Gregor Samsa

Als Gregor Samsa eines Morgens ...
Ein Gespräch mit Sänger und Gitarrist Champ Banner über Ästhetik, Literatur, Selbstverständnis, Tradition und Innovation.



"how long 'till i fall in love?"
(the points balance)


Wenn man in einem deutschsprachigen Land lebt kommt man kaum umher, sich früher oder später mit Franz Kafka zu konfrontieren. Sei es in der Schule, im Privaten, in der Universität, im Alltag, bei einer nächtlichen Diskussion oder bei einer Reise nach Prag. Dass der gebürtige Österreicher weltweit rezipiert wird, lässt sich nicht zuletzt mit fünfzehneinhalb Millionen Treffern bei Google nachprüfen. Und einer der einflussreichsten aber eben auch abgründigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts beeinflusst selbstverständlich auch das Treiben der hedonistischen Popkultur. Neben den schottischen Post-Punks Josef K - benannt nach Kafkas Der Prozess, oder auch den umtriebigen Blumfeld - nach der Erzählung Blumfeld, ein älterer Junggeselle benannt - wählten auch die Postrocker Gregor Samsa einen von Kafkas undurchsichtigsten Charakteren als Namensgeber aus.

"Wie die meisten", so erklärt mir Sänger und Gitarrist Champ Banner, "lernte ich Kafka und andere Existentialisten in der High School durch einen meiner absoluten Lieblingslehrer kenn (beachte, dass ich die meiste Zeit zu Hause unterrichtet wurde, und dass die Liste der Lehrer daher sehr kurz ist). Als ich die Verwandlung in der Schule gelesen habe, rahmte ich den Namen Gregor Samsa ein und kurz darauf begann ich damit, unter diesem Namen Musik zu machen. Ich habe mich damals mit Gregor Samsa identifizieren können und tue das heute noch. Nach einigen Monaten wurde aus Gregor Samsa eine richtige Band und wir behielten diesen Namen jetzt seit über sechs Jahren."

Eine gute Wahl, schließlich findet sich auch in Gregor Samsas Musik dieser unwirkliche Schwebezustand wieder, in welchem sich die Erzählung bewegt. Und vielleicht ist die Musik auch ebenso wenig eingängig, bietet aber eine Fülle an Emotionen, wenn man sich ihr tatsächlich nähert. Man muss ihr Zeit schenken, um ihr gerecht zu werden; zu fragil sind die Details, als dass man sie nebenbei erahnen könnte.

Ich muss gestehen, dass ich einen ganzen Tag verstreichen lies, bevor ich die CD das erste Mal in den Player gelegt habe. Ich wartete auf den richtigen Moment. Denkst du, dass es einen richtigen Moment für eure Musik gibt?
"Viele Leute strapazieren dieses Klischee wenn sie über ihre Platten sprechen, aber ich denke in unserem Fall stimmt es einfach tatsächlich: das Album muss als Ganzes gehört werden. Und vielleicht magst du es auch erst, wenn du es das dritte oder vierte Mal gehört hast. Wenn du es das fünfte Mal hast durchlaufen lassen und es dir immer noch nicht gefällt, dann wird das vielleicht auch nicht mehr eintreten und du solltest versuchen es bei eBay zu verkaufen."

Zunächst fällt die Aufmerksamkeit natürlich auf das äußerst schlichte, aber gerade in dieser Einfachheit wirkungsvolle Cover von "55:12", bei welchem eine helle Banderole schwarzen Karton umschließt.

Es erscheint mir offensichtlich, dass euch auch außerhalb der Musik der künstlerische und ästhetische Aspekt wichtig ist. Ein Punkt, der gerade im Zeitalter der Digitalisierung immer mehr in den Hintergrund gerät.
"Traditionell sehe ich in Artwork und Verpackung den letzten Schritt der nötig ist, um aus einer Sammlung von Stücken ein vollständiges Produkt zu machen. Es ist etwas, dass du in der Hand halten und dein eigen nennen kannst. Offensichtlich geht der Gedanke des physischen Besitzes im Download Zeitalter langsam verloren, aber so lange die Leute noch Platten kaufen, werden wir die Gestaltung so spannend wie möglich machen."

