebot und (leider unmöglicher)Backgroundsängerin genauso eindringlich und authentisch war wie alleine am Klavier. Weitere atmosphärisch dichte und erinnerungswürdige Konzerte boten Wintersleep, Woodpigeon sowie Grizzly Bear, drei junge aufsteigende Bands, die den Trubel um sich redlich verdienen und sich psychodelische Experimente und ausufernde Songlängen leisten können ohne zu langweilen.

Bei so viel künstlerischem Potential und der absolut geglückten Zusammenstellung der Bands bleibt nur eine Frage: Was hatten Fettes Brot als Headliner und Abschlusskonzert auf der Haldernbühne zu suchen? Ähnlich wie bei Jan Delay vor zwei Jahren passte der Auftritt der Hamburger Feierproleten nicht in das sonst so glasklare Konzept und die Stimmung des Wochenendes.

Dennoch war das Haldern wieder ein Platz zum glücklich sein, sei es für das abgezapfte Popwasser, die Dusche vor der Bühne, den See, die Sonne, die Spiegelzeltleinwand oder einfach nur für den Refrain, den Schlussakkord oder den Bart des Sängers.
Wir kommen wieder!
foto:


haldern pop

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Talons [Songs for Babes]

Ein paar wörtlich zu nehmende Anekdoten, eine Ansammlung von Frauennamen und ein Repertoire an eigentlich ganz alltäglichen Hintergrundgeräuschen zaubern ein Album zusammen, das berauscht – und viel verrät.

"There is a lot in these songs that is recorded and then mixed just below the level of being audible. I hoped it would have some unconscious effect, but it probably is just inaudible."
(mike talon)


1. Natalie
Von Genres halte ich nicht besonders viel. Aus diesem Grund möchte ich das Album mit einer Genrebezeichnung betiteln, die sich von üblichen abhebt, und die ich auf einem Blog namens slowcoustic.com fand: Bedroom folk. Denn Folk ist nicht gleich Bedroom folk, und es steht außer Frage, dass Mike Talons kleines, zusammen geschnippeltes Album zum Thema (Ex-)Freundinnen keiner besseren Bezeichnung gerecht werden könnte, ist es doch auch größtenteils in einem Schlafzimmer geschrieben und aufgenommen worden. Eigentlich kann "Songs for Babes" nirgendwo anders hinpassen.

2. Maddy
Auf dieser Platte findet sich eine ganz neue Definition von Musik: Wurde unter diesem Begriff bisher doch das Zusammenspiel verschiedener Instrumente und Gesang verstanden, schneidert Mike Talon gemeinsam mit Freunden Musik aus einer ganzen Bibliothek von Sounds. Hier wird Musik mit markanten Polizeisirenen – wie in Maddy -, dem Rauschen vorbeirasender Züge, Regenprasseln, Möwenschreien, Meeresrauschen und allerlei anderen Nebengeräuschen gemacht, die nicht immer mit Absicht dort gelandet sind, wo man sie im Endeffekt hören kann.

3. Erin
So hört man ganz versteckt, ganz fern, in Erin jemand anderen ein anderes Lied singen – sein Freund Keith nahm einen Stock unter ihm ebenfalls ein Lied auf, wie Mike Talon in einer kleinen Stellungnahme verrät. Auch erfahre ich, dass das Lied Erin einer Frau mit selbigem Namen, die er auf einem Konzert kennenlernte und die ihn faszinierte, gewidmet ist, der er aber aus verschiedenen Gründen nicht nach Hause folgen konnte. „Oh Erin, I wish I would have followed you home“ - und ein mysteriöser Hinweis auf den elften September.

4. Angela
Ganz offensichtlich ist Talon ein Mann, der seine Musik nicht unkommentiert lassen kann. So gibt es ein Dokument zu lesen, in dem zu jedem einzelnen seiner bisher veröffentlichten Songs eine Erklärung niedergeschrieben steht. Ich erfahre, dass die Geschichten hinter den Liedern auf "Songs for Babes" alle wahr sind – Mike Talon verwendet nicht einmal Metaphern.

5. Rachel
Langsam sollte klar geworden sein, dass "Songs for Babes" rezensieren auch Mike Talon porträtieren heißt. Dass Künstler in einer direkten Verbindung zu ihrem Werk stehen, muss hier nicht gesagt werden, aber selten geschieht das auf so bewusste und konfrontale Weise wie auf diesem Album.

