Noch größer sollte das Melt! in diesem Jahr werden und hat infolgedessen mit manchen Widrigkeiten zu kämpfen. Doch großartige Performances von Björk und vielen anderen entschädigen.
"can you hear the power?"
(fraktus)
Festivals sind schrecklich. Unüberschaubare Massen von Menschen schieben sich wie eine riesige Bisonherde über schier endlose Äcker, Flughafen-Vorfelder oder Motorsport-Rennstrecken, um ihre Idole in Stecknadelgröße auf riesigen Bühnen herumturnen zu sehen. Zwischendurch sucht man wahlweise bei 30 Grad Celcius vergeblich nach Schatten auf dem weiten Feld oder ein Platzregen verwandelt die gesamte Veranstaltung in eine reine Schlammschlacht. Das Zelt, in dem man eigentlich schlafen wollte, ist entweder überflutet oder voller Stechmücken, während die Nachbarn Tag und Nacht Flogging Molly in Clublautstärke hören und einem die sowieso spärlichen Biervorräte klauen.
Wer Festivals aus diesen und vielen anderen Gründen hasst, der geht normalerweise aufs Melt!. Die Anzahl der Besucher ist ebenso überschaubar wie das Gelände, das mit seinen riesigen Tagebaubaggern eine verführerische post-apokalyptische Urbanität ausstrahlt. Dazu haben die Organisatoren, die aus dem Hause der Zeitschrift Intro stammen, eine Booking-Abteilung, die in der deutschen Festivallandschaft ihresgleichen sucht. Da nimmt man auch mal ein Wochenende lang das ungeliebte Camping auf sich. In den letzten beiden Jahren herrschte eitel Sonnenschein, was zum direkten Sprung vom Zelt in den See, der die Halbinsel Ferropolis umgibt, verführte. In diesem Jahr herrschte allerdings kaum Badewetter, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne, was sich allerdings im Vorfeld schon erahnen ließ. Zwar wurde mit Björk ein formidabler Headliner gebucht, dafür musste das Programm auf drei Tage gestreckt werden. Erstmals sollte nicht nur freitags und samstags die Nacht hindurch gefeiert werden, der Sonntag Abend sollte nun als Höhepunkt der Feierei die Krone aufsetzen. Passend dazu wurde Lützenkirchens drei Tage wach zur Melthymne erklärt, eine deutliche Abkehr vom bisher gepflegten Understatement.
Zu diesem Zeitpunkt war das Programm bereits in vollem Gange, wer noch nicht auf dem Gelände war, verpasste auf der Hauptbühne Acts wie die Fotos, Lightspeed Champion oder Blood Red Shoes. Richtige Stimmung wollte aber zunächst nur auf der Gemini Stage aufkommen, die man an diesem Abend durchaus in Underaged Tent hätte umbenennen können. Dúné machten den Anfang, doch vor allem Late Of The Pier brachten das sehr junge Publikum schon früh zum Tanzen und Schwitzen. Bei all der gepflegten Gute-Laune-Langeweile, den die New-Rave-Welle versprüht, gehören die vier jungen Briten zu den wenigen Bands, die wirklich spannende Sounds generieren. Gefällig aber ebenso auch substanzlos präsentierten sich anschließend The Teenagers, deren Sänger neben all seiner Aufgedrehtheit vor allem durch Beschwerden wegen blendender Scheinwerfer auffiel.
Ärgerlich war der Ausfall sicherlich, doch vor allem war dessen Vermittlung symptomatisch für die mangelnde Kommunikation zwischen Organisation und Publikum: Über die reichlichen Verschiebungen im Zeitplan wurde man nicht informiert, obwohl diese bereits um Mitternacht auf fast jeder Bühne bis zu einer Stunde betrugen. Zwar wurde jede Band und jeder DJ mit teilweise großartigen Visuals auf hinter den Bühnen angebrachten Leinwänden bedacht, auf gleiche Art und Weise Aktualisierungen des Zeitplans anzukündigen, kam den Machern allerdings nicht in den Sinn. Einzig der Big Wheel Floor versorgte die Masse ununterbrochen und zuverlässig mit Beats, im Rahmen eines Kompakt-Specials legten unter anderem Größen wie Burger/Voigt, Gui Boratto oder Sascha Funke auf.
