Morisse / Rehberger (Hrsg.) [Driving Home For Christmas]

Weihnachten sollte es friedlich zugehen! Im Suhrkampverlag ist momentan allerdings genau das Gegenteil der Fall, und auch die Geschichten der dort erschienenen Anthologie „Driving Home“ beschreiben oftmals ein turbulenteres Fest.


"i'm driving home for christmas, oh, i can't wait to see those faces."
(chris rea)


"Ich siedelte irgendwann in den Trendbezirk Mitte über, wo es generell wenig Weihnachten gibt, weil dort hauptsächlich Zugezogene leben, die über die Feiertage irgendwohin fahren, wo für sie zu Hause ist", heißt es in Ulrike Sterblichs Text. Genau solche Menschen erzählen ihre Geschichten in "Driving Home". Es geht um Großstädter, Erwachsene, Selbstständige, die zu Weihnachten nach Hause fahren, um wieder zu Kindern zu werden. Dabei bekommt man sowohl den vielleicht altbekannten Einblick in die traditionell-deutsche Familie, als auch in eine ausländische, jüdische, völlig kaputte...

Die Herausgeber Jörn Morisse, Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur, und Stefan Rehberger, ein Soap-Drehbuchautor, versammelten 16 Autoren in diesem schmucken Band, darunter Christian Y. Schmidt, der mal bei der Titanic war, und Kathrin Passig, die dieses Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Dazwischen viele „junge“ Autoren, aber auch Journalisten und mit Thees Uhlmann sogar ein hauptberuflicher Musiker. Der Tomte-Frontmann steuert einen der lustigeren Texte bei: "The Wall" handelt davon, wie er als 14jähriger allen familiären Vorschriften zum Trotz ins Kino ging, um sich die einzige Vorführung des gleichnamigen Pink Floyd-Films anzuschauen – am ersten Weihnachtsfeiertag.

Skurriles kommt von Natalie Balkow. Ihr Text reiht sich direkt hinter den von Stefan Rehberger, welcher mit „Ein Drittel Weihnachten“ einen eher unspektakulären Anfang macht, und erzählt von ihrem Vater, der sich zu Weihnachten eine Hand wünscht. Eine richtige, mit allem drum und dran. Die Autorin malt das erste Bild einer Väter-, einer Elterngalerie, die im Laufe dieses Buches entsteht. So viele Charakterisierungen sammeln sich mit den Geschichten an, mal zurückhaltend und verdeckt, dann wieder eindeutig. Und fast immer sind es die Eltern, um die sich die Episoden drehen. Ein besonders scharfes Bild gelingt Sonja Müller mit „Weihnachten in Wanne-Eickel“. Die Protagonistin beschreibt die eigenen Weihnachtsfluchtversuche, die misslingen, und daraufhin die Feier mit ihrer Mutter in einer Stadt, in der sie nie Zuhause war. Trotzdem geht für sie alles irgendwie gut aus. So zeichnet "Driving Home" das Bild einer deutschen Generation, denn neben ein paar Ausfällen sind zahlreiche Gemeinsamkeiten zu entdecken. Die Heimkehrenden beschreiben ganz ähnliche Gefühle, Brauchtümer und Verhaltensweisen innerhalb der Familie.

Eindruck hinterlassen vor allem tragische Geschichten wie das „Gespräch im November“ von Guy Helminger. Es geht um Schilz, der nach dem Verlust seiner magersüchtigen Schwester zu Weihnachten nicht mehr nach Hause fahren kann. Nebenbei wird hier auch das Problem von Ausländern in Deutschland aufgegriffen, für die – je nach Religion - der Heiligabend manchmal ein Abend wie jeder andere ist. Ganz anders bei Kathrin Passig, die in ihren weihnachtlichen Ablaufplan, der dreißig Jahre und wahrscheinlich länger gilt, immer wieder christliche Aspekte einwebt. Irgendwie darf natürlich auch eine Drittes Reich-Geschichte nicht fehlen. Ulrike Sterblich liefert eine sehr gute über ihren Großvater, der einst Görings Christbaum schmückte.

Für Abwechslung sowohl in inhaltlichen als auch in stilistischen Fragen ist in "Driving Home“ auf jeden Fall gesorgt. Deshalb eignet sich das Buch sowohl für solche, die aufgrund der eigenen Weihnachtsroutine nach „fremden Festen“ suchen, als auch für jene, die sich zumindest hineinträumen wollen in ein besinnliches und friedliches Fest. So oder so lernt man vielleicht schätzen, was man hat. Eine tolle Eigenschaft des Buches mag sein, dass es nicht nur lesenswert ist für all die zwanzig- und dreißigjährigen Erwachsenen, Selbstständigen, Großstädter da draußen, sondern ganz bestimmt auch für deren Eltern. Beide Seiten werden aus diesen Geschichten ihre Schlüsse ziehen können. Wer also noch kein Weihnachtsgeschenk hat, kann für preiswerte sieben Euro schnell eines erstehen und sich dann zum Beispiel auf Kevin Vennemann freuen. Der Berliner Autor hat mit „Dass Sturmwart Kupel“ eine tolle Idee zu Papier gebracht, und obwohl er sich mitunter in langen Sätzen verheddert wie unsereins im Lametta, wird hier auf schöne Weise ein kleiner, persönlicher Aspekt von Weihnachten erzählt.