6. Mich
Mike Talon will nicht, dass irgendjemand dieses Album hört, ohne nur an ihn zu denken – denn er will über Wahrheit singen, sagt er selbst, „also war der leichteste und schwerste Weg zugleich, über mich selbst zu schreiben“. Demnach ist Talon ein Einzelkämpfer und sein Album ein wandelndes Selbstporträt. Dennoch stecken hinter diesem Album mehr Köpfe noch als bloß dieser eine.

7. Juice
Der Song Juice zeigt dies besonders deutlich. Nicht nur widmet sich dieses Lied einer jungen Frau, die die „Creative Community“, in der Talon sich in Akron, Ohio, bewegt, stark beeinflusst; es wurde ursprünglich auch für eine andere Band, Black Clover, geschrieben, in der er sich hin und wieder, aber niemals fest, bewegte. An diesem Lied sind außerdem, wie an vielen anderen des Albums auch, seine Freunde beteiligt. Keith Freund (ja, so heißt er wirklich!) hat sich mit Klavier und Gitarre dazugesellt.

8. Sam
Der obligatorische Vergleich mit bekannteren Künstlern soll hier nicht wegfallen, aber kurz gehalten werden: "Songs for Babes" erinnert im Stil an Neil Young und Will Oldham.

9. Taz
Veröffentlicht wird Songs for Babes am zweiten September bei Own Records. Innerhalb der USA ist es beim Label „Bark And Hiss“ bereits erschienen, welches auch schon einige andere Platten wie das Debutalbum "Falls' Chagrin" aus dem Jahre 2005 an den Mann brachte. Mike Talon rät auf der Website von Bark and Hiss dazu, die Platte "Rustic Bullshit" zuerst zu hören – einen Grund nennt er nicht, aber es könnte angenommen werden, dass es sich hierbei einfach um das beste Album handelt. Meiner Beobachtung entsprechend ist es das bisher vielfältigste und facettenreichste Album, das Mike Talon aufgenommen hat. Verschiedene Demos für selbiges sind, wie das Album auch, zum freien Download verfügbar.

10. (Ni)'cole
Sowieso scheint Herr Talon traurig zu sein, dass ihm die Veröffentlichung von "Songs for Babes" im Internet von Own Records noch vorenthalten wird – er stellt stattdessen ähnliche Versionen der Lieder online. Jeder, der ein wenig Zeit investiert, kann hier deutlich eine Entwicklung feststellen. Mike Talon ist stilsicherer geworden, seine Musik hat an Konsistenz – wenn dieser Begriff im Bereich Musik zutreffen kann – gewonnen.

11. Lula
Besonders das Albumkonzept von "Songs for Babes" sei hier noch einmal hervorgehoben: Es ist das erste Album von Talons, das so offensichtlich ein Ganzes bildet, das nicht funktioniert, wenn ein Track fehlt. Aus diesem Grund finden sich in dieser Rezension auch die Songtitel und ihre Reihenfolge wieder. Das Lied Lula wirkt hier besonders, denn es enthält noch einmal alle Stilmittel und Melodien, die die anderen Lieder ausmachen. Talons bezeichnet es selbst als eine Art Collage des Albums, die eigentlich am Schluss gestanden haben sollte.

12. Sommer
Doch es kam anders, denn die einzige junge Dame, die immer noch an Mike Talons Seite steht, ist Sommer Miller – offensichtlich kam diese Entwicklung für Mike überraschend. Sie ist Künstlerin und ist für das großartige Artwork des Albums verantwortlich. Allerdings war sie bestimmt nicht begeistert, als sie erfuhr, dass Mike in Gedanken noch an so vielen verschiedenen Frauen hängt. Mit denen muss sie sich jetzt eine Platte teilen.
foto:


talons'
"songs for babes"
own records, 2009 cd
talons

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600 Wörter [Popliteraten und ihr Sport]

Wie sportlich ist der Schriftsteller?






Vor kurzem habe ich in meinem Blog einen kleinen Eintrag geschrieben unter dem Titel "Wie sportlich ist der Schriftsteller". Darin ging es um die Notwendigkeit der sportlichen Ertüchtigung als Beitrag zur Senkung der Gesundheitskosten im Anbetracht dieses Berufes, der nahezu nur im Sitzen ausgeübt wird, die von den AutorInnen nie diskutiert wird.

