Melt! Festival [Gräfenhainichen, 14.-16.07.2006]

Eine Symbiose zwischen Elektronik und Gitarre, nicht geringer ist der Anspruch des Melt!festivals. Denn was scheinbar nicht zusammengehört, kann doch mehr als die Summe der einzelnen Teile sein.


"in germany, we are festival virgins."
(neil tennant)

Yeah, I've been working a week and I'm just living for the weekend”, postulierten hard-fi vor knapp einem Jahr und sprachen damit aus, was nur zu viele Menschen leben: Während dem Wochenende finden die lebenswerten Momente statt, das eigentliche Leben weicht unter der Woche dem Zwang, selbiges durch Erwerbsarbeit zu finanzieren. Und je besser das Wochenende war, umso mehr wird man sich der Gegensätze bewusst. Doch manchmal kann man auch ein wenig von der Stimmung mitnehmen in den Trott des Alltags. Das Melt!wochenende war definitiv ein solches.

Der Name des vom Musikmagazin Intro veranstalteten Festivals ist Programm, denn hier werden schon zumindest atmosphärisch die Pole Arbeit und Freizeit aufgeweicht und miteinander vermengt. Die Bühnen werden umrahmt von gigantischen Braunkohlebaggern, die dereinst Symbole des Fortschritts waren und heute Zeugnis des vergangenen Industriezeitalters sind. 13.000 Menschen zogen nach Ferropolis, um ihr Wochende ausgerechnet an einem Ort zu verbringen, der wie kaum ein anderer für schwerste Arbeit und die Abhängigkeit des Menschen von Lohnarbeit steht.

Freilich ist Ferropolis ein ausgebautes Veranstaltungsgelände, doch dem Bann der riesigen Maschinen konnte sich niemand entziehen. Der Reiz des Festivals ergibt sich jedoch vor allem in Kombination mit dem musikalischen Anspruch, Elektronik und Gitarre miteinander zu verbinden. Dies äußerte sich dieses Jahr einmal mehr in einen phantastischen Line-Up: The Streets und Roni Size waren angekündigt, Phoenix und Jamie Lidell, Egoexpress und Blumfeld, Art Brut und 2manydj’s. Doch vor allem die beiden Headliner waren von besonders exquisitem Charakter: Die Pet Shop Boys bestritten ihr erstes Festival in Deutschland überhaupt und um den Auftritt von Aphex Twin hatte es bereits im Vorfeld viel rumort. Doch ob die angekündigten Acts auch tatsächlich eine genreübergreifende Symbiose bilden würden blieb abzuwarten.

Die Dekoration auf dem eigentlichen Festivalgelände fiel recht dezent aus, hier und da waren übergroße Discokugeln aufgehängt, nachts wurden die riesigen Bagger in verschiedenen Farben illuminiert. Stattdessen wurde man mehr oder weniger stark auf die Werbemaßnahmen der Sponsoren hingewiesen, zumal ein relativ großer Teil der Veranstaltungsfläche vom Backstage-Bereich eingenommen wurde. So konnte man aufdringlichen Werbehostessen kaum aus dem Weg gehen, höchstens mit Vehemenz ignorieren. Zwar ist das Sponsorentum ein notwendiges Übel, um ein Festival finanzieren zu können, doch schien der Veranstalter allzu sorglos mit diesem Thema umzugehen.

Hatten nachts zuvor noch Blitze den Himmel über Ferropolis hell erleuchtet, so war am Freitag nachmittags kein Wölkchen mehr am Himmel zu sehen. Das größtenteils betonierte Veranstaltungsgelände heizte sich auf und die ersten Acts konnten bei gefühlten Sauna Temperaturen bestaunt werden, wenn man denn rechtzeitig auf das Gelände kam. Grund dafür war die hoffnungslos unterbesetzte Eingangskontrolle, die den Einlass zeitweise zu einer einstündigen Aktion werden ließ. So konnten erst We Are Scientists vor einem annehmbar großen Publikum spielen.

Doch wer erst einmal auf dem Gelände war stand vor einem Luxusproblem: die Acts verteilten sich auf vier Bühnen, die fast alle gleichzeitig bespielt wurden. So musste man sich entscheiden zwischen Art Brut und Phoenix auf der Hauptbühne, den Infadels, Hot Chip und der Mediengruppe Telekommander auf der Gemini Stage, den Hush Puppies im Melt! Klub und schließlich Angie Reed und Erobique auf der Big Wheel Stage. Dank der Überschaubarkeit des Geländes lagen sämtliche Bühnen maximal 5 Minuten Fußweg auseinander, so dass man kaum an einen einzelnen Ort gebunden war.

Dennoch harrte eine große Menge auf der Gemini Stage aus, wo die Infadels mit dem Linecheck erst begannen, als sie schon längst hätten beginnen sollen. Ein Stau hatte eine pünktliche Ankunft verhindert und so mussten sie Ihr Set um eine zwanzig Minuten verkürzen. Umso energiegeladener war die Show, die Band stellte die Inkarnation des musikalischen Ansatzes des Melt!festivals. Verzerrte Gitarren und treibende Beats sind kein Widerspruch, sie können sogar eine wunderbare Symbiose eingehen.

Spielten bis in den späten Abend hauptsächlich Bands, so wurde es musikalisch nach Mitternacht zunehmend elektronischer. „In Germany we are festival virgins!“, rief Neil Tennant dem Publikum zu und unterstrich damit die Bedeutsamkeit des Auftritts der Pet Shop Boys. Psychological war das Introducing zu einem Hitfeuerwerk, bei dem tief in die historische Soundkiste gegriffen wurde. Große Klassiker wie Suburbia oder West End Girls wurden von einer schlichten aber wunderschönen Bühnenshow untermalt, ein stoffbespannter und aufklappbarer Kubus diente als Projektionswand und mehrere Tänzer sorgten für Bewegung. Kurz gesagt, es war ein fantastisches Erlebnis.