Und Christian Y. Schmidt schafft es nicht bloß, das Weihnachten mit seiner Großfamilie zu beschreiben, sondern am Ende auch wirklich klarzustellen, dass das alles trotzdem schön ist. „Ich will zurück auf meine Weihnachtsinsel, wo es keine Zeit gibt und ich mit meiner Familie herrlich und in Freuden vor mich hin leben kann bis in alle Ewigkeit“, stellt er fest, wenn er die Heimat schließlich verlässt. "Aber es muss ja weitergehen."
foto: photocase user ninino



jörn morisse / stefan rehberger (hrsg.)
"driving home for christmas"
suhrkamp 2006

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Sonntag Nachmittag [Oktober 2007]









fotos: manuel kaufmann

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Documenta 12 [Kassel, 16.06.-23.09.2007]

"Das Publikum bildet sich, indem es Dinge ästhetisch erfährt. Wie man der jeweils singulären Erscheinung dieser Dinge gerecht wird, ohne sie in Schubladen zu stecken, ist eine der großen Herausforderungen, denen sich eine Ausstellung wie die documenta zu stellen hat."
(Roger M. Buergel)


"ist die moderne unsere antike?
was ist das bloße leben?
was tun?
"
(leitfragen der documenta 12)


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Alex Kapranos [Sound Bites]

Ein Buch über Essen von Franz Ferdinand Sänger Alex Kapranos.
Nur ein weiteres, ertragreiches aber sinnentleertes Spin-off aus der großen Hype Gewinnmaschine der schottischen Band?


"ich heiße superfantastisch, ich trinke schampus mit lachsfisch."
(franz ferdinand, darts of pleasure)


"Essen ist ein Abenteuer.“ Das lernte Alex Kapranos schon mit nicht einmal drei Jahren und es war wohl der Auslöser für den Beruf – oder sollte man besser sagen: die Berufe – die er später ergriff. Nach der Schule arbeitete der Schotte als Küchenjunge, Kellner, Koch, ehe er 2004 mit seiner Band Franz Ferdinand den Durchbruch als Musiker schaffte. Die Truppe bespielte zwei Jahre lang den gesamten Globus, und Kapranos verband das Touren gleich mit seiner zweiten großen Leidenschaft, indem er darüber schrieb. Dabei kamen ein ganzer Haufen Kolumnen für den britischen Guardian heraus, die jetzt als Buch auch in Deutschland erschienen sind. „Sound Bites – Essen auf Tour mit Franz Ferdinand“ ist ein leichtfüßiges, abwechslungsreiches Buch mit kurzweiligen Texten und herrlichen Bildern. Aber dazu später.

Zuerst ein Wort an den künftigen Leser: Man kann von diesem Buch einiges erwarten - es wird die unerwartesten Erwartungen erfüllen. Es deckt keine Geheimnisse über die Band Franz Ferdinand und deren Mitglieder auf. Man wird nicht Begleiter einer Welttournee und nimmt auch nicht an großen Gefühlen teil. (Im Grunde betreffen alle Gefühle, die dieses Buch beschreibt, irgendeine Speise.) Über die Franz Ferdinand-Musiker erfährt man lediglich, dass für Bassist Bob „beim Essen auch Dreiecke irgendeine Rolle spielen“, und dass Gitarrist Nick Kellner einfach nie wahrnimmt – unabsichtlich.

Stattdessen beschreibt der Autor die verschiedensten Esserlebnisse – und man kann ohne Zweifel jedes davon so nennen. Kapranos aß Hoden und Hummer, Hähnchen und Hamburger, in New York und Hong Kong, Köln und Rio... Oftmals beschreibt er die ungewöhnlichsten Speisen so ausführlich, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Nicht selten wird das Essen jedoch zur Nebensache, und er widmet sich stattdessen dem Umfeld, in dem er es zu sich nimmt. So landet er zum Beispiel in einem persischen Restaurant in Toronto, das erst wenige Stunden zuvor eröffnet hat. Oder er besucht das legendäre Formosa Café in Los Angeles, wo einst Elvis einer Kellnerin einen Cadillac als Trinkgeld geschenkt haben soll. („Das würde heutzutage kein Star mehr tun, grummelt unsere Bedienung.“)

Hin und wieder verlässt Kapranos auch die jüngsten Zeiten mit seiner Band und springt zurück, in die Jahre seiner Ausbildung zum Koch oder seine Kindheit. Gut so, denn die Geschichte seines fünften Geburtstages, an dem er die tolle Torte völlig verwüstete, gäbe es sonst hier nicht zu lesen. Garniert ist das alles mit zahlreichen liebevollen Zeichnungen, die bestechen durch ihre Schlichtheit. Sie stammen von Andy Knowles, der Franz Ferdinand auf Tour als Schlagzeuger und Keyboarder begleitet. Er absolvierte die Glasgow School of Art, genau wie alle anderen Bandmitglieder – außer Alex Kapranos. Der lernte stattdessen in der Küche, „dass eine gute Gruppendynamik mehr wert ist als alle Einzelverdienste, dass Langusten sich wehren, wenn man sie tötet, und dass man aus gekochten Markknochen die Jus gewinnt, die ein gutes Menü zusammenhält“.

Und was lernen wir aus "Sound Bites"? Na, dass Essen immer auch ein Abenteuer ist. Natürlich.
foto: daniel boud; boudist.com



alex kapranos
"sound bites"
kiwi 2007
franz ferdinand

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