Michael Schorr [Schultze Gets The Blues]

German Wurstfest: Ten Days Salute To Sausage!
Die lakonische Odyssee eines anhaltinischen Frührentners auf der Suche nach sich selbst, lässt Tradition und Freiheitstrieb in authentisch intimen Bilden aufeinander treffen.


"kein schöner land in dieser zeit, als hier das uns're weit und breit;
gott mag es lenken, gott mag es schenken, er hat die gnad'."
(anton wilhelm florentin von zuccalmaglio)

Michael Schorr porträtiert in seinem ersten Kinofilm, die alltägliche Monotonie eines zum Frührentner entlassenen Bergwerkkumpels vor der tristen Kulisse eines anhaltinischen Ortes. Ein Schulterklopfen, ein inhaltloses Glück Auf und eine Salzkristalllampe scheinen alles zu sein, was dem vornamenlosen Schultze (Horst Krause) und seinen beiden Kollegen nach dem Abschied aus dem Arbeitsleben bleibt. Sie entschwinden in einen gebrochenen Alltag, bei welchem die Aufrechterhaltung gewohnter Rituale schleichend zu einer bedeutungslosen Farce verkommt; der Schrebergarten, das Angeln auf der Eisenbahnbrücke, die Abende in der Kneipe und das Vereinsleben im ortsansässigen Musikverein. Eine unerwartete Wendung für Schultze, dem die vermeintliche Provinzidylle eine ungewisse innere Unruhe bereitet, ergibt sich, als es ihm gelingt, durch eine Melodie - aus dem Radio nachgespielt - seinem durch Polka geprägten Akkordeonspiel neue Klänge zu entzaubern, und dadurch angetrieben auch über den Tellerrand seiner Existenz zu blicken. Anfänglich verwirrt, dennoch belebt von den perspektivischen Möglichkeiten, strebt er eine ambitionierte Reise in die Vereinigten Staaten an, um mehr über die Musik und Kultur dieser ihm neuen Lebensauffassung zu erfahren.

Dem Regisseur ist mit seinem Kinodebüt eine beschauliche und lakonisch dokumentierte Entdeckung der Langsamkeit gelungen, eine ambivalente Charakterstudie über das Leben vor dem Tod im Mikrokosmos einer brachliegenden Provinz. Beschaulich dreht sich das Windrad in der Totalen, während wir darauf warten, dass Schultze mit dem Fahrrad die Ebene passiert. Die detailreichen Betrachtungen unter Tage erscheinen wie schmutzige Bilder einer Ausstellung, und die Symmetrie der Doppelhaushälften, die Vorgärten und Reihenhaussiedlungen verleihen dem Film eine skurrile Wirklichkeit. "Schultze Gets The Blues" brilliert ganz allgemein durch seine bizarre Authenzität, und die mitwirkenden Laiendarsteller verleihen dem Film einen semidokumentarischen Charakter, und so erscheint es fast selbstverständlich, dass wir den Augenblick nicht abbrechen, sondern den gesamten drei Strophen des Bergmannsliedes Glück Auf, Der Steiger Kommt in all seiner bittersüßen Herbe lauschen.

Horst Krause prägt den Film vor allem durch seine einsilbige Passivität, wenn der Zuschauer durch die konstant beobachtende Kameraarbeit immer wieder Einblicke in private Momente des Protagonisten erhascht. Stillschweigend verharren wir, wenn Schultze zu seiner Scheibe Brot in eine rohe Zwiebel beißt, und über ihm eine Fliege im Lampenlicht tanzt; Wenn er sich auf das Sofa legt, hustet, aufsteht, das Fenster einen Spalt öffnet, um sich dann erneut hinzulegen. Der Stillstand des Augenblicks, nicht die Entwicklung der Bewegung prägt den Film als Stilmittel und visualisiert mit seinen ausharrenden Momenten die öde Tristesse. Immer wieder fängt die Kamera den Bild füllenden Kaliberg als Leitmotiv und Epizentrum des kleinen Ortes ein, welcher Schultzes Gartenlaube perspektivlos im Vordergrund verblassen lässt, und ihn scheinbar unabdingbar an seine veränderungslose Existenz erinnert.