Einzig Ausnahmen wie John Irving mit seiner Vergangenheit als Ringer, die er in seinen Büchern immer wieder gerne literarisch verwertet (mittlerweile wissen wir es, John), bestätigen die Regel. Noch einer mit einem Faible für Sport, der mir gerade einfiel, war Friedrich Torberg, der bekanntlich Wasserball spielte und das angeblich gar nicht mal so schlecht. Ein Leser hat darauf hin in einem Kommentar den Gedanken angeregt, ein Buch mit dem Titel "Schriftsteller und ihr Sport" herauszugeben. Sollte sich ein Verleger nun inspiriert fühlen: Die Idee verbuche ich für mich, als Bezahlung bitte ich um nichts weiter als ein Freiexemplar.

In dem Moment, in dem ich mir dieses Buch vorstellte, kam mir der Gedanken, ganz in der Tradition der Schubladisierung, ob in den verschiedenen Sparten der Literatur den Schriftstellern eindeutige Vorlieben zuordenbar wären. Wie zum Beispiel: LyrikerInnen bevorzugen Meditatives wie TaiChi, Bestsellerautoren der Belletristiklisten treffen sich beim Golf und Tennis, die Esoteriker lieben Capoeira und Zen-Bogenschießen.

Schreibende sind gerne aufgefordert mir zum Zweck der Verifizierung dieser Theorien statistisches Material zu senden und zwar in der Form: Alter / Literatursparte / Ausgeübte Sportarten / Breiten- oder Leistungssport. Ergebnisse veröffentliche ich gerne in Zahlen in meinem Blog.

Bei allen diesen Überlegungen machte ich mir Gedanken darüber, was die entsprechende Sportart für einen Popliteraten wäre. Der Popliterat als Gattung gesehen ist mir noch nie von Angesicht zu Angesicht begegnet, er manifestiert sich in meiner Umgebung lediglich als temporäre Erscheinungsform bei Jungliteraten, die sich von zwölf bis (manchmal über) fünfundzwanzig Jahren darin gefallen, zum Ausdruck ihres - und der ihrer Hauptfiguren - Charakters Liedtexte zu zitieren. Auch mir wurde einmal „Popschreibe“ unterstellt, was sich aber nicht mehr wiederholte, nachdem in meinen Texten fast nie wieder Musik vor kam.

Die auf diesem Gebiet Unbewanderten werden jetzt sagen: Man muss doch nicht Popmusik zitieren, man kann doch auch auf weniger bekannte Liedtexte oder auf die alternativer Musikrichtungen zurück greifen. Ja. Man kann. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass sich der Leser nicht gerne dumm vorkommt. Erwähnt man nun oft etwas, was der Leser nicht kennt, mutiert er im Bezug zum Text zum Außenseiter, der nichts mehr versteht, auch auf der Gefühlsebene – da die Liedtexte auch verwendet werden um Stimmungen zu transportieren.

Popmusik ist aber genau das, was im Wort steckt: Populär. Also meistens dem Leser bekannt, auch wenn es nicht seine Lieblingsmusik sein muss. Aber ich schweife etwas vom Thema ab.

Am Ende meines Gedankenganges stand, dass ein Popliterat und sein weibliches Pendant mit aller Wahrscheinlichkeit exzessiv dem Discotanz frönen und darum keinen Sport treiben. Warum? Aus reiner Zweckmäßigkeit. Immerhin muss man am Puls der Masse bleiben, die neuesten Beats kennen, die Stimmung im Club zur Musik abchecken, den Puls der tanzenden Menge aufnehmen und die schweißige Tanzbodenluft einsaugen wie ein Schwamm.

Vielleicht haben einige der Kollegen der Sparte Popliteratur dazu auch schon einen Dancemove erfunden: Den „Notetaker“. Mit schwungvoller Geste wird aus der Gesäßtasche ein Notizbuch hervor geholt, in das mit ausholenden Bewegungen Namen der Band, Songtitel und Stimmung notiert werden. Dabei immer weiter rhythmisch mit den Hüften wackeln. Fortgeschrittene können am Ende eine kleine Drehung einbauen, bei der das Notizbüchlein unauffällig verstaut wird.

Somit kann von einer rein im Sitzen zu erledigenden Arbeit keine Rede mehr sein und die angesprochenen Kollegen sind von sportlichen Ertüchtigungsmaßnahmen weitgehend befreit. Als Attest gelten Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.
Text: Cornelia Travnicek. Hier findet sich Frau Travniceks Blog.
illustration: j.e. støresund

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Judith Hermann [Alice]

Zwischen Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, (Er)leben und Erinnern, Alltag und Abschiednehmen – Judith Hermanns Protagonisten oszillieren in ihrem dritten Prosaband "Alice" zwischen fünf Erzählungen und eindeutigen Zuständen. Als einzig sichere Komponente des Lebens ist der Tod allgegenwärtig.


