Morisse / Rehberger (Hrsg.) [Driving Home For Christmas]

Weihnachten sollte es friedlich zugehen! Im Suhrkampverlag ist momentan allerdings genau das Gegenteil der Fall, und auch die Geschichten der dort erschienenen Anthologie „Driving Home“ beschreiben oftmals ein turbulenteres Fest.


"i'm driving home for christmas, oh, i can't wait to see those faces."
(chris rea)


"Ich siedelte irgendwann in den Trendbezirk Mitte über, wo es generell wenig Weihnachten gibt, weil dort hauptsächlich Zugezogene leben, die über die Feiertage irgendwohin fahren, wo für sie zu Hause ist", heißt es in Ulrike Sterblichs Text. Genau solche Menschen erzählen ihre Geschichten in "Driving Home". Es geht um Großstädter, Erwachsene, Selbstständige, die zu Weihnachten nach Hause fahren, um wieder zu Kindern zu werden. Dabei bekommt man sowohl den vielleicht altbekannten Einblick in die traditionell-deutsche Familie, als auch in eine ausländische, jüdische, völlig kaputte...

Die Herausgeber Jörn Morisse, Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur, und Stefan Rehberger, ein Soap-Drehbuchautor, versammelten 16 Autoren in diesem schmucken Band, darunter Christian Y. Schmidt, der mal bei der Titanic war, und Kathrin Passig, die dieses Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Dazwischen viele „junge“ Autoren, aber auch Journalisten und mit Thees Uhlmann sogar ein hauptberuflicher Musiker. Der Tomte-Frontmann steuert einen der lustigeren Texte bei: "The Wall" handelt davon, wie er als 14jähriger allen familiären Vorschriften zum Trotz ins Kino ging, um sich die einzige Vorführung des gleichnamigen Pink Floyd-Films anzuschauen – am ersten Weihnachtsfeiertag.

Skurriles kommt von Natalie Balkow. Ihr Text reiht sich direkt hinter den von Stefan Rehberger, welcher mit „Ein Drittel Weihnachten“ einen eher unspektakulären Anfang macht, und erzählt von ihrem Vater, der sich zu Weihnachten eine Hand wünscht. Eine richtige, mit allem drum und dran. Die Autorin malt das erste Bild einer Väter-, einer Elterngalerie, die im Laufe dieses Buches entsteht. So viele Charakterisierungen sammeln sich mit den Geschichten an, mal zurückhaltend und verdeckt, dann wieder eindeutig. Und fast immer sind es die Eltern, um die sich die Episoden drehen. Ein besonders scharfes Bild gelingt Sonja Müller mit „Weihnachten in Wanne-Eickel“. Die Protagonistin beschreibt die eigenen Weihnachtsfluchtversuche, die misslingen, und daraufhin die Feier mit ihrer Mutter in einer Stadt, in der sie nie Zuhause war. Trotzdem geht für sie alles irgendwie gut aus. So zeichnet "Driving Home" das Bild einer deutschen Generation, denn neben ein paar Ausfällen sind zahlreiche Gemeinsamkeiten zu entdecken. Die Heimkehrenden beschreiben ganz ähnliche Gefühle, Brauchtümer und Verhaltensweisen innerhalb der Familie.

Eindruck hinterlassen vor allem tragische Geschichten wie das „Gespräch im November“ von Guy Helminger. Es geht um Schilz, der nach dem Verlust seiner magersüchtigen Schwester zu Weihnachten nicht mehr nach Hause fahren kann. Nebenbei wird hier auch das Problem von Ausländern in Deutschland aufgegriffen, für die – je nach Religion - der Heiligabend manchmal ein Abend wie jeder andere ist. Ganz anders bei Kathrin Passig, die in ihren weihnachtlichen Ablaufplan, der dreißig Jahre und wahrscheinlich länger gilt, immer wieder christliche Aspekte einwebt. Irgendwie darf natürlich auch eine Drittes Reich-Geschichte nicht fehlen. Ulrike Sterblich liefert eine sehr gute über ihren Großvater, der einst Görings Christbaum schmückte.