Anschließend schlug die Stunde der Djs: Ob Hell, Miss Kittin oder Moonbootica, ab jetzt wurde nur noch hemmungslos gefeiert. Das abschließende Highlight der Nacht waren allerdings Deichkind. Zwar ist man von diesen Trash-Helden schon einiges gewohnt. Aber wer hätte daran gedacht, dass sie um 4.30 Uhr morgens das Publikum dazu auffordern, die Hauptbühne zu stürmen und selbiges kommt dieser Aufforderung auch noch nach! Die Security war völlig überfordert, die Bühne zum Schluss völlig überfüllt.

Da hieß es anschließend erst einmal ausschlafen, doch bei strahlendem Sonnenschein ist dies leichter gesagt als getan. Also begaben sich einige Festivalbesucher samstags in den See, in dem dieses Jahr erstmalig gebadet werden durfte. Vermutlich verrichteten in diesem außerdem nicht Wenige ihre Notdurft, denn die Anzahl der Toiletten konnte man an einer Hand abzählen. Ebenso waren Abfalleimer fast nirgendwo zu sehen, man war scheinbar aufgefordert, seinen Müll einfach fallen zu lassen. Doch die organisatorischen Mängel fielen kaum mehr ins Gewicht, wenn man die zu erwartenden Auftritte am Samstag betrachtete.

Im Verlauf des Abends und Nacht wurde jedoch eines klar: Die Rockacts mussten gegenüber der Elektronik zwangsläufig den Kürzeren ziehen, denn bis in den späten Abend hinein entspannten sich die meisten Besucher eher und ließen die Auftritte gemütlich an sich vorüberziehen. So waren Bands wie die Editors, Blumfeld und Tomte nicht mehr als nettes Beiwerk im Programm. Einzig im kleinen Melt! Klub stiegen die Stimmungstemperaturen schnell über ein lauwarmes Fußbad hinaus an. Erlend Oye a.k.a. The Whitest Boy Alive wusste mit einem erstaunlich flotten Set zu überzeugen. Anschließend stand PeterLicht leibhaftig auf der Bühne, nur mit Gitarre und Keyboardbegleitung. Das Publikum war völlig außer sich vor Begeisterung, doch wurde einmal mehr deutlich, dass PeterLicht nicht die Ich-Maschine des jetzigen Jahrzehnts geschrieben hat. Mit dem Gestus eines Pädagogik-Studenten wurden hauptsächlich vom Lebensgefühl geprägte politische Halbwahrheiten in zugegebenermaßen gewitzte Texte verwandelt.

Wahre Begeisterungsstürme löste auch der Auftritt von Mike Skinner alias The Streets aus. Mit reanimiertem Sänger und Minibar auf der Bühne wurden die verschiedensten musikalischen Genres durch den Fleischwolf gedreht, ob Red Hot Chili Peppers oder die Pet Shop Boys, alles Partytaugliche wurde zitiert. Doch der mit am meisten Spannung erwartete Auftritt war jener von Aphex Twin. „Boo me off stage!“, hatte er kurz zuvor in einem Interview gefordert und er machte es dem Publikum in der Tat nicht einfach. Ein nicht enden wollendes Intro und eine minutenlang völlig dunkle Bühne erforderten viel Konzentration, bevor Aphex Twin ein immer wieder von Brüchen durchzogenes Set spielte, welches in den unterschiedlichsten elektronischen Gefilden wilderte. Spätestens als eine Gruppe von Rollstuhlfahrern die Bühne enterte und abfeierte, war auch beim Publikum das Eis gebrochen.

So glich der Auftritt des Elektrogurus einem riesigen gespannten Bogen, den er fast überspannt hätte, doch rechtzeitig ließ er die Sehne sausen und ergriff damit auch die Masse vor der Bühne. Wer sich mit dem Auftritt des Altmeisters nicht anfreunden konnte, hatte mit Egoexpress und den Soulwax Nite Versions noch immer mehrere Alternativen zur Auswahl. Letztere ließen es dann auch noch als 2manydj’s ordentlich krachen, nachdem bereits Superdiscount auf derselben Bühne eine hemmungslose Party gefeiert hatten.

Nicht enden wollte der finale Auftritt von Roni Size, dessen Drum’n’Bass-Klänge weit über die geplante Auftrittszeit hinaus in Ferropolis widerhallten, während die Sonne bereits am Horizont erschien.

Dies ist in jedem Fall was das Melt! von so vielen anderen Festivals unterscheidet. Es wird eine einzige große Sause gefeiert von und mit einem Publikum, wie es entsprechend der musikalischen Vielfalt unterschiedlicher kaum sein könnte. Trotz des relativ hohen Prollfaktors ging es in Ferropolis deutlich friedlicher zu, als auf so manchem Indiefestival. Vielleicht mag das auch den ganzen Drogen gelegen haben, die manch testosterongeschwängertem Macker die Aggressivität nahm, wohler und unbefangener hätte man sich jedenfalls kaum fühlen können. Wenn es nun auch mit dem Organisatorischen in Zukunft besser klappt, dann kann man sich wohl kaum ein schöneres Festival vorstellen. Denn musikalisch und menschlich funktioniert die Symbiose allemal.
foto: flickr user sint

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