"astronauten, dachte alice, wir sind wie astronauten, es gibt nirgends einen halt."
(alice)


Geht es in der Literatur um den Tod, wird zumeist laut geklagt und getobt; die Grauzone zwischen dem Eintreffen der Nachricht und dem Beginn des Verarbeitens - das Gefühl vor dem großen Bewusstsein, dass ein Mensch nicht mehr wiederkommen wird, wird selten thematisiert. Judith Hermanns Protagonistin Alice hat gleich fünf Verluste zu beklagen und tut es doch nicht laut. An unterschiedlichen Stationen ihres Lebens stößt der Leser zu ihr, um sie in der kurzen Sequenz des Abschiednehmens zu begleiten – von alten Liebschaften, einem väterlichen Freund, Verwandten. Genaue Definitionen der zwischenmenschlichen Beziehungen bleiben aus – genau wie umfassende Charakterisierungen der Scheidenden. "Alice" ist kein Nachruf auf die Toten, sondern eine Bestandsaufnahme von dem, was zurückbleibt, wenn da einer nicht sterben kann, einer überraschend geht oder freiwillig gegangen ist.

Judith Hermann schreibt um die „zentrierte Leere“ herum, wie sie sie nennt. Um das Gefühlsvakuum, die Taub- und Stummheit, die zuschlägt wie ein Gegenstand, der dem Zurückbleibenden dumpf auf den Kopf fällt – und schafft dabei das (fast) Unmögliche, diese Sprachlosigkeit in Worte zu fassen. Im Japanischen wird der Zustand des „Dazwischenseins“, der (Wahrnehmungs-) Raum zwischen Personen, Ereignissen, Räumen und Zeiten mit dem Begriff 'ma' eingefasst; wie im Buddhismus wird eine Aufmerksamkeit für Übergänge entwickelt, wird diesen ein besonderer Stellenwert eingeräumt. In Hermanns Prosa drückt sich diese Achtsamkeit in den für sie typischen subtilen Beobachtungen aus, die man bereits aus ihren ersten Werken "Sommerhaus, später" und "Nichts als Gespenster" kennt.

Während. Zu denken, dass während sie an der Tankstelle gehalten hatten, der Rumäne in den Himmel geschaut hatte, ein Falke ein Adler ein Bussard. Während Alice die Tür der Eistruhe aufgeschoben, Anna das Wort Cornetto gesagt hatte, der Tankwart mit den Fingern auf dem Tresen und Lotte im Auto, ihr Profil vor dem Berg, unbewegt hinter den getönten Scheiben, und Alices Hand in slow motion in der Tiefe der Eistruhe in einem Pappkarton, aufgerissen voller Wassereis, Himbeere, Zitrone und Waldmeister, wie heißt dieses Eis, hatte der Rumäne gefragt, Dolomiti hatte Alice gesagt, da war Conrad gegangen. In einem heißen Zimmer am Ende des Ganges mit gleißendem Licht hatte sein Herz geflimmert und dann aufgehört zu schlagen, einfach so, und kein auf Wiedersehen, das war es gewesen.

In ihren oft seltsam sperrigen Sätzen hallt immer wieder die Überraschung darüber nach, dass der Tod nicht mit lautem Getöse in den Alltag einbricht, sondern sich vielmehr mit leiser Selbstverständlichkeit hineinschleicht - ein Versuch, dessen unprätentiöse Gestalt mit der Größe des nachklingenden Gefühls zu vereinbaren. Man mag Judith Hermanns spröde Sprache besonders in Bezug auf diese Thematik als distanziert oder gar emotionslos wahrnehmen – oder aber es als wohltuend empfinden, dass sie dem Leser durch die oft nicht ganz greifbare Bedeutung der Worte genug Raum lässt für eigene Überlegungen und Empfindungen. Ein Gespür dafür zu entwickeln, wie viele unterschiedliche Formen Trauer annehmen kann, wie groß der Irrtum wirklich ist, unsere Nächsten für unverwundbar zu halten und auch, wie nebensächlich die Dinge wirken können, die letztlich Schmerz oder Trost bedeuten können. In der Erzählung Raymond beispielsweise geht Alice zwar mit beinahe ungeheurem Pragmatismus an das Aussortieren dessen zurückgelassener Sachen, doch als sie in einer seiner Jacken den Rest eines Mandelhörnchens findet, bricht völlig unvorbereitet alles um sie herum zusammen.