Für Abwechslung sowohl in inhaltlichen als auch in stilistischen Fragen ist in "Driving Home“ auf jeden Fall gesorgt. Deshalb eignet sich das Buch sowohl für solche, die aufgrund der eigenen Weihnachtsroutine nach „fremden Festen“ suchen, als auch für jene, die sich zumindest hineinträumen wollen in ein besinnliches und friedliches Fest. So oder so lernt man vielleicht schätzen, was man hat. Eine tolle Eigenschaft des Buches mag sein, dass es nicht nur lesenswert ist für all die zwanzig- und dreißigjährigen Erwachsenen, Selbstständigen, Großstädter da draußen, sondern ganz bestimmt auch für deren Eltern. Beide Seiten werden aus diesen Geschichten ihre Schlüsse ziehen können. Wer also noch kein Weihnachtsgeschenk hat, kann für preiswerte sieben Euro schnell eines erstehen und sich dann zum Beispiel auf Kevin Vennemann freuen. Der Berliner Autor hat mit „Dass Sturmwart Kupel“ eine tolle Idee zu Papier gebracht, und obwohl er sich mitunter in langen Sätzen verheddert wie unsereins im Lametta, wird hier auf schöne Weise ein kleiner, persönlicher Aspekt von Weihnachten erzählt.

Und Christian Y. Schmidt schafft es nicht bloß, das Weihnachten mit seiner Großfamilie zu beschreiben, sondern am Ende auch wirklich klarzustellen, dass das alles trotzdem schön ist. „Ich will zurück auf meine Weihnachtsinsel, wo es keine Zeit gibt und ich mit meiner Familie herrlich und in Freuden vor mich hin leben kann bis in alle Ewigkeit“, stellt er fest, wenn er die Heimat schließlich verlässt. "Aber es muss ja weitergehen."
foto: photocase user ninino



jörn morisse / stefan rehberger (hrsg.)
"driving home for christmas"
suhrkamp 2006

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Sonntag Nachmittag [Oktober 2007]










fotos: manuel kaufmann

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Documenta 12 [Kassel, 16.06.-23.09.2007]

"Das Publikum bildet sich, indem es Dinge ästhetisch erfährt. Wie man der jeweils singulären Erscheinung dieser Dinge gerecht wird, ohne sie in Schubladen zu stecken, ist eine der großen Herausforderungen, denen sich eine Ausstellung wie die documenta zu stellen hat."
(Roger M. Buergel)


"ist die moderne unsere antike?
was ist das bloße leben?
was tun?
"
(leitfragen der documenta 12)



Wie aus einem Dornröschenschlaf scheint der seit 1899 als Großstadt geltende Ort Kassel im fünfjährigen Turnus zu erwachen; Immer dann, wenn sich die Augen der Kunstinteressierten der Welt auf ihn richten. Als weltweit bedeutendste Ausstellung für Gegenwartskunst ändert die documenta das Antlitz der ansonsten doch eher verschlafenen Stadt im provinziellen Nirgendwo Nordhessens. Seit 1955, damals als Parallelveranstaltung zur Bundesgartenschau - dieser Bezug wird wiederum heute durch den architektonisch an ein Gewächshaus erinnernde Aue-Pavilion aufgegriffen -, eröffnet das "Museum der 100 Tage" regelmäßig seine Pforten für die Welt und hat, nach anfänglicher Skepsis und Ablehnung der heimischen Bevölkerung, unverkennbar seine Spuren hinterlassen. Von den über die ganze Stadt verteilten 7000 Eichen des Beuys-Projektes "Stadt-verwaldung statt Stadt-verwaltung" (d 7, 1982 ) über die am Kulturbahnhof stehende Skulptur "Man Walking To The Sky" von Jonothan Borofsky (d 9, 1992) - der als "Himmelsstürmer" sogar als Ikon der Kasseler Industrie und Handelskammer fungiert - bis zum 1999 stolz eingeführten Beinamen "documanta Stadt". Mit ständig ansteigenden Besucherzahlen stellt die Ausstellung mittlerweile nicht nur einen "Seismografen der zeitgenössischen Kunst" (documenta Homepage) dar, sondern spielt auch eine wesentliche und ganz pragmatische Rolle für Handel und Tourismus der Stadt.