Versucht man sich an dem alten Kategorisierungsspiel von Musik, fallen mir Bands wie Godspeed You! Black Emperor, My Bloody Valentine oder Slowdive ein. Postrock prangt da in großen Lettern. In welcher Tradition seht ihr euch selbst?
"Es steht außer Frage, dass Bands wie Mogwai, Godspeed oder Explosions In The Sky und besonders die älteren wie My Bloody Valentine, Ride, Cocteau Twins oder Slowdive jenen Bands den Weg geebnet haben, die heute Aufmerksamkeit in diesem Bereich bekommen. Ob wir es zugeben wollen oder nicht, wir hängen alle von den Trends ab, in denen wir uns bewegen. All diese Bands hatten einen Schlagzeuger, einen Bassisten und mindestens einen Gitarristen, aber das bewegt sich innerhalb der Toleranzschwelle, wenn es darum geht, Musik und ihre Originalität zu beurteilen. Hätte ihnen jemand zugehört, wenn My Bloody Valentine anstelle der verzerrten Gitarren 20 Spuren mit Bongo und Conga Rhythmen verwendeten? Wahrscheinlich nicht. Es gibt ein Schema dem wir auf die eine oder andere Weise folgen. Mit der Zeit kommt aber das eine zum anderen, und das ist der Moment wo es spannend wird. My Bloody Valentine haben die Grenze ein weniger weiter geschoben, als sie jemals zuvor war, und das ist der Grund, weshalb es funktionierte. Es ist uns eine Ehre, wenn wir in einem Zusammenhang mit den erwähnten Bands genannt werden, aber schließlich versuchen auch wir die Sache immer etwas weiter zu führen, dabei aber auch immer wieder zurück zu schauen; auch wenn wir noch längst nicht da sind."

Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation hebt ihr euch tatsächlich deutlich von anderen Bands ab, die zurzeit ebenfalls stilbildend sind. Kaum eine andere Band aus dem Postrock Umfeld legt so viel Wert auf den Gesang, der in seiner zweistimmigen Form ganz klar ein wesentlicher Charakterzug eurer Musik ist.
"Gesang und Melodien sind für uns selbstverständlich sehr wichtig und ich glaube auch, dass sie dazu beitragen, und von anderen Bands abzusetzen, die ähnliche Musik machen. Ganz ehrlich glaube ich (und sie weiß nicht, dass ich das jetzt sage), dass Nikki mehr als andere mit ganzem Herzen singt. Da sind keine Tricks oder technische Spielereien; es ist ganz einfach ihre Stimme – ganz gleich ob auf oder hinter der Bühne – und das kann über die wenigsten Sängerinnen und Sänger gesagt werden; die meist versuchen irgendwie Björk oder Thom York nachzuahmen."

Betrachtet man eure Texte, fällt zunächst auf, dass ihr scheinbar oft ein großes Maß an Pathos strapaziert. Im Kontext hingegen erscheinen Zeilen wie "How will we save ourselves? / We must remain as one" aus What Can I Manage absolut gerechtfertigt und harmonisch. Wie gelingt euch dieses schwierige Spiel mit den Worten?
"Ich denke, dass man Songtexten nicht gerecht wird, wenn man sie aus dem Kontext herausgenommen kritisiert. Das ist auch der Grund, weshalb wir unsere Texte niemals abdrucken. Außerhalb des Studios habe ich noch niemanden fragen hören, ob man eine bestimmte Piano Linie auch dann mögen würde, wenn nicht die Gesangsmelodie dazu käme. Wenn es um die Texte geht, wertet man jedoch nach zweierlei Maß. Für uns sind alle Elemente – und so auch der Gesang – Teil des Ganzen und sollen auch so wahrgenommen werden. Der Song den du angesprochen hast, handelt weder von alltags Erfahrungen noch von einem existentialistischen Märchen, in welchem eine Gruppe von Kindern auf einem Segelboot um das Leben ihrer Eltern kämpft. Ursprünglich sollte es den Titel „Fight Tonight“ tragen und man kann hervorragend in einer kleinen Gruppe von Leuten mitgesungen werden, wenn es zu dem 'Come on, let’s fight tonight …' Teil kommt."

Eine seltsame Vorstellung, die introvertierten Gregor Samsa von einem grölenden Chor begleitet zu sehen.
"Try to push things forward!"
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