Raymond. Hatte Hunger gehabt. Lebendigen, einfachen Hunger. Sich ein Mandelhörnchen gekauft. Das hatte er nur in einer einzigen Bäckerei getan, sonst nirgends. [...] Wie früher. Im Winter – die Tüte steckte in der Tasche seiner Winterjacke neben einem Handschuh, wo war der andere Handschuh hin, und war Alice dabeigewesen? War sie dabeigewesen, als Raymond das Mandelhörnchen gekauft hatte, hatte er ihr ein Stück abgebrochen, abgegeben oder in den Mund gesteckt, am Mittag oder Nachmittag oder Morgen eines Tages mit Kälte und Wind und während sie nebeneinanderher gegangen waren, Alices Arm in Raymonds Arm und ihre Hand mit hinein in seinen Handschuh geschoben; möchtest du noch, nein danke, und das letzte Stück in die Tüte zurückfallen lassen, sie zusammengedreht, in die Jackentasche gesteckt. Wann.


Dass das, was einem letztlich das Genick bricht, die Erinnerungen an die kleinen Details sind, die einen geliebten Menschen ausgemacht haben, zieht sich wie ein feiner Haarriss durch die Seiten; die Erkenntnis, dass der Weg eines Zurückgebliebenen ein schmaler Grat ist, ein Dazwischen, das wie im Japanischen „nichts“, „dazwischen“, „Beziehung“, „Leerstelle“ oder „etwas“ bedeuten kann.

Weit entfernt zog ein spätes Flugzeug hoch in den Himmel, und sie dachte daran, wie Raymond in einer der ersten Nächte, die sie so zusammensaßen, gesagt hatte, das Geräusch eines Flugzeuges in der Nacht mache ihn traurig. Wieso, hatte Alice gesagt. Weil es so ist, als wäre es das letzte mögliche Flugzeug gewesen. Für mich, hatte Raymond gesagt, und Alice hatte etwas daran verstanden und etwas anderes nicht, und etwas hatte sie auch gekränkt. Wann immer sie ein Flugzeug sah in der Nacht, musste sie daran denken.
foto: juergen bauer



judith hermann
"alice"
s. fischer verlag, 2009

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Thomas Hall, Daniel Bradford [Robot 13]

Würde ein künstliches Wesen von Menschenhand erschaffen, das tatsächlich zu denken fähig wäre, was würde es über sich selbst denken? Vielleicht ist dies der Grundgedanke, der hinter dem mignolaesken Comic-Debüt Robot 13 steckt. Und zu beeindrucken weiß!

"what is it cap? could be a diver, yeah?"
(ein matrose)


Ein ruppiger Kapitän, dessen weißes Haar im Wind weht, steht an Bord eines Fischkutters und richtet einen ernsten Blick auf seine Crew. Kurz zuvor machte ihn einer seiner Matrosen auf einen mehr als ungewöhnlichen Fang aufmerksam. Kapitän und Crew scheinen sich in einer Welt zu befinden, in welcher man es sich nur in zwielichtigen Tavernen und bloß hinter vorgehaltener Hand wagt, über einen fremdartigen Harpunier namens Queequeg zu erzählen, oder sich gar bei einem Krug Rum mit haarsträubenden Geschichten über einen gewissen Kapitän Nemo und dessen sagenumwobenen Schiff Nautilus zu überbieten versucht. Eine Sekundärwelt, verortet irgendwo zwischen der überbordenden Zeit der Romantik und den Anfängen der industriellen Revolution. Und der seltsame Fang, von dem eben jener Matrose seinem Kapitän berichtet, ist ein metallener Apparat mit menschlichen Gliedern und einer großen Glaskuppel auf dem Rumpf, in welcher ein menschlicher Schädel zu schwimmen scheint. Eine große 13 ist auf dessen Stirnbein zu lesen und diese gibt nicht nur dem seltsamen Geschöpf, sondern auch der jungen Comic-Reihe ihren Titel, deren beeindruckende Erstausgabe gerade im New Yorker Museum of Comic and Cartoon Art der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Hinter "Robot 13" stecken Autor Thomas Hall und Zeichner Daniel Bradford, die sich 2003 dadurch kennen lernten, dass sie Fan der Arbeit des jeweils anderen waren und nun miteinander kooperieren wollten. Beide gründeten den unabhängigen Comic Verlag Blacklist Studios, um auch im Angesicht der finanziellen Nöte größerer Verlage ihre Arbeiten veröffentlichen zu können. Dank der modernen Telekommunikationstechniken bereitet auch die Tatsache, dass die beiden an den jeweils entgegengesetzten Küsten der USA leben, der Zusammenarbeit keine größeren Probleme. „With technology, we can work very smoothly together in this way“, erklärt Thomas Hall, obwohl beide es genießen zusammen auf Comic Conventions zu fahren, um dort gemeinsam ihre Arbeiten vorzustellen; wie eben kürzlich im New Yorker MoCCA.