Die singulären Auftritte mit stets wechselnden künstlerischen Leitern der documenta standen von Beginn an im Spannungsfeld zwischen das-kann-ich-auch-Ignoranz desinteressierter Skeptiker und mit Exzentrizität kokettierender Intellektueller samt deren autoritärer Deutungshoheit. Die documenta 12 scheint hier keine Ausnahme zu bilden. Während sich die Besucher zunehmend an der gefühlten Unaufdringlichkeit erfreuen, wird von Seiten der Kritiker immer wieder das Ausbleiben großer Namen als Fauxpas bescheinigt. Selbstherrliche Abgrenzung, Elitenbildung und Exklusivität von Bildung und kulturellem Kapital mögen einem in diesem Zusammenhang durch den Kopf gehen, doch wollen wir uns dieser Problematik hier nicht stellen.

"Die meisten Arbeiten werden sich ihnen erst durch ihre persönliche Rezeption und Erfahrung erschliessen", heißt es in einem der Audioführer, die sich mit den drei Leitfragen der 12. Ausstellung befassen. Und genau an dieser Stelle wollen wir mit unserer kleinen Betrachtung ansetzen. Wird den diesjährigen Leitern aus den Feuilletons unter anderem Fahrlässigkeit im Bezug auf die Beliebigkeit der Zusammenstellung, auf unzusammenhängende Arrangements und Reduktion der einzelnen Werke als bloße Staffage vorgeworfen, werden wir gerade diesen Aspekt allem Ärger zum trotz stärker strapazieren. Wenn die ästhetische Bildung, so der im Vorfeld als verwegen bezeichnete Anspruch der künstlerischen Leitung - Roger M. Buergel und Ruth Noack - weniger mit dem Aneignen von faktischem Wissen als vielmehr mit dem Einbringen der eigenen emotionalen und intellektuellen Ressourcen beginnt, wollen wir unseren Blick darauf beschränken, zu sehen, wie das jeweilige Kunstwerk in seiner Unmittelbarkeit mit dem Betrachter kommuniziert. Unbefangene Offenheit vs. dozierende Wissenshoheit: Eins zu Null. Mit gebührendem Respekt und ungezwungenem Dilettantismus nähern wir uns an dieser Stelle zwei einzelnen, aus dem jeweiligen Kontext herausgegriffenen Kunstwerken dieser zwölften Ausstellung und halten unsere Eindrücke fest.

Trisha Brown [Accumulation / Floor Of The Forest]


"Bitte benutzen sie in diesem Raum kein Blitzlicht und unterlassen sie das Filmen. No flash and no filming in this room, please." In der nächsten knappen Dreiviertelstunde wird die am Rand stehende Aufsicht den Satz noch mehrmals wiederholen. Zu erkennen ist der junge Mann an seiner schülerlotzenhaften Weste, auf welche in krakeliger Nachlässigkeit das Wort Guard zu lesen ist. Es ist die gleiche Typographie aus dem pariser Hause Vier5, die auch für alle anderen Leitsysteme der d 12 Verwendung findet. Wie zu jeder vollen Stunde weist er in freundlich monotonem Klang die neuen Besucher im altehrwürdigen Fridericianum ein. In der Mitte des Raumes steht ein auf schwarzen Metallpfosten aufgespanntes Netz aus stabilen Tauen, an welchen Kleidungsstücke aufgehängt sind. Ungleich einer Wäscheleine reichen die Taue jedoch durch die Öffnungen der Textilien hindurch, fixieren diese; durch bunte Hosenbeine, Hemdsärmel und T-Shirts. In gut eineinhalb Meter Höhe ergibt sich so eine gewellte, horizontale Ebene, ähnlich einem in strengem Raster aufgeteilten Trampolin. Doch zunächst gruppieren sich die den Raum betretenden Tänzer um das Gebilde herum. Junge, schlanke Männer und Frauen mit beneidenswert guter Körperhaltung. Zu den plötzlich einsetzenden Klängen des Grateful Dead Stückes Uncle John’s Band beginnen sie gleichgeschaltet ihre Arme anzuwinkeln, Daumen abzuspreizen und ihre Hände im Takt hin und her zu drehen. Die Zuschauer stehen an die Wände gedrängt, manche sehr dicht an dem ein oder anderen Akteur, manche schüchtern in den Eingangsbereichen des Raumes. Die Bewegung der Tänzer weitet sich über den ganzen Körper aus; wie ein Fluss wird bald der Kopf, die Arme, die Beine in einen immer komplexeren Bewegungsablauf eingearbeitet, um immer wieder aufs Neue von vorn zu beginnen. Akkumulation. Ein Besucher weicht überrascht zurück, als ein ausladender Ausfallschritt in den fließenden Bewegungsablauf integriert wird. Nach knapp fünf Minuten halten die Tänzer inne, das Lied ist zu Ende, Ruhe kehrt ein. Alle drehen sich um 90° nach rechts und auf ein unvermittelt aus dem Off zu kommen scheinendes "Ready? And", beginnt der Bewegungsablauf erneut. Diesmal ohne die musikalische Untermalung. Inkonsequent und wenig auf den Punkt gebracht erscheinen die ab und an ausgerufenen Kommandos, als wäre die, ihre Tänzerinnen und Tänzer zurechtweisende Choreographin Trisha Brown selbst anwesend. Wie zu erwarten wenden sich die Tänzer noch zwei weitere Male um 90°, so dass sie einmal in jede Richtung blicken. Lächeln breitet sich auf den Gesichtern der Besucher aus, ob der anmutigen Bewegungen; mancher schleicht zaghaft zwischen den Tänzern hindurch, um den Raum zu verlassen.

