Gemma Ray [The Leader]

Düsterer Blues-Folk mit einer Prise Soul von einer 27-jährigen Singer/Songwriterin aus Essex/Südengland, die in ihren stärkeren Momenten so geheimnisvoll und intensiv klingt, als hätte Kate Nash sich zu nächtlicher Stunde auf dem Friedhof verirrt.


"ich wünsche den frauen dort einen langsamen, schmerzhaften tod.
das hat mich lebenslang für einen herkömmlichen beruf verdorben
– vielleicht haben sie mir damit ja einen gefallen getan.
"
(gemma ray über ihre zeit als auszubildende in einem essexer reisebüro)


Als junge, aufstrebende Sängerin hat man es dieser Tage nun wirklich nicht leicht sich gegen die permanenten Amy-Duffy-Vergleiche zur Wehr zu setzen. Erst recht nicht, wenn man sich musikalisch der Vintage-Schublade bedient, adrett aussieht und von der britischen Insel stammt. Warum aber derlei Gleichnisse dann ausgerechnet bei Gemma Ray aufgefahren werden, bleibt schleierhaft, zumal der versponnene Blues-Folk von Fräulein Ray so rein gar nichts mit dem Retro-Soul einer Amy Winehouse zu tun hat. Wenn es überhaupt so was wie einen kleinen gemeinsamen Nenner zwischen den beiden Damen gibt, dann ist es die Soundästhetik der 1960er-Jahre auf „The Leader“, dem Debütalbum der jungen Britin, die ursprünglich mal Reiseverkehrskaufrau werden wollte, was ihr aber von garstigen Kolleginnen ordentlich vermiest worden war. (Ein kleinwenig bizarr ist die Vorstellung ja schon, dass dieses morbide wirkende Geschöpf mit den viel zu dunklen Augenringen tatsächlich mal in der Welt der gut gebräunten Sekretärinnen gearbeitet haben soll.) Ray hat Arrangements komponiert bei denen immer an der richtigen Stelle das Glöckchen klingelt, die Melodica laut dazwischenfährt, oder sich eine leicht verzerrte E-Gitarre ihren Weg bahnt. Nicht nur einmal denkt man beim Hören des Albums an Nancy Sinatra in ihrer Lee Hazlewood-Phase, PJ Harvey oder gar den frühen Nick Cave. Coproduziert wurde das Album übrigens von Michael J. Sheehy, der einst Frontmann der erfolglosen britischen Band Dream City Film Club war.

The Sick Sessions

Womit wir auch schon beim Wesentlichen angelangt sind, der Musik: Von dem kurzen, aber sehr eindringlichen Interlude Yes I Am... wird der Hörer genau da abgeholt, wo ihn seinerzeit Nancy und Lee auf der Straße haben stehen lassen, ehe man auch schon in die Klang-Hemisphären von „Hard Shoulder“ eintaucht. Dumpfe Pauken, Akustikgitarre und die niedliche, aber ebenso starke Stimme Gemma Rays nehmen einen unweigerlich in Beschlag. Die vorhin beschworene Melodica darf sich immer ein kurzes Stelldichein geben und hier und da ist Gemma als ihr eigener Hintergrundchor zu hören. Ist Hard Shoulder eine noch eher ruhige Einstiegsnummer, die sich sogar auf dem Soundtrack zu einem Tarantino-Film oder gar Gorillaz-Album wieder finden könnte, überzeugt Dry River mit eingängigem Ohrwurmrefrain. Bring It To Me lebt vom aggressiveren, schnelleren Tempo, das durch den ausdrucksstarken Gesang harmonisch abgerundet wird. Mit Rise Of The Runts hat Ray gar eine wahre Pop-Perle aus dem Hut gezaubert, die genug Potential haben dürfte, um es in die hiesigen Radiostationen zu schaffen. Nachdem man sich an dieser Stelle, durch die zuckersüße Melodie bedingt, fast schon ein kleinwenig in vorweihnachtlicher Stimmung wähnt, wird es bei On Your Own wieder richtig spooky und geheimnisvoll. Wie zuvor schon bei Dry River, bestimmt auch hier wieder die x-malige Wiederholung des Titels im Refrain das Programm und man fühlt sich in eine grotesk lustige Bestattungsfeier im New Orleans der 1970er Jahre versetzt. Metal In The Morning bewegt sich wiederum weg vom Blues & Soul hin zum Gospel-Pop. Sakrale Lollipop-Stimmung verbreitet gar das wunderbare Eyes And Ears, ehe einem der yellow Pick-Up Truck in die heiße Wüste von Nevada, oder halt eben auch nur vor die Haustüre von Michael Stipe verschleppt. Klingen die darin enthaltenen Harmonien doch verdächtig nach Suspicion vom 99er R.E.M.-Album „Up“.

Weshalb diese Scheibe in ihrer Gesamtheit so herrlich schräg und düster geworden ist, kann man nur mutmaßen. Zwei Jahre lang kämpfte die Sängerin angeblich gegen eine mysteriöse Krankheit und verbrachte den Großteil dieser Zeit überwiegend im Krankenhaus. 50 Tracks sind dabei entstanden, die Ray dann scherzhafter Weise „The Sick Sessions“ benannt haben soll. 13 dieser „kranken“ Stücke sind auf „The Leader“ zu hören. Wenn man so will, das starke Destillat dieser schwierigen Zeit, eine Art „Best Of“ aus den vergangenen drei Jahren. Mangels fehlender Hit-Single und aufgrund des insgesamt für den Mainstream zu sperrigen Songwritings dürfte der kommerzielle Erfolg leider ausbleiben, was die musikalische Größe des Albums aber in keinster Weise schmälern soll.
foto:



gemma ray
"the leader"
bronzerat records, 2008
gemma ray