Während Bradfords beeindruckende Arbeiten fraglos von Mike Mignolas kantigen Zeichnungen, ikonischen Schlagschatten und holzschnittartigen Konturen inspiriert sind, vereint Hall in seinen Erzählungen so unterschiedliche Einflüsse wie Mary Shelleys Frankenstein, den innovativen Erzählstil von Comicautoren wie Grant Morrison und Neil Gaiman, sowie Strukturelemente Homers griechischer Mythen. In der Tat partizipiert der metallene Protagonist an der traurigen Schwermut von Frankensteins Monster, ist er doch selbst ein künstliches Wesen, dem Leben eingehaucht wurde. Und auf Homers Odyssee bezieht sich Hall sogar explizit, wenn er die ersten drei Ausgaben von "Robot 13" anspricht, welche als Mini Serie eine abgeschlossene Handlung umspannen werden: „Die Odyssee ist eine epische Erzählung, aber sie ist auch eine Geschichtensammlung kürzerer Episoden. Von jedem Schauplatz an den Odysseus getrieben wird, berichtet Homer als eigenständige Geschichte mit einer eigenen Exposition, einer Verwicklung und einer Auflösung.“ Ähnlich dieses Ansatzes wollen die beiden auch mit ihrem Helden und dessen Geschichte umgehen; Jede Miniserie soll für sich verständlich und abgeschlossen sein, doch wird man im Laufe der Zeit ein immer größeres Bild der geschaffenen Welt bekommen; auch dies erinnert nicht von ungefähr and Großmeister Mignola. Zumindest hoffen beide, dass das Interesse an ihrer Serie groß genug ist, um all die Geschichten zu erzählen, die darauf warten erzählt zu werden. Schließlich schwebt den beiden der Rahmen der großen, umfassenden Heldenreise bereits vor. Bradfords außergewöhnliches Talent für athomspärische Darstellungen mit liebevollen Details und beeindruckenden Hintergrundcollagen komplimentiert Halls Erzählungen dabei fantastisch.

Interessanter Weise ist nach Halls Ansicht die Welt von "Robot 13" in ihren wesentlichen, phantastischen Zügen der unseren gar nicht so unähnlich. Der Riesenkrake zum Beispiel, der wie einer Ray Harryhausen nachempfundenen Kreatur in der ersten Ausgabe eine beängstigende Rolle spielt, sei ein Wesen aus den Mythen und Geschichten, die sich Menschen seit ewigen Zeiten überall auf der Welt erzählen, um das Unerklärliche verständlich zu machen. „Menschen haben vor langer Zeit wirklich an diesen Kraken geglaubt, obwohl sie ihn niemals gesehen haben. Wir haben hingegen aufgehört daran zu glauben, weil wir ihn niemals gesehen haben. Auf eine bestimmte Weise sind dies zwei Perspektiven der selben Welt. Und mit 'Robot 13' versuchen wir eine dritte Sichtweise zu erfassen. Der größte Unterschied zwischen unserer 'echten' Welt und der in den Büchern ist, dass das Unerwartete dort tagtäglich geschieht.

Etwas solch Unerwartetes ist eben auch jener seltsame Fang auf besagtem Fischerboot. Bradford und Hall wollten einen sympathischen Charakter erschaffen, von dem der Leser von Beginn an mehr erfahren möchte. Und mehr erfahren möchte man in der Tat, denn die Figur ist so unkonventionell, dass man immer wieder erstaunt ist. Gerade sein erster Auftritt ist mehr als sehenswert und macht deutlich, dass die beiden mit Klischees zu spielen wissen, diese jedoch auch jederzeit überwinden können. So erinnern die ersten Worte des steampunkesquen Roboters nach dem Kampf mit bereits erwähntem Riesenkraken weitaus mehr an einen englischen Gentleman des 19. Jahrhunderts als an einen tumben Blechhaufen. Mehr belesener C-3PO als kraftstotzender T-800. Um der beinahe unzerstörbaren und mit bloßen Händen gegen mythologische Monster ringenden Figur dennoch mehr charakterliche Tiefe zu verleihen, versahen ihn die beiden Macher mit einer Schwäche: er weiß weder wer noch was er ist, womit er eine enge Verbindung mit dem Leser eingeht, der sozusagen gemeinsam mit dem Roboter nach und nach mittels Rückblenden mehr über dessen eigene Geschichte lernt. „Unser Roboter ist in dieser Hinsicht programmatisch für das menschliche Bedürfnis Antworten auf die Frage nach der eigenen Existenz zu erhalten.“