Während die anderen verschwinden, begeben sich drei der Tänzer zu dem gespannten Netz und befördern sich mit einem Aufschwung auf die Taue. Ruhig, aber zielstrebig streifen sie sich Kleidungsstücke über, wobei die Akteure aufgrund der fixen Positionierung der Textilien in grotesk gezwängte Haltungen geraten. Wie in Zangsjacken schlüpfend, unterwerfen sie sich den vorgegebenen Ordnungen und Mustern der Textilstücke. Einem akrobatischen Balanceakt gleich verharren sie minutenlang in der so eingenommenen Haltung. Kopfüber. In Seitenlage. Mit gespreizten Beinen. Wie im freien Fall erscheinen sie. Oder, um die Metapher des Trampolins nocheinmal heranzuziehen, wie Springer, die jedoch nicht nach oben, sondern nach unten zu springen scheinen. Die Besucher bücken sich, drehen die Köpfe, recken sich um ihre Blicke auf ein hier und da aus dem Netz herausragendes Bein oder einen Arm richten zu können. Durch die horizontale Ebene ist der Choreografie eine dritte Dimension verliehen worden. Ein Perspektivenwechsel. Mehr noch als beim scheuen Ausweichen der vorangehenden Tanzperformance, ist der Zuschauer hier genötigt sich selbst zu bewegen, eine immer neu Position im Raum einzunehmen, um der Darbietung folgen zu können. Eine unaufgeforderte Interaktion beginnt, in welcher die Rolle von Agens und Patiens nicht mehr klar unterschieden wird. Alle bewegen sich, um dann wieder zu verharren. Wie ein Tanz, bei dem die Schrittfolge niemals vorhergesagt werden kann, erscheint das Bild. Zwischenzeitlich gehen einige Besucher, verlassen ihre Positionen und neue treten an ihre Stelle; die anderen werden dieselben und dieselben verschwinden, während nur die farbige Pracht der bunten Kleider wellenförmig eine Konstante bildet. „No flash and no filming in this room, please", wirft der junge Guard für die Neuankömmlinge ein. Er wird es noch oft sagen.

Harun Farocki [Deep Play]


Zwölf Monitore zeigen Bilder von ein und dem selben Ort. Berlin, Charlottenburg-Wilmersdorf. Überwachungsbilder zeichnen Bewegungen einzelner Perosnen auf, stellen unterschiedliche Perspektiven dar, messen exakte Bewegungsgeschwindigkeiten. Was nach einem Überwachungsalbtraum schäublischen Ausmaßes klingt, ist die Medieninstallation des 1944 in der heutigen Tschechischen Republik geborenen Filmemachers und Autors Harun Farocki. Die Zwölf Flachbildschirme, die in die Wände eines im Halbkreis verlaufenden Gangs im Fridericianum eingelassen sind, liefern ununterbrochen Bilder des Endspiels der Fussbalweltmeisterschaft aus dem Jahr 2006. Frankreich wird in dieser Zeitschleife am Ende immer wieder nach Elfmeterschießen 4:6 der italienischen Mannschaft unterliegen. Doch an dieser Stelle geht es weniger um Inhalt, als um die Flut der unkommentierten und ungefilterten Live Bilder. Je ein Monitor richtet sich unablässig auf einen einzelnen Spieler beider Mannschaften; Zinédine Zidane und Francesco Totti, die jeweilige Nummer 10. Ein weiterer Monitor zeigt das aktuelle Fernsehbilder im Verhältnis zum gesamten Spielfeld, ein anderer widmet sich der grafischen Darstellung der Ballbewegungen. Den ständigen Aufenthaltspunkt jedes einzelnen Spielers als roten bzw. blauen Punkt auf dem Spielfeld zeigt wieder ein anderer Bildschrim und die italienische und französische Trainerbank wird von je einer separaten Einstellung festgehalten. Hinzu kommen Außenaufnahmen einer von Sicherheitsbeauftragten überwachten Kreuzung in unmittelbarer stadionnähe, der Tribünen mit den Scharen unzähliger Fans und des sich langsam vollziehenden Sonnenuntergangs über dem Olympiastadion. An anderer Stelle fasst ein Computer gar eigenständig die einzelnen Spielzüge in fortlaufenden Kommentaren zusammen. Die Darstellungen sezieren das Endspiel und entfremden jenes komponierte, exakt gleiche Bild, welches gut 1,5 Milliarden Zuschauer an ihren Bildschirmen verfolgten.