Als Schlüsselszene der Geschichtsentwicklung dient eine herrlich lakonische Aufnahme, in der Schultze mit einem Nachthemd in seiner Wohnung auftaucht, sein altes Transistorradio anstellt, zunächst mürrisch eine Gesundheitssendung über die Zusammenhänge zwischen seinem ehemaligen Beruf und Lungenkrebs wegdreht, um sich dann mit einer kurzen Akkordeonmelodie konfrontiert zu sehen, die sein Leben ändern soll. Erst überrascht, dann belächelt stellt er das Radio entschlossen ab, hält kurz darauf inne, um kehrt zu machen, und sich die Melodie noch einmal zu Gemüte zu führen, und schließlich verlegen, ob seines eigenen Mutes, Tasten suchend auf seinem Akkordeon nachzuspielen. Zydeco, eine artverwandte, Akkordeon getragene multikulturell verschmolzene Musikrichtung der amerikanischen Südstaaten, scheint Schultzes phlegmatischen Geist zu beflügeln. Diese ausgiebige Sequenz, in welcher der Regisseur bewusst überspitzt phantastische Elemente der alltags Lethargie entgegensetzt, stellt den Umschlag in "Schultze Gets The Blues" dar. Musik als Inspirationsquelle geistiger Jugend. Auch Jürgen (Harald Warmbrunn), Schultzes ehemaliger Bergbaukumpel kommentiert den beobachteten Wendepunkt überrascht in einem kurzen Dialog: "Das musst du dir mal vorstellen." sagt er. "Was? - Na das hier? - Was hier? - Wir haben zusammen gearbeitet, wir haben zusammen geangelt, wir haben zusammen in der Kneipe gesoffen und wider zusammen gearbeitet. Und jetzt sitzen wir das erste Mal bei Schulze zusammen und futtern."

Gefangen in der immer währenden Monotonie aus Polka und Kein-Schöner-Land-Chören, kämpft Schulze mit sich selbst, Spontaneität der akzeptierten Tradition gegenüber zu stellen, und die Kameraden seines Musikvereines Harmonie quittieren seine emanzipierte musikalische Neuausrichtung zum Fest des 50. Jubiläums deutschtümelnd als "Scheiß Negermusik". In dieser Szene wird die Statik der Kameraführung ein erstes Mal gebrochen, schwenkt sie, anfangs noch im Rücken Schultzes mit Blick auf das Jubiläumspublikum des Musikvereines, langsam um den Protagonisten herum, isoliert ihn von den anderen, die ihn nicht verstehen können, und widmet, in der Nahaufnahme, Schultze, mit geschlossenen Augen, einen seiner intimsten Momente, und fordert als einzig mögliche Konsequenz seinen Auszug aus der gewohnten Gemeinschaft. Das Exil als letzte Konsequenz zur Auflösung der Inneren Ruhe. Es folgt eine bittersüße Szene, in der sich Schultze von seiner Situation endgültig trennt, bildlich dargestellt, als er zu Hause ankommend, das Foto seines Vaters - eines traditionelles Polka Musikers - an der Wand umdreht, und kopfschüttelnd quittiert, woran sich sein gewohntes Leben orientiert. (Die im Fernsehen gezeigte Reportage über die juristisch eingeleitete Beseitigung von aus Polen stammenden gefälschten Gartenzwergen vom ORB, ist wie so vieles im Film tatsächlich authentisch.) Amerika – in letzter Zeit selten so untypisch positiv und Klischee los im ursprünglichen Sinne des Landes der, vielleicht doch begrenzten Möglichkeiten betrachtet - dient Schultze als Katharsis, als Neuanfang, um in sprachlicher Isolation die Musik als universelles Kommunikationselement für sich zu entdecken.

Michael Schorr transportiert seine detailverliebte, latent humoristische doch niemals wertende Gesellschaftsbeobachtung auch über den Atlantik hinaus, und weiß mit der fotografisch brillanten Komposition von Wirklichkeit und erzählerischer Situation zu begeistern, während der Zuschauer die Odyssee des oft so unbeholfen natürlichen Protagonisten intensiv verfolgt. Und mit den Worten aus Schillers Die Räuber als umfassendes Metapher, bedenkt der junge Schrankenwärter am stets geschlossenen Bahnübergang Schultze, als er ihn passieren lässt;
"So fall’ ich dieses zerbrechliche Leben an, bis den Furientrupp zuletzt schließt die Verzweiflung! Triumph! Triumph! Der Plan ist fertig. Wohl an denn!"
foto: 20th century fox


michael schorr
"schultze gets the blues"
2004