Selten kam die Debüt-Ausgabe einer neuen Comic Reihe so beeindruckend und vielversprechend daher. Ich kann mich der Empfehlung des amerikanischen Eat.Sleep.Geek nur anschließen: "You need 'Robot 13' in your hands, and the guy you buy your comics from needs it in his (or her) store". Und in Deutschland scheint noch kein Verlag auf die beiden aufmerksam geworden zu sein. Dies ist als über deutlicher Wink mit der Harpune zu betrachten!
zeichnung: daniel bradford


thomas hall, daniel bradford
"robot 13"
blacklist studios 2009
thomas hall
daniel bradford
MoCCA

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Thomas Gilke [Leroy & Dexter]

Weltall-Erde-Mensch-Metaphysik!
Die Antworten liegen irgendwo dazwischen.



„ein nanometer entspricht in einem stück metall ungefähr einer strecke von vier benachbarten atomen oder ist ungefähr 70.000 mal dünner als ein menschliches haar" (wikipedia, definition 10-9 m)

Ich weiß nicht, ob es schon jemandem aufgefallen ist, aber wenn man die Augen ganz langsam schließt, wird die Welt immer kleiner. Wenn man dann noch die Ohren mit Watte verschließt, dann fehlt einem nicht nur die visuelle Weltkomponente, sondern auch die akustische. Doch existieren Dinge, die man weder hören noch sehen kann? Wer nichts mit rhetorischen Fragen anfangen kann, dem sei dieses physikalische Beispiel ans Herz gelegt. Bis 1897 glaubte man noch, dass Atome die kleinsten Bestandteile der Materie sind, bis ein gewisser Herr Thomson das Elektron entdeckte und die Theorie vom kleinsten Bestandteil der Materie widerlegte. Niemand kann mir erzählen, dass er mit bloßen Augen – und seien sie noch so geschult – ein Atom erkennen kann, geschweige denn ein Elektron und doch existieren sie.

Ebenso diffus, wo die Linien zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt und letztendlich auch der eigenen Wahrnehmung verlaufen, gestaltet sich der mikroskopische Makrokosmos von "Leroy & Dexter", welcher jüngst in einem Sammelbändchen im avant-verlag veröffentlicht wurde. Autor dieser vorab als Webcomic erschienen Serie (wöchentliche Strips auf electromics.com) ist Thomas Gilke, der nun schon seit etwa fünfzehn Jahren durch die Comic-Stratosphäre tingelt und hin und wieder als Freier Illustrator für diverse Agenturen, Zeitschriften und Zeitungen tätig ist.

Pastiche und Glorifizierung

Für Gilke beginnt die Geschichte von „Leroy & Dexter“ im Jahre 2005. Im brandenburgischen Rüdersdorf. Um genau zu sein übt sich Gilke als Tourist des mittlerweile zum Freilichtmuseum umfunktionierten Kalksteinwerkes. Stehen am Beginn des Tages noch die riesigen Dimensionen des Kalksteinabbaus im Fokus des Illustrators, so verschiebt sich die Aufmerksamkeit Gilkes. Ein Karton mit aussortierten Beständen des Kulturhauses „Martin Andersen Nexö“ wird dabei als besonders großer Fund gewertet, denn neben einem Pilzführer und einem Lada-Selbsthilfebuch befinden sich in ihm noch einige Ausgaben des „Pressedigest“ Sputnik – herausgegeben von der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti – und drei Ausgaben des sowjetischen Jugendmagazins Sputnitschik (Koseform des russischen Sputnik, übersetzt: Begleiterchen) mit, man mag es kaum glauben, einigen Ausgaben des sowjetischen Comics „Leroy & Dexter“.