Zwei Aspekte fallen dabei ins Auge. Zum einen, dass keine Kommentare von Reportern zu hören sind. Die untrennbar mit Spielszenen verankerten, sich manches Mal überschlagenden, sich ein anderes Mal in bizarren Formulierungen verlierenden Bemerkungen der Rundfunkkommentatoren weichen hier einer befremdlichen, unspektakulären Stille. Vielleicht ein Grund dafür, weshalb der ein oder andere selbst ernannte Experte ersatzweise zum Wort greift und einzelne Momente genauer unter die Lupe nimmt. Bemerkenswert hier auch der generationsübergreifende Moment; vom kleinen Paninisticker Sammler, der selbstbewusst im Bayern München Trikot auf dem Fußboden sitzt, über die Gruppe junger 11 Freunde Leser in lockerer Haltung auf einer der vielen Bänke bis hin zum alteingesessenen Kicker Abonnenten mit analoger Kompaktkamera in den hinterm Rücken gefalteten Händen. Die Genderfrage scheint hier keine zu sein. Die männliche Erklärungshoheit bestätigt die gängigen Klischees. Fußballfans erhaschen träumerische Einblicke in die Möglichkeiten der zukünftigen, mulitperspektivischen Berichterstattungen.

Doch es gibt auch diesen anderen Aspekt, der sich all jenen aufzudrängen scheint, denen der Volkssport Nummer Eins nicht unmittelbar Identifikationspotential liefert; Die beachtliche, ins Groteske hinüber gleitende Akribie, mit welcher dieser Sport seine Statistiken zum Erklärungsansatz, zur Sinnsuche erhebt. Mit hermeneutischem Wahn scheint hier der genaue Winkel einer Flanke, die Bewegungsgeschwindigkeit individueller Spieler, die dreidimensionale Darstellung von Bewegungsabläufen oder animierte Abwehrketten als Vektorenbündel Sinn zu liefern. All das, was Deep Play hier aufzeigt, übersteigt bei weitem jene gegenwärtigen Ausmaße statistischer Alltäglichkeiten wie prozentualer Ballbesitz und Eckballverteilung. Der technische Aufwand, der einem ansonsten nur bei militärischen Großeinsätzen in den Sinn kommt, wird auch für die zeitgemäße Rezeption eines Fußballspiels aufgeboten. Eine mathematische Analyse, welche das Spiel selbst zweitrangig macht und den Sport ad absurdum zu führen scheint. Kopfschüttelnd lacht eine ältere Dame und dreht sich zu ihrem Begleiter um, welcher einem Balkendiagramm seine aufmerksame Betrachtung widmet, das die Geschwindigkeit der Akteure auf dem Rasen wiedergibt. Aus all dem destilliert die große Fernsehindustrie das Bild, welches sich am Ende den Weg in die Wohnzimmer und Public Viewing Areas dieser Welt bahnte. Eine Interpretation von Vielen.

