600 Wörter [Nachbarn]

Sorry, aber du hast den geilsten Arsch der Welt.






Als die beiden einzogen, es war gegen elf Uhr abends, fielen sie uns zunächst durch die lebendige Art auf, in der sie ihre Sachen – vermutlich riesige Kisten mit tonnenschwerem Inhalt – die Stufen des Treppenhauses hinauf in ihre Wohnung wuchteten.

Nach den ersten beiden Wochen sporadischem doch gleichwohl konstantem Lärmens – welches ich fälschlicher und wie ich später eingestehen musste auch unvorsichtiger Weise als Eingewöhnungszeit abtat – klingelte ich das erste Mal an der Wohnungstür. Es war nur ein paar Tage nachdem der Lange seinerseits bei uns klingelte und bat unser WLan mitbenutzen zu können, da das Ihre noch nicht eingerichtet sei. Nachdem wir dies arrangierten, wähnte ich mich – völlig fehleingeschätzt – in gewisser nachbarschaftlicher Solidarität. Ich wies ihn, nachdem der Lange die Tür öffnete, auf das Übertragen des dumpfen Basses aufgrund der häuslichen Bauweise hin und bat ihn darum die Musik leiser zu drehen. Sicher, das sei kein Problem. "Aber", fügte er hinzu als ich bereits im Begriff war mich zu bedanken und umzudrehen, er höre nun einmal gern Elektro und dabei wären die Bässe eben notwendig.

Als ich eines nachts aus dem Schlaf gerissen wurde, kapitulierte mein Unterbewußtsein längst davor, die Geschehnisse wie sonst üblich, in meinen Traum einzuarbeiten. Als ich soweit wach war zu verstehen was sich begab, hatte sich diese eine Zeile bereits irgendwo in meinem Hinterkopf festgesetzt: Du hast den geilsten Arsch der Welt. Ich konnte, obgleich mir das seltsame Stück zuvor niemals begegnet war, jedes Wort des unerträglich eingängigen und gleichwohl unseligen Textes verstehen; schließlich spielte sich alles so ab, als fände es tatsächlich in unserem Zimmer statt. Hellwach und gleichwohl mürrisch stieg ich die Treppe hinunter, klingelte und der Kleine betrachtete mich nach dem Öffnen der Tür mit seinem stets aus einer Mischung von Unsicherheit, Angst und Abwesenheit zusammengesetzten Blick. Noch bevor ich etwas sagen konnte wendete er sich nach hinten: "Deine Musik". Der Grund meines nächtlichen Besuchs schien offenkundig, sicherheitshalber stellte mir der Lange dennoch die vermeintlich rhetorische Frage: "Zu laut?" Als ich erwiderte, das Stück problemlos in unserem Zimmer mitsingen zu können, ließ er es zum ersten Mal fallen, dieses salopp hingenäselte "Sorry", welches so vielversprechend wie das Schaben von Fingernägeln auf einer Tafel klang.

Als ich einmal Vormittags die verschiedenen Angebote von Klingeltonvertreibern durch den Fußboden unseres Wohnzimmers wabern hörte, wusste ich zwar, dass die beiden fern sahen, dass dies allerdings die musikalische Untermalung beim Duschen war ergab sich mir erst, als mir der Lange in Unterhose und nassen Haaren aus dessen Bad anstelle - wie von mir erwartet - aus dem Wohnzimmer, wo sich der Fernseher – mitsamt der Subwooferei - befinden musste, entgegen trat. Das "Sorry" entglitt ihm, ohne dass ich etwas sagen musste.

Die vielversprechende Hoffnung die bei meiner Freundin an einem sonnigen Frühlingsmorgen aufkeimte, als wir vom donnernden Rumpeln unter uns geweckt wurden, glich zunächst dem süßen Wunsch, die beiden würden überraschend ausziehen – und diese Hoffnung erhellte sich noch einmal, als wir beim aus dem Fenster schauen tatsächlich einen Umzugswagen sahen, nur um alsbald einzusehen, dass dieser zu jemand anderem gehörte - nicht jedoch das Geräusch. Wir konnten niemals tatsächlich in Erfahrung bringen, was dieses ungewöhnliche, mit dem ein oder anderen freudigem Jauchzen begleitete Rumpeln, Quietschen und Poltern war, doch würde ich noch immer eine gehörige Summe darauf verwetten, dass die beiden sich an besagtem morgen einen elektrischen Bullen gekauft und in Betrieb genommen hatten.

Marcel Proust bemerkte einmal, es gäbe etwas, „das einen so sehr zur Verzweiflung treiben kann, wie ein Mensch es niemals könnte: ein Klavier“. Ich freue mich nachträglich für ihn, dass er nur einen Klavierspieler als Nachbarn hatte.
Text: Cosmo Kramer
illustration: j.e. støresund