Wohingegen Mütterchen Russland schon lange in den Ruhestand geschickt wurde, überlebten ihre Erzeugnisse in Magazinform die große Umstrukturierungsphase. Was jedoch viel wichtiger ist und uns zum eigentlichen Thema führt: die besagten Magazine konservierten einen unverfälschten Blick auf ein politisches System, das dem Westen in nichts nachstehen wollte und seine eigene Bildästhetik entworfen hat. Als Ergebnis einer angestrebten Internationalität ist nicht nur der Versuch zu werten mit Sputnik und Sputnitschik (Sputnitschik – internationales Magazin in Russischer Sprache) internationale Jugendmagazine auf die Beine zu stellen, welche mit mutlilingualem Charme die Ideologie in Häppchenform über die Grenzen des eisernen Vorhanges tragen soll, sondern auch ein Comic-Strip als Beilage in die Heftchen zu integrieren.

Obgleich der Name der Comics ("Leroy & Dexter") später dem bleiernen Ernst weichen muss und in "Hämmerchen und Sichelchen" umbenannt wird, hat sich in ihnen dennoch ein kruder Humor und ein schlampig-sympathisches Layout erhalten, welches mit einem liebenswerten Purismus überzeugt. Das weckt auch die Neugier Gilkes und er beschließt die Zukunft dieser verschollenen Serie in seinen gleichnamigen Comic-Strips fortzuschreiben. Ein Happy End für Comic-Enthusiasten!

Vom Hundertsten ins Tausendste

Wie schön, dass "Leroy & Dexter" den kalten Krieg überlebt haben und Thomas Gilke den beiden Nano-Wesen auf electrocomics.com und jüngst auch im avant-verlag ein neues zuhause gegeben hat. Letztlich ist dies auch ein großes Geschenk für den Leser, denn die Lebenswirklichkeit von "Leroy & Dexter" ist eine sehr eigentümliche, fast schon surrealistische. Die beiden ungleichen Charaktere sind, gelinde gesagt, ziemlich winzig und stehen damit vor wirklich ernst zu nehmenden Herausforderungen. In einer Episode erhält die Phrase "Von hier aus betrachtet, sehen alle aus wie Ameisen" eine ganz neue Bedeutung. Während sich die Redewendung im Normalfall nur auf große Höhen und dementsprechend auf kleiner werdende Menschen anwenden lässt, bezieht sich der Ausspruch bei Leroy und Dexter auf eine wirkliche Ameise, die die beiden wimmernden Protagonisten um einiges überragt. Von dort an gilt es die Beine in die Hand zu nehmen und wegzurennen. Gefahr droht auch von giftigen Pilzsporen und mannsgroßen Blütenpollen. Dauernd verschieben sich Zeitebenen; erscheinen noch größere Wesen und neue Affronts. Dank Kathi Mogels Gastzeichnungen kann man in verschiedenen Strips sogar zum Zuschauer der Zellteilung werden. Was will man mehr?

Leroy und Dexter funktionieren übrigens auch ziemlich gut als komische Figuren. Obgleich man im ersten Moment vielleicht über den Begriff stolpert, so bieten die beiden Charaktere zahlreiche Referenzen zu anderen Pärchen der Popkultur. Leroy folgt beispielsweise dem Pastiche des überschlauen, kaltschnäuzigen Zynikers, der wild in der Geistesgeschichte herumwildert und der die Welt in ihrer Komplexität zu ergründen versucht. Dexter ist sein Kontrapunkt. Als trotteliger Gehilfe zottelt er Leroy hinterher, lässt sich von ihm die Welt erklären und stellt Fragen über Fragen. Die Rollenverteilung ist dabei ebenso klar ersichtlich wie die komischen Effekte, die diese Muster auslösen. Komik entsteht auch hierbei aus der Gegensätzlichkeit, so ähnlich wie bei Laurel und Hardy oder Didi und Stulle. Es werden stereotype Charakteristika eingesetzt um Schenkelklopfer zu erzeugen. Wie soll man auch sonst handeln, schließlich bietet ein Strip meist nur Platz für 4-8 Panels?

Doch hin und wieder werden diese stereotypen Muster zu Testzwecken verwendet, um auf viel größere Problemstellungen hinzuweisen. Gibt es Parallelwelten? Wie groß ist das Universum? Heißen linksdrehende Milchsäurebakterien deshalb so, weil sie im Karussel linksherum fahren? Warum steht dem Koch der Mund offen, obwohl er gar nichts sagt? Weltall-Erde-Mensch-Metaphysik – Die Antworten liegen irgendwo dazwischen. Die Fragen darauf findet man in "Leroy & Dexter".

Die abgebildeten Strips stammen von electrocomics.com. Zum Vergrößern einfach auf die Bilder klicken.



thomas gilke
"leroy & dexter"
[134 Seiten, vierfarbig, HC]
avant-verlag 2009

empfehlung:
electrocomics.com

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