Farockis emotionslose, dokumentarische Zergliederungen jenes globalen Ereignisses bieten Raum für eine seltene Beobachtung der Bilder durch Fussballfans und Nichtfans gleichermaßen. Eine Präzisierung des Blicks, die ins erklärerische Nichts führt. Oder ins Etwas. Je nach dem.
foto: martin boehnert

trisha brown
[accumulation / floor of the forst]
*1936 in aberdeen (usa)
lebt in new york


harun farocki
[deep play]
*1944 in nový jicin (cz)
lebt in berlin

documenta

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Alex Kapranos [Sound Bites]

Ein Buch über Essen von Franz Ferdinand Sänger Alex Kapranos.
Nur ein weiteres, ertragreiches aber sinnentleertes Spin-off aus der großen Hype Gewinnmaschine der schottischen Band?


"ich heiße superfantastisch, ich trinke schampus mit lachsfisch."
(franz ferdinand, darts of pleasure)


"Essen ist ein Abenteuer.“ Das lernte Alex Kapranos schon mit nicht einmal drei Jahren und es war wohl der Auslöser für den Beruf – oder sollte man besser sagen: die Berufe – die er später ergriff. Nach der Schule arbeitete der Schotte als Küchenjunge, Kellner, Koch, ehe er 2004 mit seiner Band Franz Ferdinand den Durchbruch als Musiker schaffte. Die Truppe bespielte zwei Jahre lang den gesamten Globus, und Kapranos verband das Touren gleich mit seiner zweiten großen Leidenschaft, indem er darüber schrieb. Dabei kamen ein ganzer Haufen Kolumnen für den britischen Guardian heraus, die jetzt als Buch auch in Deutschland erschienen sind. „Sound Bites – Essen auf Tour mit Franz Ferdinand“ ist ein leichtfüßiges, abwechslungsreiches Buch mit kurzweiligen Texten und herrlichen Bildern. Aber dazu später.

Zuerst ein Wort an den künftigen Leser: Man kann von diesem Buch einiges erwarten - es wird die unerwartesten Erwartungen erfüllen. Es deckt keine Geheimnisse über die Band Franz Ferdinand und deren Mitglieder auf. Man wird nicht Begleiter einer Welttournee und nimmt auch nicht an großen Gefühlen teil. (Im Grunde betreffen alle Gefühle, die dieses Buch beschreibt, irgendeine Speise.) Über die Franz Ferdinand-Musiker erfährt man lediglich, dass für Bassist Bob „beim Essen auch Dreiecke irgendeine Rolle spielen“, und dass Gitarrist Nick Kellner einfach nie wahrnimmt – unabsichtlich.

Stattdessen beschreibt der Autor die verschiedensten Esserlebnisse – und man kann ohne Zweifel jedes davon so nennen. Kapranos aß Hoden und Hummer, Hähnchen und Hamburger, in New York und Hong Kong, Köln und Rio... Oftmals beschreibt er die ungewöhnlichsten Speisen so ausführlich, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Nicht selten wird das Essen jedoch zur Nebensache, und er widmet sich stattdessen dem Umfeld, in dem er es zu sich nimmt. So landet er zum Beispiel in einem persischen Restaurant in Toronto, das erst wenige Stunden zuvor eröffnet hat. Oder er besucht das legendäre Formosa Café in Los Angeles, wo einst Elvis einer Kellnerin einen Cadillac als Trinkgeld geschenkt haben soll. („Das würde heutzutage kein Star mehr tun, grummelt unsere Bedienung.“)

Hin und wieder verlässt Kapranos auch die jüngsten Zeiten mit seiner Band und springt zurück, in die Jahre seiner Ausbildung zum Koch oder seine Kindheit. Gut so, denn die Geschichte seines fünften Geburtstages, an dem er die tolle Torte völlig verwüstete, gäbe es sonst hier nicht zu lesen. Garniert ist das alles mit zahlreichen liebevollen Zeichnungen, die bestechen durch ihre Schlichtheit. Sie stammen von Andy Knowles, der Franz Ferdinand auf Tour als Schlagzeuger und Keyboarder begleitet. Er absolvierte die Glasgow School of Art, genau wie alle anderen Bandmitglieder – außer Alex Kapranos. Der lernte stattdessen in der Küche, „dass eine gute Gruppendynamik mehr wert ist als alle Einzelverdienste, dass Langusten sich wehren, wenn man sie tötet, und dass man aus gekochten Markknochen die Jus gewinnt, die ein gutes Menü zusammenhält“.

Und was lernen wir aus "Sound Bites"? Na, dass Essen immer auch ein Abenteuer ist. Natürlich.
foto: daniel boud; boudist.com



alex kapranos
"sound bites"
kiwi 2007
franz ferdinand

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