Im Laufe der Nacht klarte der Himmel zunehmend auf und mit der Trockenheit füllte sich auch das Veranstaltungsgelände immer mehr. So war der Platz vor der Hauptbühne ausschließlich bei den Editors einigermaßen voll, Robyn stieß anschließend trotz einer sehr angenehmen Bühnenpräsenz nur auf mäßige Resonanz. Währenddessen platzte bei Alexander Marcus der Melt!Klub aus allen Nähten und auch die Gemini Stage war zeitweise völlig überlaufen. Eine paradoxe Situation war durch die Neuaufteilung des Geländes entstanden, die aus der Erhöhung der Publikumszahlen resultierte.
Wenig später schien das halbe Festivalpublikum in den Melt!Klub zum Auftritt von The Whitest Boy Alive zu drängen, dem inoffiziellen Geheimtipp des Abends. Wie auch schon vor zwei Jahren an gleicher Stelle war die Räumlichkeit viel zu klein, so dass nur die Wenigsten die Band um Erlend Øye tatsächlich zu sehen bekamen. Offizieller Headliner des Samstages waren Franz Ferdinand, die allerdings mächtig enttäuschten. Zwar waren sie bemüht, doch der Sound war völlig drucklos, die Rhythmussektion schien vor lauter Behäbigkeit fast einzuschlafen. Ganz anders hingegen Roisin Murphy: Die ehemalige Sängerin von Moloko gab die Diva, wechselte zu fast jedem Song ein Kleidungsstück, setzte ihren eigenen elektronischen Popentwurf gekonnt in Szene. Ihr Auftritt war extravagant und mitreißend, ohne je aufgesetzt zu wirken.
Auf den übrigen Bühnen war zu diesem Zeitpunkt das Partyprogramm bereits in vollem Gange. Die Crookers brachten den intimen Music Academy Floor mit ihrer italienischen Version von Electro House zum kochen. Ein kurzer Blick auf die Gemini Stage genügte, um festzustellen, dass Uffie tatsächlich die Paris Hilton der Elektro-Szene ist und kaum mehr vermag, als naiv mit den Hintern zu wackeln. Bei Boys Noize schien das Publikum ganz selbstreferentiell jeden Track abzufeiern, was ein wenig clownesk anmutete. Entspannter ging es da auf dem Big Wheel Floor zu, wo Mathew Johnson allerdings ein wenig Anlauf brauchte, um in Fahrt zu kommen.
Danach gab es nur noch das Warten auf den unumstrittenen Festivalhöhepunkt. Eine angenehme Spannung machte sich breit und das gesamte Publikum schien sich nur auf einen Moment zu konzentrieren. Die Bagger verschwanden erstmals im Dunkeln, während die Bühne mit bunten Fahnen und Bildschirmen ausgestattet wurde. Schließlich marschierte Björk mit großem Blechbläserensemble auf und löste die Anspannung der Vorfreude in einem wohligen Schauer auf. In 80 Minuten entschädigte sie für all die unangenehmen Momente des Festivals. Ob Bläser-Arrangements oder bollernde Beats, das Publikum war völlig verzaubert.
Das Melt fand so einen versöhnlichen Abschluss, auch wenn es zuvor manchen Ärger gegeben hatte. Das Festival zehrte von der großartigen Kulisse, tollen Bands und Künstlern und nicht zuletzt von dem guten Ruf, den es sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte. Die Vergrößerung auf über 20.000 zahlende Gäste hat der Veranstaltung nicht gut getan, vor allem schien die Organisation mit der Masse überfordert. Der Nimbus als einzigartiges Festival von überschaubarer Größe und nahezu intimem Charakter ist jedenfalls verloren. Im nächsten Jahr werden die Macher jedenfalls einiges an Energie aufwenden müssen, um das verloren gegangene Vertrauen wiederzugewinnen, sonst droht es im allgemeinen Festivalsumpf stecken zu bleiben.
foto: uta bohls
melt! festival
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